National Geographic Germany - 08.2019

(WallPaper) #1

52 NATIONAL GEOGRAPHIC


In Zeiten erhitzter Debatten um Migration

und Grenzen zeigt die Wissenschaft, dass ganz


Europa das Werk von Immigranten ist – und


nicht etwa von nordischen „Supervölkern“. „Die


Menschen, die heute in Europa leben, sind kei-


nesfalls Nachfahren von Menschen, die dort in


frühgeschichtlicher Zeit siedelten“, sagt David


Reich, Paläontologe an der Harvard-Universität.


A


lle Völker außerhalb Afrikas stam-
men von Vorfahren ab, die den
Kontinent vor mehr als 60 000 Jah-
ren verließen. Das belegten DNA-
Untersuchungen schon vor drei

Jahrzehnten. Wir haben alle denselben Stamm-


baum und eine urzeitliche Migrationsgeschich-


te. Vor rund 45 000 Jahren gelangten diese ers-


ten modernen Menschen über den Nahen Osten


nach Europa. Die DNA deutet darauf hin, dass


sie dunkle Haut und helle Augen hatten.


Europa war damals ein unwirtlicher Ort. Kilo-

meterdicke Gletscher bedeckten Teile des Kon-


tinents. Wo es warm genug war, gab es Tiere.


Auch Menschen lebten schon dort: die Neander-


taler, deren Vorfahren vor Hunderttausenden


Jahren ebenfalls aus Afrika ausgewandert


waren. Sie hatten sich bereits den kalten, rauen


Bedingungen angepasst.


Die ersten modernen Europäer lebten als

Jäger und Sammler in kleinen nomadischen


Verbänden. Noch herrschte die Eiszeit. Die


neuen Einwanderer harrten im eisfreien Süden


aus und gewöhnten sich allmählich an das kalte


Klima. Vor rund 27 000 Jahren gab es Schätzun-


gen zufolge wohl nur tausend von ihnen. Sie


lebten von großen Tieren wie Mammuts, Pfer-


den, Rentieren und Auerochsen, den Vorfahren


unserer heutigen Rinder.


In den Höhlen, in denen sie Schutz suchten,

hinterließen sie spektakuläre Malereien und


Felsritzungen ihrer Beute. Langsam arbeiteten


sie sich vom Schwarzen Meer aus entlang der


Donau und der Mittelmeerküste bis nach Mittel-


und Westeuropa vor.


Ihre DNA zeigt, dass sie sich mit den Nean-
dertalern mischten, die im Laufe der folgenden
5 000 Jahre als eigene Art verschwanden. Doch
noch immer bestehen zwei Prozent des Genoms
eines typischen Europäers aus Neandertaler-
DNA. Afrikaner haben diesen Anteil nicht.
Vor 14 500 Jahren, als das Klima in Europa
milder wurde, folgen die Menschen den zurück-
weichenden Gletschern immer weiter nach
Norden. Sie entwickelten ausgeklügelte Stein-
werkzeuge und siedelten sich in kleinen Dör-
fern an; Archäologen nennen diese Periode
Meso lithikum oder Mittelsteinzeit. Eine solche
Siedlung fanden serbische Archäologen in den
1960er-Jahren zwischen steilen Klippen einer
Donaubiegung, in der Nähe einer der schmals-
ten Stellen des Flusses. Sie nannten das mittel-
steinzeitliche Fischerdorf Lepenski Vir. Die
Ausgrabungsstätte liegt heute unter einem
Schutzdach über der Donau; Skulpturen glotz-
äugiger Flussgötter wachen über die alten Feuer-
stellen. Lepenski Vir war eine gut organisierte

Siedlung, die vor etwa 9 000 Jahren bis zu hun-
dert Menschen umfasste „Der Speiseplan der
Bewohner bestand zu 70 Prozent aus Fisch“,
sagt der Grabungsleiter Vladimir Nojkovic. „Sie
lebten hier fast 2 000 Jahre lang. Dann änderte
sich vieles.“

D


ie Konya-Ebene in Zentralanato-
lien ist der Brotkorb der heuti-
gen Türkei, eine sehr fruchtbare
Re gion. Seit den ersten Tagen
des Ackerbaus leben hier Bauern,
weiß der Archäologe Douglas Baird von der
Universität von Liverpool. Er hat sich mehr als
zehn Jahre lang mit der Erforschung der früh-
zeitlichen Dorfs Boncuklu beschäftigt. An die-
sem Ort begannen Menschen damit, auf kleinen
Landstücken Emmer und Einkorn anzubauen,
Ur-Formen des Weizens. Sie hielten zudem
wahrscheinlich kleine Schaf- und Ziegenher-
den. Das alles geschah kurz vor Beginn der Jung-
steinzeit.

Die ersten Europäer waren Neandertaler. Dann kamen Jäger


und Sammler aus Afrika und anatolische Bauern.


(Weiter auf Seite 58)
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