P.M. History - 08.2019

(Tina Meador) #1

Nacht aus der brennenden Stadt. Auf
Gemüsekarren, versteckt unter Apfelsi­
nen. Er wird seinen Kunden schon Tage
später Kredite für den Wiederaufbau
gewähren. Die Konkurrenz muss war­
ten, bis ihre Safes abgekühlt sind. Aus
Gianninis "Bank of Italy" geht 20 Jahre
später die "Bank of America" hervor.
Zupacken, weitermachen: Typisch
kalifornisch? Nein, meint der Psycholo­
ge William James. "Ich möchte glauben,
dass wir es hier mit einer universellen
menschlichen Eigenart zu tun haben."
Stundenlang wandert er am Tag der
Katastrophe durch die Straßen, um das
Verhalten der Menschen zu studieren.
"Ich hörte kein jämmerliches, kein sen­
timentales Wort", notiert er. Am Ort des
Unglücks trete eine "gesunde, animali­
sche Unempfindlichkeit und Hemdsär­
meligkeit" in den Vordergrund. So wie
bei den Mitarbeitern der Post, die zwei
Tage nach dem Beben (als Teile der
Stadt noch brennen) wieder Briefe ein­
sammeln. Sie befördern jedes Schrift­
stück. Egal ob es auf einer herausge­
rissenen Buchseite, einem Stück Holz


KRISENMANAGER Bürgermeis-
ter Eugene Schmitz inspiziert die
Arbeiten in der Stadtper Automobil

oder auf dem Stoff eines abgetrennten
Hemdkragens geschrieben ist.
Die wichtigste Schlacht müssen
die Helfer am Freitag auf der Van Ness
Avenue im Westen der City bestehen.
Diese Transversale, so hatten die Feu­
erwehrleute gehofft, sei breit genug,
die Flammen aufzuhalten. Doch Ost­
wind treibt die Flammen immer wei­
ter in die Richtung der vermeintlichen
Barriere. Gegen vier Uhr nachmittags
springen sie von zwei brennenden Kir­
chen, deren Fronten besonders viel
Hitze abstrahlen, auf die Westseite der
Van Ness Avenue über. Das Militär gibt

nicht auf. Pferde ziehen Artilleriekano­
nen auf die Straße, mit denen Häuser
aus nächster Distanz zusammenge­
schossen werden. Als der erfahrenste
Schütze sich verbrennt und nicht mehr
gehen kann, tragen ihn seine Kollegen
von Gebäude zu Gebäude, setzen ihn
auf den Sitz des Kanoniers. Dann öff­
net er seine versengten Augenlider und
feuert, bis ein Haus in sich zusammen­
fällt. Die Armeeführung behauptet spä­
ter, es sei solcher Opferbereitschaft zu
verdanken, dass das Feuer in der Nacht
zum Samstag zurückgedrängt worden
sei. Andere sagen, es sei der Nordwest­
wind gewesen.

D


rei Tage nach dem Beben ist das
Feuer gestoppt. Das junge Jahr­
hundert hat seine erste Zäsur.
Jetzt kommt die Analyse: Nur zehn Pro­
zent der Schäden gehen unmittelbar
auf das Erdbeben zurück, das Feuer war
viel schlimmer. Stadtplaner erkennen,
dass Häuser, die auf aufgeschüttetem
Boden errichtet waren, als Erste in sich
zusammengefallen sind. Die Bürger von
San Francisco ordnen ihre Leben neu.
Im April und Mai 1906 beurkunden die
Standesbeamten so viele Hochzeiten
wie nie zuvor. Bürgermeister Schmitz
leitet den Wiederaufbau. Dabei zählt
nur die Geschwindigkeit -Städte wie
Portland oder Los Angeles könnten die
Schwäche ihres Konkurrenten um den
ersten Rang im Westen ausnutzen.
Vom Erdbeben mag das offizielle
San Francisco bald kaum noch spre­
chen. Investoren sollen die Stadt nicht
mit Risiken in Verbindung bringen.
Der Bericht des Committee on History
wird nie veröffentlicht: 3000 Zeitzeu­
genberichte und die Sammlung von
36 000 Zeitungsartikeln über die Ereig­
nisse sind verschollen: fast zwei Tonnen
Papier mit Erinnerungen an die zu ihrer
Zeit wohl bestdokumentierte Naturka­
tastrophe der Welt. Nicht verbrannt,
nicht verschüttet: nur vergessen. •

Jens Sehröder stützte sich bei
dieser Rekonstruktion unter
anderem auf Philip L. Fradkins
starkes Buch .Great Earth­
quake and Firestorms of 1906".

P.M. HISTORY -AUGUST 2019 23
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