Der Tagesspiegel - 18.08.2019

(Axel Boer) #1
DER SONNTAG
Esther Kogelboom, Björn Rosen (Leitung),
Moritz Honert, Jan Oberländer,
Susanne Kippenberger
Mitarbeit: Ulf Lippitz
Autoren: Marius Buhl, Barbara Nolte
Gestaltung: Ursula Dahmen (Leitung),
Yvonn Barth, Irvandy Syafruddin
Liebe Leserinnen und Leser,
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Tagesspiegel Sonntag

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H


inter dem Becken, dort, wo nur
das Zoopersonal hin darf, stehe
ein Schild, sagt Tierpfleger
Marco Hasselmann. Darauf
eine Warnung: „Vorsicht, elektrische Fi-
sche!“ Nur Pfleger mit speziellem Sicher-
heitstraining dürften überhaupt an dieses
Becken. Drin schwimmen Kleine Salm-
ler, harmlose Fischchen. Ein paar Welse,
träge Burschen. Dazwischen aber schlän-
gelt sich der Gefährder durchs Wasser.
„Ein Räuber“, sagt Hasselmann.
Knapper Meter lang, der Körper ein
einziger Muskel. Stecknadelkopfgroße
Augen,er siehtfastnichts.Dafür,am gan-
zen Körper verteilt: elektrische Organe,
sogenannte Elektroplax. Bis zu 800 Volt
kann der Zitteraal damit erzeugen – Plus-
pol am Kopf, Minuspol an der After-
flosse. So orientiert er sich im trü-
ben Wasser seiner Heimat Südamerika,
so kommuniziert er mit Artgenossen, so
jagt er aber auch seine Beute. Er schlän-
gelt sich ran, dann britzelt er los. Wobei
britzelnvielzu harmlosklingt: Der Zitter-
aal kann Menschen töten!
Einer der Ersten, die ihn erwähnt ha-
ben, war Alexander von Humboldt, sagt
Pfleger Hasselmann. Humboldt wollte
dieTiere im März1800beobachten, wäh-
rend eines Forschungsaufenthalts am
Amazonas. Also bat er Fischer, ihm ei-
nige Exemplare zu fangen. Die schickten
zunächst mal Pferde ins Wasserloch. Die
Fische, so schilderte es Humboldt, seien
dann aus dem Wasser gesprungen, hät-
ten sich gegen die Bäuche der Pferde ge-
presst und ihnen so Stromschläge ver-
passt. Zwei der Gäule seien niedergesun-
ken und ertrunken.
Zitteraale, die aus dem Wasser sprin-
gen,um Pferde anzugreifen? Das warFor-
schern dann doch lange Zeit zu viel, sie
verwiesen Humboldts Geschichte ins
Reich der Märchen. Der Gute hatte wohl
selbst zu lange an einen Zitteraal gefasst!
Auch in seinem Becken im Zoo präsen-
tiert sich der Räuber zunächst wenig ag-
gressiv. Behäbig dreht er seine Runden,
lässt Kleine Salmler und Welse in Ruhe.
Dannbewegtsichwasan der Wasserober-
fläche. Mit einem Plastikstock streckt ein
Pfleger eine Gurke ins Becken, die ist für
die Welse. „Jetzt gucken!“, sagt Hassel-
mann. Der Zitteraal, Blindfisch, der er
ist, hält den Stock für ein Beutetier. Blitz-
artig schnellt er vor, presst sich ran und
britzelt los. Die Lautsprecher, außen am
Becken befestigt, um Besuchern die
Stromschläge erfahrbar zu machen, kna-
cken laut. Salmler und Welse zischen da-
von, so weit wie möglich weg von diesem
Irren. Nachfünf Sekunden ist dasSpekta-
kel vorbei. Der Fütterer zieht den Stock
aus dem Wasser, der Zitteraal beruhigt
sich. „Starke Batterien, kleines Hirn“,
sagt Pfleger Hasselmann.
Wie stark diese Batterien sind, unter-
suchte 2016 auch der Forscher Kenneth
Catania von der Vanderbilt University.
Und während er so untersuchte, wies er
noch etwas anderes nach: Bei Gefahr, so
Catania, sprängen die Zitteraale tatsäch-
lich aus dem Wasser. Und weil ihre
Stromschlägesich an der frischenLuft so-
gar noch verstärkten, könnten Zitteraale
tatsächlich Pferde niederstrecken. Hum-
boldt hatte recht behalten. Die Fachwelt
war geschockt. Marius Buhl

BERLINER SCHNAUZEN


A


lle müssen sparen, nicht nur ich, auch
die Berliner Bezirke. Und im Unter-
schied zu mir wissen die ganz genau
wie viel, nämlich drei Millionen Euro
bei der Parkpflege in den nächsten zwei Jahren.
Die hat ihnen der Finanzsenator gestrichen, so
konnte man es vergangene Woche in der Zei-
tung lesen. Natürlich habe ich sofort überlegt,
wie viel bei mir drin wäre, wenn ich ein Ausga-
bemoratorium für unseren Garten verkünden
würde. Der ist ja im Grunde auch so etwas wie
eine schmale Grünanlage. Nur eben privat.
Berlin hat 65Millionen Quadratmeter öffentli-
chenGrüns.Wennich diejetzt durchdrei Millio-
nen Euro teile, komme ich auf knapp 22 Euro
proQuadratmeter, die derFinanzsenatorals Ein-
sparpotenzial erkannt hat. Flugs multiplizierte
ich also unsere paar Quadratmeter Grün mit 22
und kam auf einen Betrag deutlich jenseits der
3000 Euro. Ich war elektrisiert.
Beim Frühstück habe ich es dann verkündet:
„Der tote Hibiskus wird nicht mehr ersetzt.“
Gleiches gelte für das Tränende Herz, schad-


hafte Stellen im Rasen werden
auch nicht mehr nachgesät,
überhaupt wird weder gemäht
noch gewässert, bis wir
3000 Euro eingespart haben.
Ich meine, wir haben noch die
Terrasse, das reicht doch zum
Draußensitzen! Alles andere ist
verzichtbar.
Meine Frau war so überrascht, dass sie erst
einmal gar nichts sagte. Schließlich gab sie zu
bedenken, dass es uns viel teurer käme, wenn
wir die Dinge zwei Jahre lang schleifen ließen.
Mit Reparaturen sei es dann nämlich nicht mehr
getan. Stattdessen würden wir neu pflanzen
müssen.
„Wer spricht von neu pflanzen“, entgegnete
ich. Und schlug stattdessen vor, dass wir ein-
fach mehr Kies verstreuen. Das ist neuerdings
Trend. Machen andere sparsame Hausbesitzer
auch und brauchen sich um gar nichts mehr zu
kümmern. Wir müssten uns allerdings beeilen,
es gibt bereits Bundesländer, in denen sich die

Stimmen mehren, die die Schot-
terei im Vorgarten verbieten
wollen. Weil dann die Bienen
nirgends mehr landen können.
Das war der Moment, in dem
meiner Frau der Kragen platzte.
DerSpargarten, den ichentwor-
fen hatte, würde ihr schlechte
Laune machen. Und das sei der entscheidende
Punkt. Unsere kleine Grünanlage sei doch nicht
nur Deko. „Die dient dem Wohlbefinden!“,
sagte sie lauter als nötig. Ich würde schon se-
hen, was ich davon hätte.
Ich dachte daran, sie zu fragen, wie sie das
denn meine. Aber sie war auf dem Weg nach
draußen und hatte die Rosenschere in der
Hand. Kein guter Zeitpunkt, die Diskussion
fortzusetzen.
Überhaupt scheint mir das ganze Unterfan-
gen riskanter zu sein, als ich zunächst angenom-
men hatte. Eine Scheidung käme zum Beispiel
sehr viel teurer als 3000 Euro. Ich fragte mich,
ob der Finanzsenator bedacht hatte, dass er wo-

möglicheineStadtvollerschlecht gelaunterBür-
ger bekommt.
Dann las ich, dass er schon versucht hat zu
beschwichtigen. Die BSR solle künftig häufi-
ger in den Parks kehren und so zur Entlastung
der Bezirke beitragen. Nachdenklich ging ich
nach draußen und bemerkte eine Plastikfolie,
die der Wind gegen mein Knie wehte. Ich
erreichte den riesigen Haufen gelber Säcke
vor der Tür. Krähen hatten bereits begonnen,
die dünnen Hüllen aufzupicken. Seltsam, die
Säcke hätten eigentlich längst abgeholt wer-
den sollen.
Ich rief bei der BSR an. Die nette Frau am
anderen Ende erklärte mir, sie wisse auch nicht,
warum wir vergessen worden seien, versprach
Abhilfe. Naja, dachte ich, vielleicht pflegen ihre
Leute gerade irgendwo einen Park.

DAS KOLUMNISTISCHE KARUSSELL


BERLINER


LISTE


Es folgen
Moritz Rinke ... sammelt Erinnerungen
Angie Pohlers ... sucht die Liebe
Susanne Kippenberger ... macht glücklich

DAS BILD ZUM SONNTAG / 16


KLEINE GESCHICHTEN


AUS DER GROSSEN STADT


1


GAP YEARS
Der Zehnjährige soll für die
Schule einen Zeitstrahl seines
Lebens machen, mit zehn
Ereignissen. Bei 2009 schreibt
er: Geburt. Dann überlegt er
kurz und sagt zur Mutter:
„Von 2009 bis 2017 habe ich
eigentlich nichts gemacht.“

2


CONTENANCE
Bankfiliale am Leipziger Platz.
Eine ältere, sehr elegante
Dame in schickem Kleid
beschwert sich am Schalter
höflich über den schlechten
Service. Dann dreht sie sich
um, verlässt das Gebäude und
zischt: „Scheißladen“.

3


MOTIVATION
Dienstagmorgen. Zwei
Kollegen in einem
Kreuzberger Büro. „Und, wie
geht es dir?“ – „Ich spüre eine
unerklärliche Müdigkeit.“

7


IRGENDWANN FUHR’S MAL
Mail eines Berliners auf die
Anfrage, ob sein online zum
Verkauf angebotenes Zweirad
fahrtüchtig sei: „Es ist in
einem nostalgischen Zustand.
Reifen müsste man noch
machen, ob Licht geht, weiß
ich nicht. Sonst soweit
betriebsbereit.“

Andreas Austilat
spart sich’s

GEHT SCHON, DANKE


FOTOS: LIVIA KAPPLER


Foto: imago

6


MASCHINENCHARME
Bürgeramt Zehlendorf, der
neue Personalausweis ist
fertig. Die Bürgerin, Ende 50,
rubbelt die Pin-Felder für die
Online-Ausweisfunktion frei.
Das vorgegebene Passwort:
„Faeltchen“.

ICH HÄTTE GERNE MEHR KIES


Hier zeigen wir jede Woche Arbeiten aus dem Portfolio einer oder eines Fotografie-Studierenden.
Eine Zusammenarbeit zwischen der Fachhochschule Dortmund (Fachbereich Design) und dem Tagesspiegel.

ZITTERAAL


5


HAUPTSACHE PELZIG
Unterwegs im Leipziger Zoo.
„Gibt’s hier eigentlich
Koalas?“, fragt ein Mädchen,
um die zwölf, seinen Vater.
„Nee, hier nicht. Aber in
Berlin. Die sind doch von
China gespendet worden.“

S8 DER TAGESSPIEGEL ZUGABE NR. 23 918 / SONNTAG, 18. AUGUST 2019


Ihre Liebe zu Uwe, sagt Livia Kappler, ist nicht so anders, als es die


zu einem „Fußgänger“ wäre. Natürlich nicht. Doch andere sehen


meist nur Uwes Rollstuhl. Und in dem Rollstuhl keinen Menschen.


Seit vier Jahren sind die beiden zusammen, und sie hat die Kamera


immer dabei. Uwe ließ sich einen VW-Bus umbauen: Hinten die Liege


mit Matratze, vorne funktioniert Kuppeln, Bremsen und


Beschleunigen per Hand. Kroatien, Atlantik, Südfrankreich –


schwierig sind nur die letzten Meter über den Sand ins Meer. DEIKEDIENING


Zitteraal im Zoo-Aquarium

Lebenserwartung
20 Jahre
Fütterungszeiten
Montag und Donnerstag, 13.15 Uhr
Interessanter Nachbar
Australischer Lungenfisch

4


GLOBAL KAUFEN
Galeria Kaufhof am Alex. Ein
Pärchen fährt die Rolltreppe
hoch und begutachtet das
Ambiente. Sie: „Besser als
Peek&Cloppenburg. Und
schöner als Karstadt“. Er:
„Wir müssen mal nach Dubai
fliegen, dort gibt es ein paar
hübsche Einkaufszentren.“
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