Der Fotograf Turjoy Chowdhury lief gerade durch das
Camp, als er ein klagendes Weinen hörte. Neugierig
geworden, ging er in eine kleine Hütte. Was er sah,
verwirrte ihn: die Szene vor ihm, die Umstände. „Als
ich in diese unschuldigen Augen blickte, dachte ich
nur: Was zur Hölle passiert hier eigentlich?“
Das weinende Baby lag in einer gespendeten roten
Decke. Es war gerade einen Tag alt und besaß noch
keinen Namen. Kurz vor der Geburt des Mädchens
hatten seine Eltern sich dem Strom der Rohingyas
angeschlossen, die vor der Verfolgung in Myanmar
flohen. Sie waren in Kutupalong-Balukhali gelandet,
dem größten Flüchtlingslager der Welt: im Distrikt
Cox’s Bazar im südöstlichen Bangladesch.
Die Rohingya-Kinder, die hier jeden Tag geboren
werden, beginnen ihr Leben mit ungeklärtem Status.
Sie gelten weder als Bangladescher noch als Myan-
mare. Weil keines der beiden Länder ihnen eine Staats-
bürgerschaft anbieten will, sind die Kinder staatenlos.
Seit Jahrzehnten werden die Rohingya, die meisten
von ihnen Muslime, im hauptsächlich buddhistischen
Myanmar als Ausländer betrachtet – obwohl ihre Eth-
nie wohl schon seit dem 15. Jahrhundert dort lebt. Im
August 2017 attackierten einige militante Rohingya
eine Polizeistation – die myanmarische Regierung ant-
wortete mit Gewalt gegen die gesamte Bevölkerungs-
gruppe. Seither sind gut 900 000
von einer Million Rohingya Myan-
mars nach Bangladesch geflohen.
Doch das Land erkennt sie nicht
als Flüchtlinge an. Deshalb ist ihre
Bewegungsfreiheit eingeschränkt,
sie haben kein Recht auf Bildung
und keinen Zugang zum öffent-
lichen Versorgungswesen, sie kön-
nen auch nicht die Staatsbürger-
schaft erlangen. Im November 2017
schlossen Myanmar und Bangla-
desch ein Rückführungsabkom-
men, um die freiwillige Rückkehr
zu erleichtern. Doch bis heute sei
die Lage in Myanmar zu gefährlich,
warnen Menschenrechtsgruppen.
Mehr als 30 000 der halben Mil-
lion Kinder in Cox’s Bazar sind
kaum ein Jahr alt, meldet das
UN-Flüchtlingswerk. „Die Staaten-
losigkeit der Kinder macht ihre
Zukunft ungewiss“, sagt Unicef-
Sprecherin Karen Reidy. Wahr-
scheinlich bleibt ihnen der Zugang
zu Schulbildung und damit zu qua-
lifizierten Jobs verwehrt. „Ein Kind
ohne Nationalität erwartet womög-
lich lebenslange Diskriminierung.“
Laut UN sind weltweit mindes-
tens zehn Millionen Menschen
staatenlos. Die Zahl könnte in den
kommenden Jahren noch steigen,
denn überall auf der Welt nimmt
Fremdenfeindlichkeit zu, sagt Amal
de Chickera vom Institute on State-
lessness and Inclusion.
Mit seinem Projekt „Born Refu-
gee“ („als Flüchtling geboren“) do-
kumentiert der Fotograf Chowd-
hury die ersten Tage dieser Kinder
auf der Welt. Um sie zu finden,
fragt er auf den überfüllten Straßen
des Flüchtlingscamps herum. „Die
Menschen begreifen sofort, dass ich
etwas Wichtiges tue“, sagt er. Für
Chowdhury repräsentiert jedes
Kind die Folgen des Konflikts und
der ethnischen Diskriminierung.
„Ich denke oft an ‚Imagine‘, den
Song von John Lennon“, sagt er.
„Eine grenzenlose Welt – darum
geht es in meinem Projekt.“ j
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