Ann Curry schreibt über politische Führer,
humanitäre Katastrophen und Krieg. Die Foto
grafin Saumya Khandelwal lebt in Indien.
In der „Betezeit“, wie er
es nennt, meditiert der
Dalai Lama in seinem
Privatquartier. Er be
schreibt das alltägliche
Ritual als eine „analy
tische Meditation“, bei
der er die Gedanken
von negativen Gefüh
len wie Wut weglenke,
um die „liebende Güte”
zu mehren.
anderen dauerten früher bis etwa 17 Uhr, jetzt
sollen sie laut Plan zur Mittagszeit enden. Meist
arbeitet er länger. An manchen Tagen stehen bis
zu tausend Menschen aus aller Welt Schlange
vor seiner Exilresidenz, um ihn zu sehen.
SO WIE HEUTE. Er geht einen abschüssigen Weg
hinab auf eine raunende Menge zu; seine lan-
gen Gewänder, dunkelrot und senffarben,
wehen leicht im Wind. Die Schlange der War-
tenden im Blick, bleibt er kurz stehen und
winkt, wie immer lächelnd. Dann steigt er vor-
sichtig die Stufen zu einem breiten Holzstuhl
hinauf. Einer nach dem anderen tritt vor ihn:
eine weinende Mutter mit Baby im Arm, es ist
behindert. Eine Gruppe von Mönchen möchte
Rat. Eine Frau mittleren Alters bittet ihn um
seinen heilenden Segen – er bläst ihr dazu in
den Mund. Ein älterer Mann kommt auf Krü-
cken herangewankt und berichtet von seinen
Schmerzen. „Wir sind alle geboren, um zu ster-
ben“, sagt der Dalai Lama.
10 000 Tibeter leben heute im Exil, schät-
zungsweise sechs Millionen in ihrer Heimat.
Viele fragen sich, was aus dem Volk wird, wenn
der Dalai Lama stirbt. Das Thema wird offen bei
dem Abendessen in Dharamsala (auch „Klein-
Lhasa“ genannt) diskutiert, zu dem sich jede
Woche Dichter, Forscher, Künstler, tibetische
Politiker und Aktivisten unter Postern von Gan-
dhi und Martin Luther King versammeln.
Autor und Aktivist Tenzin Tsundue spricht
als Erster: „Wir sind seine Kinder. Keine andere
Gemeinschaft hat so einen Anführer gehabt wie
wir.“ Aber es bliebe ein Freiheitskampf. „Wir
müssen mehr tun. Jetzt ist die Reihe an uns.“
Die Runde ist unsicher, ob der Mittelweg des
Dalai Lama noch der richtige ist. Ein Politiker
bezweifelt das offen: ob man die Gewaltfreiheit
fortführen könne – nach all dem, was die Chi-
nesen Tibet angetan haben?
In jedem Fall wäre der Tod Seiner Heiligkeit
eine Katastrophe, sagt Thamthog Rinpoche, Abt
des Namgyal-Klosters, wo der Dalai Lama lebt.
„Einen solchen Anführer gibt es nur einmal.“
Klosterschulleiter Kunga Gyatso sieht das an-
ders. Wenn man ihn brauche, werde der Dalai
Lama zurückkehren. Er „könnte in Nepal, Indien
oder sogar in New York wiedergeboren werden“.
Im Namgyal-Kloster steigt Gesang noch vor
der Sonne hinauf in den Himmel. Etwa hundert
Jungen, manche erst sechs Jahre alt, haben sich
in einem Klassenraum mit riesigen Fenstern
zum Gebet über ihre Bücher gebeugt. Die ersten
Lichtstrahlen dringen über die Berge, in den
Raum hinein, tauchen die Gesichter der Jungen
und das Porträt des Dalai Lama hinter ihnen in
Gold. Die Kinder lernen die alten Gebete aus-
wendig, darunter auch eins, dessen Vortrag
einen ganzen Tag dauern kann. Sie singen mit
einer Stimme: „Möge ich zum Wohle aller füh-
lenden Wesen die Buddhaschaft erlangen.“
ES IST NICHT EINFACH, an eine friedliche und
harmonische Welt zu glauben – wo es heute so
viele Konflikte und Hass auf der Erde gibt. „Ich
glaube, das liegt daran, dass die Machthaber bei
Schwierigkeiten immer noch in die Denkweise
des 20. Jahrhundert verfallen. Sie lösen Proble-
me mit Gewalt.“ Aber, sagt der Dalai Lama, die
Menschen „werden reifer“, die Welt insgesamt
hoffnungsvoller. Dass auch er einen, wenn
„auch nur einen kleinen Beitrag“ dazu geleistet
hat, mache ihn „sehr, sehr glücklich“.
Das solle man aber nicht so verstehen, als stel-
le er dabei seine Person in den Vordergrund.
Jeder solle einfach mithelfen, solange es gehe.
Und er selbst – ist es mit über 80 nicht doch Zeit,
kürzerzutreten?
„Nein, nein, nein, nein, nein“, sagt der Dalai
Lama mit Nachdruck. „Jeden Tag sind meine
Gebete, meine Entschlossenheit, mein Körper,
mein Reden, mein Geist dem Wohle aller füh-
lenden Wesen gewidmet “, sagt er. „Bis zum letz-
ten Atemzug. Und sogar mehr. Solange fühlende
Wesen leiden, solange werde ich da sein. Das ist
mein wichtigstes Gebet.“
Draußen warten Leute auf eine Audienz, dabei
sind die Berge schon hinter dichtem weißen
Nebel verschwunden. Die Mönche flüstern und
schauen besorgt auf die Uhr. Der Dalai Lama
erhebt sich und tritt hinaus in den Regen. Ein
Wagen wird ihn hinauf in sein Privatquartier
etwas höher auf dem Berg bringen. Er winkt zum
Abschied. Und lächelt. N
Aus dem Englischen von Ina Pfitzner
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