Politik
Matteo Salvini wollte die ganze
Macht, nun könnte es sein, dass
er die Macht ganz verliert 6
Panorama
Eine Serie von Verbrechen erschüttert
Malibu. Die Polizei mag keinen
Zusammenhang erkennen 8
Feuilleton
Sein „Easy Rider“ brachte das
amerikanische Kino zum Brennen.
Zum Tod von Peter Fonda 9
Das Politische Buch
Methodisch fragwürdig:
Eine neue Studie zum
Hitler-Stalin-Pakt 13
Wissen
Warumeine neue Arznei gegen
die Krankheit ALS in der EU
keine Zulassung bekommt 14
Medien, TV-/Radioprogramm 20,
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 7
Schule und Hochschule 12
Traueranzeigen 19
Vor allem im Süden sowie im Nordwesten
und in Sachsen halten sich tagsüber dichte
Wolkenfelder, teils mit Schauern und Ge-
wittern. Ansonsten ist es wolkig mit Son-
nenschein. Es werden 19 bis 26 Grad er-
reicht. Seite 13 und Bayern
Ein Haufen Schuhe und Sandalen, mehr
bleibt nicht nach dem Selbstmordanschlag
auf eine Hochzeitsfeier in Afghanistans
Hauptstadt Kabul. Mindestens 63 der Teil-
nehmer an dem Fest starben, als der Atten-
täter sich vor einer Bühne mit Musikern in
die Luft sprengte, unter den Toten waren
viele Frauen und Kinder. Verantwortlich
für das Blutbad soll diesmal der Islamische
Staat (IS) sein, zumindest hat er es selbst
für sich reklamiert. Und die Taliban, die
schon für zahllose Anschläge verantwort-
lich waren, könnten in diesem Fall wirklich
außen vor sein: Derzeit verhandeln sie mit
den USA über einen Waffenstillstand und
einen US-Truppenabzug. Allzu große Hoff-
nung auf baldigen Frieden sollte sich aber
keiner machen. Wie instabil Afghanistan
bleibt, zeigt schon der Kabuler Anschlag.
Der Kommandeur des deutschen Einsatz-
kontingents im Land, Brigadegeneral Ger-
hard Klaffus, warnt auch davor, die Gefah-
ren für die deutschen Soldaten zu unter-
schätzen: „Die Bundeswehr muss hier den-
ken wie in einem Kampfeinsatz“, sagte er
der SZ. Mit bis zu 1300 Soldaten beteiligt
sich Deutschland an der Ausbildungs- und
Trainingsmission „Resolute Support“ der
Nato.
msz Seiten 3, 4 und 6
26 °/6°
Terror gegen
feiernde Menschen
Berlin– Union und SPD haben sich darauf
verständigt, die Mietpreisbremse um fünf
Jahre zu verlängern. Sie soll nun nicht nur
bis 2020 gelten, wie ursprünglich geplant,
sondern bis 2025. Das teilten Justizministe-
rin Christine Lambrecht (SPD) und Baumi-
nister Horst Seehofer (CSU) am Sonntag-
abend zum Auftakt des Koalitionsaus-
schusses mit. Zu viel gezahlte Miete kann
zudem bis zu zweieinhalb Jahre nach Ab-
schluss des Mietvertrages zurückgefor-
dert werden, wenn ein Verstoß gegen die
Mietpreisbremse vorliegt. Die Koalitionä-
re einigten sich außerdem darauf, den Zeit-
raum, der zur Bemessung der ortsüblichen
Vergleichsmiete herangezogen wird, von
vier auf sechs Jahre zu verlängern. Das
führt in der Regel zu einem niedrigeren
und damit für den Mieter günstigeren
Wert. Mit diesen Beschlüssen hat sich im
Wesentlichen die SPD durchgesetzt, die ei-
nen entsprechenden Forderungskatalog
noch unter der früheren Justizministerin
Katarina Barley aufgestellt hatte. Gleich-
wohl ist die Wirksamkeit der Mietpreis-
bremse bislang umstritten.
Barleys Nachfolgerin Lambrecht sagte,
mit diesen Entscheidungen würde „der An-
stieg bei bestehenden und künftigen Mie-
ten weiter gedämpft“. Dadurch gewinne
man „wertvolle Zeit“, um mehr bezahlba-
ren Wohnraum zu schaffen. Diesem Ziel
soll auch ein Gesetzentwurf dienen, der bis
Ende des Jahres vorliegen und die Möglich-
keit begrenzen soll, Mietwohnungen in Ei-
gentumswohnungen umzuwandeln. Für
den Erwerb von selbst genutztem Wohn-
raum sollen die Nebenkosten deutlich ge-
senkt werden, unter anderem sollen Käu-
fer von Wohnungen und Einfamilienhäu-
sern maximal die Hälfte der Maklerkosten
tragen. Weitere Maßnahmen zielen darauf
ab, zügig mehr Bauland erschließen zu kön-
nen, unter anderem aus dem Bundeseisen-
bahnvermögen und durch die Reaktivie-
rung von Brachflächen. Seehofer sagte, so-
wohl für Mieter wie für Käufer müssten die
Rahmenbedingungen „so gestaltet sein,
dass Wohnen bezahlbar bleibt“. Das Maß-
nahmenpaket sei ein „weiterer Meilen-
stein in der Wohnungspolitik dieser Bun-
desregierung“. Grundlage des Pakets wa-
ren Beschlüsse des von der Bundesregie-
rung ausgerichteten Wohngipfels, der vor
knapp einem Jahr getagt hatte.
Die CDU-Chefin Annegret Kramp-Kar-
renbauer verwies in einer Erklärung dar-
auf, dass für die energetische Gebäudesa-
nierung weitere Anreize gesetzt werden sol-
len. Gleiches gilt für den Umstieg auf klima-
freundliche Heizungen. Kramp-Karren-
bauer hatte jüngst in einem Grundsatzpa-
pier für den Austausch von Ölheizungen
plädiert, um den Ausstoß von Kohlendi-
oxid zu senken. Konkrete Entscheidungen
sollen aber erst Teil des Gesamtpaketes
zum Klimaschutz werden, das die Koaliti-
on am 20. September vorlegen will.
Weitere Themen in der Sitzung am Sonn-
tag dürften der Streit um die Grundrente
sowie um den Abbau des Solidaritätszu-
schlages gewesen sein. Außerdem sollte
über außenpolitische Themen wie einen
möglichen Einsatz der Bundesmarine in
der Straße von Hormus gesprochen wer-
den. nico fried
Hongkong– Mindestens eineMillion Men-
schen haben in Hongkong für Freiheit und
Demokratie demonstriert, die Veranstal-
ter sprachen sogar von 1,7 Millionen. Ob-
wohl die Regierung in Peking Drohungen
ausgesprochen hatte, drängten sich die
Menschen in der Innenstadt der früheren
britischen Kronkolonie. gie Seiten 4, 7
Berlin– Mit einem Katalog von Forderun-
gen an die Politik will das Bundeskriminal-
amt (BKA) die Bekämpfung von politisch
rechts motivierter Kriminalität in Deutsch-
land „neu gestalten“. Ein entsprechendes
Papier, das an das Bundesinnenministeri-
um übermittelt worden ist, enthält nach In-
formationen vonSüddeutscher Zeitung,
NDR und WDR vor allem Vorschläge, Auf-
gaben zentral beim BKA zu bündeln. Dafür
sollten insgesamt 440 zusätzliche Ermitt-
ler eingestellt werden. Kernstück ist eine
stärkere Verfolgung von Hasspostings im
Internet. Demnach soll künftig das BKA zu-
ständig sein, alle strafbaren Hasskommen-
tare im Internet zu erfassen und die Urhe-
ber zu ermitteln. Dazu will das BKA auch
Facebook und Twitter verpflichten, solche
Postings nicht nur zu löschen, sondern
stets an das BKA zu melden.sz Seite 2
von cathrin kahlweit
London– Wenige Tage vor dem G-7-Gip-
felin Biarritz, auf dem der britische Premi-
er, zumindest am Rande, auch über den be-
vorstehenden Brexit reden will, wächst der
Druck auf Boris Johnson – außen- wie in-
nenpolitisch. Es ist das erste Treffen von
Johnson mit Staats- und Regierungschefs
seit seinem Amtsantritt; er hatte absicht-
lich keine Antrittsbesuche gemacht, son-
dern signalisiert, er sei erst zu Gesprächen
bereit, wenn Brüssel ein Entgegenkom-
men zeige und den in seinen Augen „unde-
mokratischen Backstop“, die Notlösung
für Nordirland, streiche. Dafür gibt es aller-
dings keine Anzeichen, weshalb derGuar-
dianEU-Diplomaten damit zitiert, John-
son werde spätestens bei Treffen mit der
deutschen Kanzlerin und dem französi-
schen Präsidenten „mit der Realität kon-
frontiert werden“.
Auch in London sieht sich der Premier
wachsendem Widerstand gegen seine Ver-
handlungsposition ausgesetzt, die bislang
keine Angebote an Brüssel enthält. John-
son droht mit einem harten Brexit am
- Oktober, also mit No Deal, wenn Brüs-
sel nicht einknickt. Für diesen Fall erwar-
tet die Regierung dramatische Engpässe
bei Benzin, Nahrungsmitteln und Medika-
menten, ein monatelanges Chaos an den
Häfen, Grenz- und Zollkontrollen an der
Grenze zu Irland und steigende Kosten für
Sozialhilfe. Das hat dieTimesin ihrer Wo-
chenendausgabe berichtet; dem Blatt war
das gesamte Dossier, das den Codenamen
„Operation Gelbhammer“ hat, zugespielt
worden. Die Ministerien analysieren darin
die zu erwartenden Folgen eines vertragslo-
sen Austritts aus der EU. Ein hoher briti-
scher Beamter bestätigte der Zeitung, bei
dem Dossier handele es sich nicht um
Worst-Case-Szenarien, sondern um eine
realistische Einschätzung im Lichte der
Tatsache, dass sich die Wirtschaft nur be-
dingt auf No Deal einstellen könne.
Zugleich haben mehr als hundert Abge-
ordnete einen Brief an Johnson geschrie-
ben, in dem sie ihn auffordern, das Parla-
ment, das sich bis Anfang September in
der Sommerpause befindet, umgehend
wieder einzuberufen. „Sie erheben den An-
spruch, für das Volk zu sprechen“, heißt es
in dem Brief, „aber das vom Volk gewählte
Parlament kann in dieser wichtigen Phase
nicht mitreden.“ Das Unterhaus, heißt es
weiter, müsse umgehend und bis zum
- Oktober durchgehend tagen, um das
Regierungshandeln überprüfen zu können
und die schwere Krise, auf die sich das
Land zubewege, zu verhindern.
Einen Tag zuvor hatte Labour-Chef Jere-
my Corbyn an die Unterhausabgeordneten
geschrieben und sie aufgefordert, ihn in
seinem Kampf gegen No Deal zu unterstüt-
zen. Corbyn plant ein Misstrauensvotum
gegen Boris Johnson; sollte dies erfolg-
reich sein, will er sich vom Parlament zum
Übergangspremier wählen lassen. Aller-
dings hat eine Reihe von Brexit-kritischen
Tories, die No Deal ebenfalls verhindern
wollen, angekündigt, sie seien nicht bereit,
Corbyn ins Amt zu wählen. Dieser warnt, ei-
ne solche Weigerung sei ein „Flirt mit der
Katastrophe“; nur durch Einigkeit über die
Parteien hinweg könne man den harten
Brexit noch verhindern. Downing Street
nennt die Tories, die gegen Johnson stim-
men wollen, „Verräter“. Seite 4
HEUTE
Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp
Verkehrsminister Scheuer scheint in Zu-
lassungslaune zu sein.Bereits im Früh-
jahr, als gerade der erste Entwurf seiner
E-Scooter-Verordnung bekannt gewor-
den war, kündigte der Minister eine Aus-
nahmeregelung an: Zeitlich befristet woll-
te er prüfen, wie sich andere Fahrzeuge
ins Straßengetümmel einfügen. Seitdem
ist er allerdings in einen Stau geraten.
Gemeint waren unter anderem die mo-
torisierten Longboards, die in Wahrheit
schon eine Weile durch die Städte sausen,
ohne dass sie groß aufgefallen wären. Auf
den ersten Blick sehen sie aus wie norma-
le, lange Skateboards, der Experte kann
erkennen, dass der Fahrer einen Regler in
der Hand hält – und dass die Dinger mit
Mordskaracho überholen, selbst wenn
man schnell auf dem Rad unterwegs ist.
Ein Elektromotor an der Hinterachse
treibt das Brett an, die Energie kommt
aus Akkus an der Unterseite. Gelenkt
wird allerdings wie beim normalen Skate-
board, mit Gewichtsverlagerung. Der we-
sentliche Unterschied liegt im Tempo: Bis
zu 40 km/h sind möglich. Ganz schön
schnell, wenn man bedenkt, dass der Fah-
rer freihändig unterwegs ist – und auf an-
dere Verkehrsteilnehmer trifft.
Derzeit sind solche Boards die Ausnah-
me auf Straßen, Rad- und Gehwegen.
Auch Monowheels, also Einräder, die mit-
tels E-Motor angetrieben werden, oder
Hoverboards, einachsige Gefährte, mit de-
nen vor allem Kinder herumrollern, sind
selten zu sehen. Sie gelten eher als Spiel-
zeug denn als Fahrzeug. Fachleute des
ADAC und des Auto Club Europa (ACE) er-
warten, dass es so bleibt. Andere aber ge-
hen davon aus, dass mit der Freigabe der
Straßen und Radwege für E-Scooter auch
andere Fahrzeuge aus dem Bereich der
„Mikromobilität“ populärer werden:
Denn kaum einer wisse mehr, sagt Rainer
Wendt, Chef der Deutschen Polizeige-
werkschaft, was nun erlaubt sei und was
verboten. Zumal Baumärkte, Elektrofach-
geschäfte und Händler im Internet die
Kleinstfahrzeuge emsig verkaufen. Oft
nur mit einem Hinweis im Kleingedruck-
ten versehen: ohne Straßenzulassung.
Tatsächlich gibt die von Bundesver-
kehrsminister Andreas Scheuer (CSU) im
Frühjahr auf den Weg gebrachte Elektro-
kleinstfahrzeugeverordnung die Straßen
und Radwege in Deutschland nur für
solche E-Roller frei, die mit einer Lenk-
oder Haltestange, einer Lichtanlage und
Bremsen ausgestattet sind. Und ihr
Höchsttempo muss auf 20 Kilometer pro
Stunde abregelt sein.
Die Bundesländer machten schnell
klar, was sie von Scheuers Zulassungs-
freude halten: gar nichts. Immerhin müss-
te auch jemand die Einhaltung der Ver-
kehrsregeln bei der Mikromobilität über-
wachen. Unfallforscher und der Deutsche
Verkehrssicherheitsrat klagen schon jetzt
über das ungezügelte Verhalten mancher
E-Tretroller-Fahrer. Seitdem hängt die
Verordnung im Stau fest.
Entwickler tüfteln derweil an einer
Kreuzung von Fahrzeugen, um die gesetz-
lichen Vorgaben einzuhalten. Audi kün-
digte eine Art Skateboard mit Lenkstange
an. Denjenigen, die bereits mit einem mo-
torisierten Longboard durch die Grauzo-
ne sausen, wäre eine ordentliche Rege-
lung sicher ganz recht. Allerdings müss-
ten einige sich dann wohl bremsen, denn
mehr als Tempo 20 dürften sie legal auch
nicht fahren. marco völklein
▼
NACHTS
Koalition will Mietpreisbremse verlängern
Union und SPD einigen sich auf härtere Regeln – Bewohner sollen zu viel gezahlte Miete nachträglich zurückfordern können
Briten drohen Lebensmittel-Engpässe
Londoner Ministerienerwarten, dass im Fall eines No-Deal-Brexit auch Medikamente knapp werden.
Mehr als 100 Abgeordnete appellieren an Premier Johnson, sofort das Parlament einzuberufen
Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8,81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, ES (Festland, Balearen), F, GR, I, L, NL, P, SLO, SK: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,90; czk 105; Ft 990
Freihändig ins Getümmel
Motorisierte Skateboards sind deutlich schneller als E-Scooter
Unerschrockener Protest
in Hongkong
DAS WETTER
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MÜNCHNER NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, MONTAG, 19. AUGUST 2019 75. JAHRGANG /34. WOCHE / NR. 190 / 3,00 EURO
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Sensibler Künstler: Philippe Coutinho soll den FC Bayern bereichern Sport
Gewinnzahlen vom Wochenende
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Auswahlwette:13, 16, 21, 23, 25, 29
Zusatzspiel: 33
Spiel 77: 3350693
Super 6:7 3 6 8 8 0 (Ohne Gewähr)
Weitere Gewinnzahlen:
Wirtschaft, Seite 18
Aktionsplan gegen
rechte Gewalt
BKA will Ermittlungen mit mehr
Personal intensivieren
(SZ) Bis heute gibtes einen grundsätzlichen
Konflikt, der jede Gesellschaft in zwei Teile
trennt. Die einen setzen alles daran, Be-
wusstsein zu schaffen, zum Beispiel dafür,
dass es sich nicht nur supergeil anfühlt,
wenn mittlerweile jeder Sommer der hei-
ßeste seit der Aufnahme der Wetterauf-
zeichnungen ist, sondern dass das auch et-
was mit dem Klimawandel zu tun hat und
mit meinem neuen SUV 3.0 mit 300 PS. Die
Wahrnehmung erweitern nennen Psycholo-
gen das, also die Fähigkeit entwickeln, et-
was zu sehen, was man vorher nicht gese-
hen hat. Daran schließt sich die Hoffnung
an, dass ein erweitertes Bewusstsein dafür
sorgt, dass sich Verhalten ändert. Die Mei-
nungen, wie gut das funktioniert, sobald es
darum geht, nicht nur den SUV des Nach-
barn klimaschädlich zu finden, sondern
auch den eigenen, gehen auseinander.
Die andere Fraktion bilden Menschen,
die daran arbeiten, das Bewusstsein abzu-
schaffen, also nicht mehr zu sehen, was ei-
gentlich da ist. Die Verfechter nennen das
„auf das Wesentliche fokussieren“. Biertrin-
ker bevorzugen den Ausdruck „eine kleine
Auszeit nehmen“. Da ja gerade die Bundes-
ligasaison angefangen hat: Es gibt Untersu-
chungen, die dem Zuschauen eines Fußball-
spiels durchaus meditative Wirkung bei-
messen, weil der Betrachter ohne Unterlass
auf eine unverändert und damit beruhigen-
de grüne Fläche schaut, auf der sich Pünkt-
chen hin und her bewegen und meistenteils
ein noch kleineres Pünktchen überallhin,
nur nicht ins Tor schießen. Wenn ein Feier-
abendbier den Betrachter bei seiner derart
fokussierten Wahrnehmung unterstützt,
dürfte die beruhigende Wirkung kaum zu
übertreffen sein.
Abschalten durch Einschalten des Fern-
sehers plus Bier – diese Formel war einer
Brauerei in Amerika offenbar zu simpel.
Stammtische jeder politischen Couleur ver-
suchen ja seit Langem, das Beste zweier
Welten zu vereinen, also mithilfe einer bene-
belten Wahrnehmung die Dinge klarer ins
Augen zu fassen. Die Manhattan Project
Beer Company aus Texas hat jedenfalls ei-
ne ihrer Marken „Bikini-Atoll“ getauft. Der
Stil ist nicht neu; im Angebot gibt es auch
„Plutonium-239“ und „Half-Life“ (Halb-
wertszeit). Das Unternehmen begründet
diese originelle Namensgebung damit, ein
Bewusstsein für die größeren Auswirkun-
gen des US-Nuklearforschungsprogramms
schaffen zu wollen, also mittels Bier das Be-
wusstsein zu erweitern, statt zu verengen.
Ein revolutionärer Ansatz, den Vertreter
der Marshallinseln, wo die USA bis 1958
Atomforschungstests durchführten, nicht
gelungen finden, genauer gesagt: Absolut
inakzeptabel. Das Bikini-Atoll ist bis heute
unbewohnbar. Die Brauerei hat sich schon
entschuldigt, womöglich auch dafür, das
Kunststück fertiggebracht zu haben, ein so
schmackhaftes Getränk wie Bier unter ei-
nem Namen zu verkaufen, der, egal ob nun
mit erweiterter oder verengter Wahrneh-
mung betrachtet, total geschmacklos ist.
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