Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1
KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,19.AUGUST2019 SEITE 20

I


ch bin ein Ostdeutscher. Das
darf ich sagen, weil die Mauer
schon gebaut war, als ich im
Berliner Osten auf die Welt
kam, und weil ich im Westen nie-
mals einen festen Wohnsitz hat-
te. Nur um diesen Text zu schrei-
ben, habe ich die ehemalige
Grenze überquert, ein mahnen-
des Band aus Pflastersteinen, und
sitze nun wie an jedem Arbeitstag
vor meinem Bildschirm im Berli-
ner Westen.

VON MICHAEL PILZ

Wäre ich, würde ich nicht in
Kreuzberg arbeiten, sondern in
Friedrichshain, noch ostdeut-
scher, als ich es bin? Wie ost-
deutsch ist mein nach dem Mau-
erfall geborenes Kind? Hat mein
nach Erlangen gezogener Freund
sein Ostdeutschsein verwirkt?
Wird mein aus Münster stam-
mender Nachbar irgendwann
zum Ostdeutschen? Gilt für die
Kinder eines Westdeutschen und
einer Ostdeutschen der Wohn-
oder Geburtsort? Sind alle ge-
meint, wenn von den anstehen-
den Ostwahlen und ihren Folgen
für das ganze Land die Rede ist,
oder nur ich, der Bioostdeutsche?
Und darf ich „Ich“ sagen, wenn
ich als „Wir“ gemeint bin?
Vor dem Fall der Mauer waren
Westdeutsche schon Westdeut-
sche, weil sie das alte Deutschsein
überwunden hatten. Während sie,
wenn sie den Osten überhaupt
wahrnahmen, damals schon den
Ostdeutschen als anderen sahen
und behandelten, schaute der
Ostdeutsche nach Westen und
sah sich als Deutscher. So kam es
zur deutschen Einheit. Und ich
wurde, auch für mich, zum Ost-
deutschen. In Leipzig am 9. Okto-
ber 1989, als die DDR vor ihrem
Volk kapitulierte und die Feststel-
lung „Wir sind das Volk“ zur For-
derung „Wir sind ein Volk“ führ-
te, und am 9. November 1989, als
die Mauer aufging, war ich es
noch nicht.
Ich war auch noch kein Ost-
deutscher, als ich die DDR als
meine Heimat anerkennen konn-
te und den hoffnungsvollen Auf-
bruch ebenso zu schätzen wusste
wie die fabelhafte Anarchie. Ich
setzte meine Unterschrift unter

den 1989 zum Advent von Christa
Wolf im Ostfernsehen verlesenen
Appell „Für unser Land“gegen
den „Ausverkauf unserer mate-
riellen und moralischen Werte“
und staunte zwei Tage später
über Helmut Kohls Zehn-Punkte-
Planfür die Vereinigung im West-
fernsehen.
Ich war immer noch kein Ost-
deutscher, als Kohl die DDR be-
suchte. Als der Bundeskanzler
glühende Reden hielt, die West-
parteien dafür warben, ihre
Platzhalter im Osten in die erste
demokratisch aufgestellte Volks-
kammer zu wählen, und die Wahl
dann gegen meinen Willen so
ausging, wie es auch die wollten,
die später unter der Vereinigung
zu leiden hatten, während ich die
Freiheiten genießen konnte. Als
die Währungs- und Sozialunion
die D-Mark brachte, die schon
überschaubaren Vermögen dezi-
mierte und die Kaufhalle in einen
Supermarkt verwandelte, gab ich
mein Geld aus.
Als die Einheit kam, war ich ein
Ostdeutscher. Nicht weil sie kam
(mit 25 Jahren war man in der
DDR in ihrer Endzeit kein ver-
träumtes Kind mehr), sondern
wie sie kam. Durch populistische
Parolen, nach denen es durch die
Einheit allen besser gehen würde,
durch paternalistische Politiker,
die ihre östlichen Verhandlungs-
partner demütigten, und durch
die gedemütigten östlichen Ver-
handlungspartner selbst, die sich
dem Westen unterwarfen. Wolf-
gang Schäuble schloss den Eini-
gungsvertrag, wie Jürgen Haber-
mas erkannte, mit sich selbst.
Der Osten trat dem Westen nach
dem Grundgesetzartikel 23 bei.
Es hätte auch eine neue Verfas-
sung nach Artikel 146geben kön-
nen – was nicht viel geändert,
aber umso mehr bedeutet hätte
für die neue Bundesrepublik.
Zum einen für das „innerliche
Umstellen der Westdeutschen“,
wie der Historiker Heinrich Au-
gust Winkler damals schrieb.
Zum anderen aber auch für jene
Deutschen, die sich nun dort wie-
derfanden, wohin sie zumindest
mehrheitlich schon immer woll-
ten. Sie wohnten weiter im Osten
und waren endlich im Westen.
Keinen Satz habe ich häufiger

von Westdeutschen in Ost-
deutschland gehört als den so
stolzen Satz: „Wir waren die Er-
sten!“ Auch hier wird das Ich zum
Wir. Der Wilmersdorfer DJ, der
als Erster aus dem Westen 1990
in einem der halb privaten Ost-
Berliner Kellerklubs auflegt. Der
Anwaltssohn aus Koblenz, der als
Erster eine Wohnung im Prenz-
lauer Berg besetzt und sich als
Bohemien fernab des fremdbe-
stimmten Lebens neu erfindet.
Der tapfere Aufbauhelfer, der den
marktuntüchtigen Chemiefaser-
betrieb in Bischofswerda filetiert.
Der Glücksritter aus Celle, der
aus einer D-Mark für eine Hotel-
anlage an der Müritz mehrere
Millionen macht. Der Schwabe,
der gegen die später zugezogenen
Schwaben protestiert und gegen
die Gentrifizierung demon-
striert. Der Schauspieler aus
Hamburg, der seine Besucher
durch das Brandenburger Dorf,
sein Dorf, führt, wo er sich ein
Landhaus aus dem 19. Jahrhun-
dert ausbaut.
Selbstverständlich ist allen be-
wusst, dass vor ihnen schon an-
dere da waren. Sie meinen es
nicht böse. Es ist ihre Sicht auf
ihren Osten, der vor 1990 gar
nicht da war, nicht einmal als
stinkendes Land voller vergräm-
ter, grauer Menschen. Anke Stel-
ling hat das Buch dazu geschrie-
ben, es heißt „Schäfchen im Troc-
kenen“und erzählt vom Prenz-
lauer Berg als westdeutscher En-
klave ohne störende Eingebore-
ne, dafür gab es den Preis der
Frühjahrsbuchmesse in Leipzig.
Die Tabula rasa in den Köpfen
wurde 1990 staatsrechtlich und
ökonomisch durchgesetzt. Es
ging nicht allen besser, vielen

ging es schlechter, manchen von
ihnen auch, wenn es ihnen mate-
riell tatsächlich besser ging. Die
westliche, auf Marx zurückzufüh-
rende Gewissheit, dass sich das
Bewusstsein aus dem Sein erge-
be, wurde selten klarer widerlegt
als in den neuen Bundesländern.
In der DDR wurde gelehrt, dass
der Kapitalismus wissen-
schaftlich zwangsläufig zum So-
zialismus führe; mit der deut-
schen Einheit sollte aus der DDR
gesetzmäßig ein neues Stück der
alten BRD werden. Die Land-
schaften blühten tatsächlich auf,
vor allem in den Städten.
Dafür brach die Wirtschaft
ein, während der Westen einen
unverhofften Aufschwung feier-
te. Jede Familie litt mit einem
oder mehreren ihrer Angehöri-
gen an Arbeitslosigkeit und Sinn-
verlust. Mit den Produkten aus
dem Klein- und Großhandel ver-
schwanden auch die Hersteller.
Die Westkonzerne übernahmen
alles Nötige, die Führungskräfte
wurden ausgetauscht, während
die künftigen Eliten aus dem
Osten in den Westen gingen. Wer
im Osten blieb, wurde ermahnt,
endlich im neuen Deutschland
anzukommen. Wer sich als Be-
amter aus dem Westen in den
wilden Osten wagte, fühlte sich –
schon durch die sogenannte
Buschzulage – wie ein Abenteu-
rer. Darüber, über die Treuhand
und den Umbau von der Arbei-
ter- zur Dienstleistungsgesell-
schaft, ist nicht alles, aber viel
geschrieben worden.
Über die Kultur zu wenig: Habe
ich gelacht über die rotwangige
Zonen-Gaby auf dem Titel der
„Titanic“ mit ihrer ersten Banane,
einer Gurke, ihrem steingewa-

schenen Hemd und ihrer Dauer-
welle? Sicher. Habe ich gelacht,
als Arnulf Baring sich mit Wolf
Jobst Siedler im Buch „Deutsch-
land, was nun?“über den Osten
unterhielt und sagte: „Ob sich
heute einer dort Jurist nennt oder
Ökonom, Pädagoge, Psychologe,
selbst Arzt oder Ingenieur, das ist
völlig egal. Sie haben einfach
nichts gelernt, was sie in eine
freie Marktwirtschaft einbringen
könnten.“ Sicher habe ich gelacht,
aber auf andere Weise. Schon
über das „dort“ für drüben.
Immerhin wurden die West-
deutschen dadurch zu Deut-
schen, mehr mussten sie auch
nicht tun in ihrem unerschütter-
lichen Referenzsystem. Persön-
lich habe ich die Ignoranz und Ar-
roganz und das daraus entstande-
ne Ostdeutschsein im neuen
Deutschland 1991 bei meinem Be-
rufseinstieg erfahren dürfen. Ich
hatte für eine ehemalige Partei-
zeitung, die mitsamt ihrer lukra-
tiven Immobilie in Berlin von
einer überregionalen Tageszei-
tung aus dem Westen übernom-
men worden war, eine Konzert-
kritik verfasst. James Brown in
der Berliner Deutschlandhalle.
Der neue Lokalressortleiter, ein
Franke, ließ mich antreten und
wissen, dass ein Ostdeutscher
keine Konzertkritiken schreiben
könne, es sei denn über die Puh-
dys. Da habe ich sicher nicht ge-
lacht, nicht mehr.
Der Ostdeutsche ist für den
Osten zuständig. In Zeitungen, in
Talkshows und in neuen Medien
aller Art hat sich daran wenig ge-
ändert, das belegt auch dieser
Text. Der Ostdeutsche erzählt
vom Osten, wenn der Osten im-
mer noch nicht so ist, wie er sein

Wie ich zum


Ossi(gemacht)


wurde


Je länger die Wende zurückliegt, desto mehr


scheine ich zum Ostdeutschen zu werden.


3 0 Jahre nach dem Mauerfall wird diese


Spezies wieder aufmerksam beobachtet und


beschrieben. Aber warum soll ich einer sein,


und wann genau wurde ich dazu?

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