D
ie Hemden passen
noch. Sitzen perfekt.
Es sind besondere
Hemden. Weiß mit
Brustringen in den Farben blau,
rot, schwarz, gelb und grün.
Das „Regenbogentrikot“ ist die
begehrteste Trophäe im Rad-
sport. Nur Weltmeister dürfen
es tragen. Wie Werner Otto und
Hans-Jürgen Geschke. Als
erste Deutsche holten sie den
WM-Titel auf dem Tandem, in
Brünn war das, am 20. August
1969, also vor fünfzig Jahren.
Fürs Foto sind sie noch ein-
mal in die alten Trikots ge-
schlüpft. Sie flachsen, sie freu-
en sich, weil sie in all den Jah-
ren kaum oder gar nicht an Ge-
wicht zugelegt haben. Beide,
mittlerweile jenseits der Sieb-
zig, sind ihrem Sport treu ge-
blieben.
Werner Otto (71), ehrgeizig
wie eh und je, kennt kaum ei-
nen Tag ohne Training. Erst
kürzlich kehrte er von einer
Tour in den Dolomiten zurück.
Er ist stolz, dass er als Flach-
ländler auch in den Bergen
noch mithalten kann.
Hans-Jürgen Geschke (76),
den alle nur „Tutti“ nennen,
weil sein Vater Italiener war,
setzt sich dreimal in der Woche
aufs Rad. „Nur für die Gesund-
heit“, beteuert er. „Alles, was
sich ohne Auto erledigen lässt,
mache ich mit dem Rad.“
Und beide sind sich einig, dass
man beim „frohen Pedalieren“,
wie es in einem Gedicht heißt,
das Erlebnis Natur kostenlos
genießen könne.
Otto/Geschke–von diesem
Duo schwärmendie Älteren
noch heute. Vier wirbelnde Bei-
ne im Gleichtritt. Vorn Otto als
„Steuermann“. 1,78 Meter groß,
reaktionsschnell, risikofreudig,
draufgängerisch. Dahinter der
elf Zentimeter kleinere Gesch-
ke. Erfahren, antrittsschnell,
taktisch gewieft. Ein halbes
Jahrzehnt dominierten die bei-
den (Ost-)Berliner diese Diszi-
plin. Mit dem (West-)Berliner
Gespann Jürgen Barth/Rainer
Müller lieferten sie sich erbit-
terte Duelle.
Es ist schon kurios, dass
die Finals bei Weltmeister-
schaften dreimal als „Ber-
liner Meisterschaft“ aus-
gefahren wurden.
Zweimal, in Brünn
1969 und 1971 in Vare-
se, triumphierten Ot-
to/Geschke. Einmal,
1970 in Leicester, la-
gen Barth/Müller
vorn. Immer standen
sie zu viert auf dem
Siegerpodium. Da für
jedes Land nur jeweils
ein Tandem startbe-
rechtigt war, erwies
sich das geteilte
Deutschland als Vorteil.
Nach dem Fall der Mauer
vor dreißig Jahren kam es
am Rande des Straßen-Klassi-
kers „Rund um Berlin“ zum ers-
ten Wiedersehen. Beide Tan-
dems boten dem Publikum eine
Show-Einlage. Nach zwei Läu-
fen trennte man sich freund-
schaftlich1:1.„Es war, als wenn
sich alte Freunde treffen“, erin-
nert sich Rainer Müller (73),
der „Hintermann“ des (West-)
Berliner Gespanns, an diese Be-
gegnung. Inzwischensehen
und treffen sie sich öfter und
regelmäßig. Zu zweit oder zu
dritt. Nur Müllers Partner Jür-
gen Barth fehlt. Er ist 2011 ge-
storben.
In den Tagen der Tour de
France im Juli wählte Müller in
Falkensee die gespeicherte Te-
lefonnummer der Geschkes in
Wandlitz, wenn deren Sohn Si-
mon bei den Fernseh-Übertra-
gungen zu sehen war. Schulter-
klapsper Telefon für den
Freund. Simon (33) war übri-
gens der einzige, der einst übrig
geblieben war aus einer Schar
12- bis 14-Jähriger, die sein Va-
ter in den 1990er Jahren in
Wandlitz für das Mountain-
bike-Fahren begeistern wollte.
Zuerst Feuer und Flamme, er-
lahmte das Interesse bei den
Jungen nach und nach. Andere
Verlockungen reizten mehr.
Eine allgemeine Tendenz, an
der sich nichts geändert hat,
wie auch Otto bedauert. Mit
Mitgliedern des von ihm ge-
gründeten Radsportvereins,
des RSV Werner Otto, besuchte
der Exweltmeister unlängst
umliegende Schulen. „Das Des-
interesse, das oft schon bei den
Lehrern beginnt, macht mich
traurig. Und wütend.“ Die zu-
nehmende Bewegungsarmut
bei Kindern und Jugendlichen
halten die Tandem-Strategen
für sehr bedenklich.
Umso mehr freut sich „Tutti“
Geschke über den erfolgrei-
chen Weg des Sohnes, der in
diesem Jahr zum siebenten Mal
die Tour des France absolvier-
te.Simonseisein„Meisterstück
als Trainer“.
Noch als Aktiver hatte Gesch-
ke sich später ganz auf den Ein-
zelsprint konzentriert. In der
als Krone des Bahnradsports
bezeichneten Disziplin gewann
er 1977 im venezolanischen San
Cristobal sein drittes Regenbo-
gentrikot. Mit 34 Jahren.
In Wandlitz hatte er 1994 sein
Fachgeschäft eröffnet. Mit dem
Schriftzug „Mit Rad und Tat
vom Weltmeister“ brauchte er
sich über mangelndes Kunden-
interesse nicht zu beklagen.
Nach 18 Jahren schloss er,
längst Rentner, die Pforten.
Otto hat die Leitung der zwei
Velo-Sport-Fachgeschäfte in
Berlin-Pankow an die beiden
Söhne übertragen.Die Strecke
zwischen seinem Zuhause in
Schmachtenhagen und Berlin
legt er meist mit dem Fahrrad
zurück. Wie erwähnt: tägliches
Training.
Bei der Namensgebung für
Mike und Patrick standen übri-
gens der englische Motorrad-
Champion Mike Hailwood
(1940–1981) und Belgiens Rad-
sport-Idol Patrick Sercu
(1944–2019) Pate.
An die Orte der größten ge-
meinsamen Erfolge reisten
Werner Otto und „Tutti“
Geschke in den 90er-Jahren. In
Brünn sind ihre Namen am Ve-
lodrom auf einer Ehrentafel der
Sieger verewigt. In Varese
konnten sie nur durch den
Zaun einen Blick auf die Bahn
werfen. Sonntags waren die To-
reg eschlossen.
Dennoch denken sie an den
Italien-Trip gern zurück. Per
Flugzeug ging’s von Berlin nach
Mailand, mit an Bord ihre
Mountainbikes. 50 bis 60 Kilo-
meter
nach Varesesind
für trainierte Sportler kein
Problem. Vorher ließen sie es
sich in einem Restaurant auf
dem Domplatz in Mailand rich-
tig gut gehen. „Spaghetti und
Rotwein gab’s. Dazu den Blick
auf den Dom.“ Noch heute
schwärmen sie von diesem Er-
lebnis.
Den Umtrunk zum 50. Ge-
burtstag ih-
res ersten Titel-
gewinnes in Brünn
werden sie allerdings nach-
holen müssen. „Tutti“ kommt
mit Ehefrau Vera von einem Fa-
milientreffen auf Usedom erst
in ein paar Tagen zurück. Und
Werner Otto wird am Jubilä-
umstag sicher irgendwo mit
dem Rad unterwegs sein. Aber
vielleicht hat Jutta, seine Frau,
für den Abend ein Fläschchen
kalt gelegt. Jochen Frank
28 SPORT BERLINERKURIER,Sonntag, 18. August 2019 29
Fotos: Hennes
Roth, Jochen
Frank (2)
Werner Otto wur-
de am 15. April 1948 in
Dresden geboren,Hans-
Jürgen „Tutti“ Geschke
am 7. Juli 1943 inBerlin.
Als Tandempartnerkehr-
ten sievon1969 bis 1973
vonjeder Weltmeister-
schaft mitMedaillen zu-
rück:Gold1969inBrünn,
Silb er 1970 in Leicester,
Gold 1971 in Varese,
Bronze 1973 in SanSe-
bastian. Hinzu kommt
Olympia-Silber 1972in
München.
Geschkewurde danach
im (Einzel-)Sprint 1977
Weltmeister (San Cristo-
bal), nachdem er im Jahr
zuvor bei den Olympi-
schen Spielen inMontre-
al Bronze geholt hatte.
Beidearbeiteten nach
ihrer sportlichenKarrie-
re alsTrainer inBerlin
beim SC Dynamo bzw.
beim TSC. Zu Ottos
Schützlingengehörendie
Weltmeister Robert
Bartko, GuidoFulstund
EmanuelRaasch.
Anfang der1990er-
Jahremachten sich bei-
de als Fahrradhändler
selbstständig: Otto, ge-
lernter Kfz-Schlosser
und Diplom-Sportlehrer,
inBerlin-Pankow,Gesch-
ke,gelernter Installateur
und Diplom-Sportlehrer,
in Wandlitz.
Beidesind verheiratet
und leben im Berliner
Umland. Otto hatzwei
Kinder undvierEnkel,
GeschkedreiKinder,vier
Enkelund einen Urenkel.
Zu zweit
nieo hne
Medaille
ZweiBeine
müsstihrsein
Eingespieltes Duo:
„Steuermann“
Werner Otto und
Hans-Jürgen Geschke.
Die (Ost-)Berliner
dominierten jahrelang
den Tandem-Sport.
Die Berliner Werner Otto
und Hans-Jürgen Geschke
wurden vor 50 Jahren
als erste deutsche Sportler
Tandem-Weltmeister.
Was machen sie heute?
n
Die Freude der Sieger: M
So berichtete die
DDR-Presseüber
den WM-Titel 1969.
Im Trikot der
Weltmeister:
Werner Otto und
Hans-Jürgen
Geschke. Beide
halten sich
fit mit,naklar,
Radfahren.