National Geographic Germany - 08.2019

(WallPaper) #1

48 NATIONAL GEOGRAPHIC


DIE VORSTELLUNG, DASS ES EINST „reinblü-


tige“ Populationen von Ur-Europäern gab,


die schon zu Zeiten der Wollmammuts auf


diesem Kontinent lebten, nährt seit vie-


len Jahrzehnten weißen Rassismus und


rechtsradikale Ideologien. Desselben Ge-


dankenguts bedienen sich auch die Popu-


listen dieser Tage. Sie schüren Ängste vor


Einwanderern mit der Behauptung, diese


würden die angestammten Europäer und


ihre Kultur verdrängen und vernichten.


Doch wer sind wir Europäer? Woher stam-


men wir? Wissenschaftler liefern jetzt neue


Antworten, die den Ultrarechten nicht ge-


fallen werden. Die Gene der Menschen in


Europa zeigen zwar uralte Abstammungs-


linien auf – aber unsere Vorfahren kamen


nicht aus dem Norden, sondern samt und


sonders aus Afrika, dem Nahen Osten und


der russischen Steppe. Europa ist schon seit


der Eiszeit eine Region der vielen Kulturen


aus verschiedenen Teilen der Welt.


Und dafür gibt es harte Belege. Sie
stammen von archäologischen Ar­
tefakten sowie der Analyse von
Zähnen und Knochen. Die Nach­
weise verdanken wir der Paläo­
genetik. Dank der Fortschritte der
Gentechnik in den vergangenen
Jahren ist es inzwischen möglich,
sogar noch Genome von Menschen
zu sequenzieren, die vor Zehntau­
senden Jahren lebten. Ein gut er­
haltenes Stück Skelett zu analysie­
ren kostet gerade mal 450 Euro.
Das Ergebnis ist eine Explosion
der Datenmenge. Allein 2018 wur­
den die Genome von mehr als tau­
send prähistorischen Menschen
bestimmt. Das Genmaterial stammt
überwiegend aus Knochen, die vor
Jahren ausgegraben und in Museen
und den Laboren archäologischer
Institute aufbewahrt werden.
Die genetischen Informationen
sind verblüffend vollständig: Von
der Haar­ und Augenfarbe bis hin
zur Fähigkeit, Milch zu verdauen,
kann alles aus wenigen Hunderts­
tel Gramm Knochen­ oder Zahnge­
webe bestimmt werden. Die DNA­
Tests liefern überdies Hinweise auf
Identität und Herkunft der Euro­
päer – und damit auch auf prähis­
torische Völkerwanderungen.
Die Vorstellung einer europäi­
schen Genreinheit erweist sich
als pure Fiktion: Den Ergebnis­
sen nach prägten drei große Mi­
gra tionswellen die europäische
Ur­Geschichte. Die Einwanderer
brachten Kunst und Musik, Acker­
bau und Städte, domestizierte Pfer­
de und das Rad in unsere Region.
Aus ihrem Einfluss entsprangen
die indoeuropäischen Sprachen –
aber die Zuwanderer hatten wohl
auch die Pest und mit ihr Tod und
Verderben im Gepäck. Die letzten
Beiträge zur genetischen Melange
Europas kamen zu der Zeit, als
Stonehenge errichtet wurde: Men­
schen aus Russlands Steppe steu­
erten vor fast 5 000 Jahren die neu­
esten Gene bei.

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