Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1
Eine entscheidende Rolle bei
der Frage, warum jemand über-
haupt anfängt zu stalken, spielt
der Kränkungspunkt, wie Psycho-
loge Wolfgang Ortiz-Müller weiß.
In seiner Berliner Beratungsstelle
Stop Stalkingbetreut der 57-Jähri-
ge neben den Opfern auch Täter,
die sich in 50 Prozent der Fälle bei
ihm melden. „Wenn eine Bezie-
hung – sei es eine intime oder eine
berufliche – beendet wird, kann
das beim Betroffenen Rachsucht
auslösen“, sagt er im Gespräch
mit WELT. Das liege daran, dass
die Trennung oft als Herabwürdi-
gggung erlebt werde. „Menschen,ung erlebt werde. „Menschen,
die narzisstische Züge haben, also
Lob und Anerkennung für ihren
Selbstwert brauchen, sind hierfür
anfällig.“ Verschärft werde die Si-
tuation, wenn sich die Betroffe-
nen zum Beispiel mit ihrer Arbeit
stark identifizieren. Dann, so Or-
tiz-Müller, kann eine Trennung
quasi als „Auslöschung der eige-
nen Existenz“ empfunden wer-
den. Deshalb sei Stalking meist
die Antwort auf eine „innere
Not“. „Niemand ist freiwillig Stal-
ker“, versichert der Psychologe.
In ihrer Sicherheitsagentur
ließ Cegla unter anderem mit
Psychologen und Beratern aus
dem Opferschutz ein Profil des
Start-up-Mitarbeiters erstellen,
um die „innere Psychologie“ des
Falls zu verstehen, wie sie sagt.
Ihr Fazit: Der 30-Jährige hatte
enorme Probleme mit zwischen-
menschlichen Kontakten, eine
Art Bindungsstörung. „Das er-
klärt, warum er seine Arbeit im-
mer gut gemacht hat. So lange,
bis die Firma größer wurde und
es immer mehr Kollegen gab, mit
denen er sich beschäftigen muss-
te. Das hat ihn in ein inneres
Chaos gestürzt“, sagt Cegla. Sie
vermutet, dass die Abmahnung
für den jungen Mann jenen Krän-

kungspunkt darstellte, der das
Stalking auslöste. Der Versuch, in
alle Lebensbereiche des Chefs
einzudringen, unterscheidet
Stalking von Mobbing im Beruf.
Zwar war auch die Kündigung
laut Cegla „arbeitsrechtlich sau-
ber“, jedoch befeuerte sie die
Rachsucht des jungen Mannes
nur. „Salopp gesagt hat er dann
wirklich alles darangesetzt, die
Firma plattzumachen. Mit Inhal-
ten, die er in den sozialen Medien
teilte, die das ganze Unternehmen
und das Geschäftsmodell in Miss-
kredit gebracht und infrage ge-
stellt haben.“ Cegla erinnert sich,
wie er zudem Kunden erzählte,
das Start-up sei bestechlich und
wwwürde gegen Geld Bewertungenürde gegen Geld Bewertungen
schönen. „Das war insofern eine
prekäre Situation, als dass das
Unternehmen Gefahr lief, seine
Investoren zu verlieren.“ Deshalb
suchten sich die Gründer profes-
sionelle Hilfe in Ceglas Sicher-
heitsagentur. Es ging um Investi-
tionen in Millionenhöhe.
Anders als im Intimpartner-
Stalking, bei dem die Opfer laut
Cegla oft auf subtile Weise beläs-
tigt werden, begehen Business-
Stalker eher Taten, die vor Ge-
richt konkret nachweisbar sind.
Üble Nachrede, also Rufmord,
oder der Verrat von Betriebsge-
heimnissen etwa sind juristisch
einfacher zu verfolgen als ver-
meintliche Alltagshandlungen,
hinter denen sich der Expertin
zufolge Stalking verbirgt. Wie et-
wa dem Schreiben von Nachrich-
ten, dem Übergeben von Ge-
schenken, Anrufen oder der Kon-
taktaufnahme über gemeinsame
Freunde. „Stalking kommt oft
harmlos daher. Es geht nicht im-
mer mit Morddrohungen, Einbrü-
chen oder sexueller Belästigung
einher“, sagt Cegla. Ihr gelang es
nach eigenen Aussagen bislang

recht schnell, gegen Business-
Stalker vorzugehen. Der Grund
liegt in der Logik der Täter: „Im
Fall des Start-ups entwickelte der
Mann eine Obsession für seinen
Chef, weil er für die Firma stand,
die ihn in seinen Augen fallen ge-
lassen hat. Deshalb bestand die
Strategie darin, den Einfluss des
Stalkers im Unternehmen, den er
noch hatte, zu unterbinden – wo-
durch auch das Stalking gegen
den Chef nachließ“, erinnert sich
die Expertin. Täter tun alles Er-
denkliche, um an Infos zu gelan-
gen und das Umfeld der Opfer auf
ihre Seite zu ziehen. Deshalb be-
stand laut Cegla eine entschei-
dende Maßnahme darin, die Mit-
arbeiter des Start-ups über das
Stalking im eigenen Haus aufzu-
klären und alle weiteren firmen-
internen Kanäle, also auch Zu-
gänge zu Datenbanken, für den
jungen Mann endgültig zu ver-
schließen. Schließlich habe er
durch sein Insiderwissen die Ge-
rüchte über die Firma und seinen
Chef glaubwürdig erscheinen las-
sen. „Diesen Boden konnten wir
ihm entziehen, auch weil wir das
Problem den Geschäftskunden
transparent gemacht haben“, so
Cegla. Sie rät grundsätzlich von
einer klärenden Aussprache zwi-
schen Tätern und Opfer ab, da
Stalker versuchen, die Bindung
mit den Betroffenen aufrechtzu-
erhalten und deshalb gar kein In-
teresse am Ende des Kontakts ha-
ben. Mehr noch: Sie werten jede
AAAuseinandersetzung als Erfolg.useinandersetzung als Erfolg.
Für das Start-up zahlte sich
der Kontaktabbruch und die offe-
ne Kommunikation in der Beleg-
schaft aus: Schon kurze Zeit nach
den Maßnahmen gegen den Stal-
ker sei die finanzielle Bedrohung
für die Firma „vom Tisch gewe-
sen“, wie die Expertin sagt. Nur
hin und wieder habe der junge
Mann noch versucht, gegen sei-
nen Ex-Chef Stimmung zu ma-
chen. Die Versuche blieben wir-
kungslos. Inzwischen ist es dem
Kollegen per Unterlassungsklage
nicht mehr erlaubt, seine Be-
hauptungen über die Firma zu
wiederholen. Auch Strafgelder
wurden gegen ihn erlassen.
Laut Psychologe Ortiz-Müller
neigen Stalking-Opfer dazu, von
rechtlichen Schritten gegen ihre
Peiniger ganz abzusehen. „Viele
wollen einfach nur, dass das Stal-
king aufhört, das Gefühl, verfolgt
zu werden und paranoid zu sein“,
sagt der Berater. Immer wieder
würden ihm Opfer berichten,
dass sie sich für das, was ihnen
angetan wurde, verantwortlich
fühlen. Deshalb plädiert Ortiz-
Müller für ein Meldesystem, bei
dem auch die Beschuldigten von
den Beratungsstellen kontaktiert
werden dürfen. Bislang müssen
Stalker selbst aktiv Hilfe einfor-
dern. Eine „hohe Hürde“, sagt
Ortiz-Müller. Er ist der Meinung:
Täterarbeit ist auch Opferschutz.

TDas Start-up sieht davon ab,
mit Medien über seinen Fall zu
sprechen. Sandra Cegla be-
treute die Gründer, die wegen
laufender Geschäfte anonym
bleiben möchten, und spricht in
ihrer Namen.

LLES


DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,13.AUGUST2019 PANORAMA 31


F


rische Fingerabdrücke,
verwackelte Videobilder
und Sprengvorrichtun-
gen, die nicht wie geplant explo-
dierten – das sind die Spuren,
die ein Trio mutmaßlicher RAF-
Terroristen seit Sommer 2015
hinterlassen hat. Inzwischen
sind sie wieder flüchtig, abge-
taucht mit ihrer Beute.

VON CHRISTIAN SCHWEPPE

Zielfahndern gibt der Fall in
Niedersachsen Rätsel auf: Da-
niela Klette, Burkhard Garweg,
Ernst-Volker Staub – sie bewe-
gen sich offenbar noch immer
ungestört, vielleicht in Deutsch-
land. Und sie sind nicht die ein-
zigen aus dem Kreis jener Links-
terroristen, die Bomben und
Gewehre auf die Grundfeste der
Bundesrepublik richtete. Heute
ist der Großteil tot oder hat eine
Haftstrafe abgesessen. Doch
nicht alle mussten für ihre Ta-
ten Verantwortung tragen –
nicht jedes Mitglied der Terror-
gruppierung Rote Armee Frakti-
on (RAF) wurde gefasst. Diese
Fälle sind für Polizei und Justiz
eine schwere Niederlage. Noch
immer sucht man aber mutmaß-
liche Täterinnen und Täter aus
den RAF-Jahren. Die Fahndung
gestaltet sich zunehmend
schwierig – denn die Gesuchten
leben seit Jahrzehnten im Un-
tergrund. Und werden älter.
Exemplarisch dafür ist der
Fall Angela Luther. Ihr Schicksal
ist ungewiss, sie wird von ande-
ren RAF-Mitgliedern vehement
als längst tot bezeichnet: mal
verscharrt in der Wüste, mal er-
schossen von den eigenen Leu-
ten. Fahnder wollen das nicht
glauben. Sie sind trotz anhal-
tender Todesspekulationen
überzeugt: Luther könnte sehr
wohl leben. Die Staatsanwalt-
schaft Heidelberg und das Bun-
deskriminalamt glauben bis
heute nicht an den Tod der mut-
maßlichen RAF-Terroristin.
AAAuf WELT-Nachfrage zu demuf WELT-Nachfrage zu dem
Fall bekräftigten Ermittler, dass
nach der Gesuchten gefahndet
wird. Man gehe davon aus, „dass
Frau Luther noch lebt bezie-
hungsweise wir keine Hinweise
haben, dass sie verstorben ist“.
Es geht dabei wohl auch darum,
Entschlossenheit zu zeigen:
Keiner kommt davon, auch
wenn mutmaßliche Taten länger
zurückliegen. Ihre Aufarbeitung
ist hochaktuell, noch immer.
Die gesuchte Angela Luther
wwwuchs in vermögenden Verhält-uchs in vermögenden Verhält-
nissen auf, als Tochter eines
Rechtsanwalts. Irgendwann
wwwurde Luther dann häufiger inurde Luther dann häufiger in
ihrer Geburtsstadt Berlin gese-
hen. Dort vernetzte sie sich of-
fffenbar in der linken und teilsenbar in der linken und teils
militanten Frauenbewegung, ab
den frühen 70er-Jahren wurde

Luthers Name wiederholt mit
der terroristischen Vereinigung
„Bewegung 2. Juni“ sowie der
Gruppe „Schwarze Hilfe“ ver-
bunden. Im Mai 1972 gehörte
Luther nach Einschätzung der
Sicherheitsbehörden zu jenem
Personenkreis, der das Land mit
einer Serie von Bombenanschlä-
gen in Atem hielt.
In der Folgezeit begingen und
koordinierten die RAF-Begrün-
der zahlreiche Überfälle und
Morde. Angela Luther soll Teil
dieser ersten RAF-Generation
sein. So lässt sich das Leben der
Terroristin und Lehrerin folge-
richtig auch durch die Dinge zu-
sammenfassen, die irgendwann
zum letzten Mal geschahen. Das
letzte Foto, Mai 1972. Die letzte
WWWohnung, gemietet unter ei-ohnung, gemietet unter ei-
nem Alias und genutzt mutmaß-
lich von der Baader-Meinhof-
Gruppe. Die letzten Tage außer-
halb des Untergrunds.
Seit jenen Jahren gilt Luther
als verschollen. Ihr Haftbefehl
offenbart, dass sie folgender
Straftaten dringend verdächtig
ist: versuchter Mord in fünf Fäl-
len, Herbeiführen mehrerer
Sprengstoffexplosionen, Beihil-
fffe zum Mord in zwei Fällen,e zum Mord in zwei Fällen,
Mord in drei weiteren Fällen in
Tateinheit mit versuchtem
Mord in sechs Fällen. Alle Taten
sollen gemeinschaftlich began-
gen worden sein.
Konkret geht es um den Bom-
benanschlag auf die Augsburger
Polizei vom 12. Mai 1972. Luther
soll die Tat gemeinsam mit der
RRRAF-Terroristin Irmgard MöllerAF-Terroristin Irmgard Möller
begangen haben (die 1994 aus
der Haft entlassen wurde). Zu-
dem soll Luther Teil des „Kom-
mando 15. Juli“ gewesen sein,
dem der Anschlag auf die Zen-
trale der US-Armee in Heidel-
berg vorgeworfen wurde. Zwei
Bomben töteten am 24. Mai
1 972 drei Soldaten. Bis heute ist
Angela Luther ihrer mutmaßli-
chen Verbrechen niemals ange-
klagt worden.
Stattdessen ist auffällig, wie
ehemalige RAF-Mitglieder an-
dere Terroristen der Gruppe
beharrlich als verstorben be-
zeichnen – doch Fahnder halten
das für nicht glaubhaft. Von der
Bundesanwaltschaft heißt es:
„„„Wir führen die ErmittlungenWir führen die Ermittlungen
fffort.“ort.“
Angela Luthers letzter Steck-
brief: Größe 1,77 Meter, blaue
AAAugen. Die Staatsanwaltschaftugen. Die Staatsanwaltschaft
Heidelberg teilt mit, dass ein
möglicher Aufenthaltsort der-
zeit nicht bekannt sei: „Frau Lu-
ther ist seit Bekanntwerden ih-
res Verschwindens ununterbro-
chen zur Festnahme ausge-
schrieben.“ Interpol ist einge-
schaltet. In Zusammenhang mit
der RAF sind insgesamt noch 20
Ermittlungsverfahren wegen
verschiedener Delikte anhängig.

Ein Geist aus dem


deutschen Untergrund


RAF-Terroristen wie Angela Luther sind laut


Komplizen längst tot. Doch Ermittler zweifeln

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