er Mann, der die We lt neu sortiert, ist kein
Weltmann. Gottfried Wilhelm Leibniz
ist Beamter der drittletzten Stufe, Gehei
mer Justizrat im Dienst des Herrschers
von Hannover; ein blasser, leicht unbe
holfener, schnell verlegener Einzelgänger.
Er hat keine Frau und keine engeren Freunde, und
die Mahlzeiten, die er sich aus dem Gasthaus kommen
lässt, verzehrt er meist allein auf seinem Zimmer. Seine
Seinune ist hoch und dünn, sein Blick
kurzsichtig, seine Füße und Finger
zu lang für seinen Geschmack. Und
sein gesamter Leib scheint nicht zur
Bewegung gemacht.
Doch dieser einsame Mann
steht mit ganz Europa in Ve rbin
dung. Er hat Audienzen bei Fürsten,
bei zwei deutschen Kaisern und dem
russischen Zaren. Er schreibt mehr
als 15 000 Briefe, korrespondiert mit
1100 Partnern in 16 Ländern. In die
sem unablässigen Austausch bewegt
er seine Gedanken und hält sie zu
gleich fest - gedruckte Bücher ver
öffentlicht er zu Lebzeiten kaum.
Sein We rk ist das Netzwerk.
In einer Zeit der wissenschaft
lichen Explosion, in der die Kennt
nisse in unerhörtem Maß anwachsen,
ist Leibniz der wohlletzte Univer
salgelehrte - der "intelligenteste
Mensch seiner Epoche", wie ihn ein
Biograf rühmen wird.
Er verschwendet sich als Doktor
der Rechte, als Philosoph und For
scher, als Mathematiker und Erfin
der. Er arbeitet als Te chniker, Physi-
ker, Historiker und Bibliothekar. Er wirkt als Diplomat,
als Sprachwissenschaftler und als Theologe. Denn nur
wer sich überall auskennt, kann das Entlegenste mitein
ander verknüpfen: "We r nur an einer Sache arbeitet", weiß
er, "entdeckt selten etwas Neues:'
So findet er, was seine Zeitgenossen nicht einmal
suchen. Er entwickelt Theorien zu Archäologie und
Sprachgeschichte, aber auch eine Vo rform des Dübels und
einen gefederten Sitz für lange Kutschfahrten - sowie
eine revolutionäre mechanische Rechenmaschine mit
Staffelwalze und Zahnrad (die zwar vorerst nur vorüber
gehend funktioniert, deren Bauprinzip sich jedoch fast
300 Jahre nach seinem To d als fehlerfrei erweisen wird).
Zudem fo rmuliert er die "Dyadik", die sämtliche
Zahlen mit den Ziffe rn 1 und 0 ausdrückt, und legt so
die Grundlagen für die digitale Rechenweise des Com
puters. Er entdeckt auch eine Methode zur Beschreibung
von Kurven, die als Infinitesimalrechnung die Mathema
tik umwälzen wird und ohne die weder moderne Moto
ren denkbar wären noch Flugzeuge oder das Smartphone.
Doch eigentlich geht es Leibniz immer und immer
wieder vor allem um eines: die Harmonie. Denn "Glück",
schreibt er, beruhe auf "höchstmöglicher Harmonie".
Und weil Harmonie, so seine Definition, "die Vo ll
kommenheit des Denkbaren" sei, führten nur das Denken
und das Wissen zuverlässig zu diesem Ziel - zur "Har
monie des Geistes" und schließlich zur Erkenntnis jener
"Universalharmonie", die in Gottes Schöpfung wirke.
ES LÄSST SICH KAUM eine unharmonischere Zeit den
ken als jene Epoche, in die der kleine Gottfried Wilhelm
hineingeraten ist, kurz vor Ende des Dreißigjährigen
Kriegs.
1642, vier Jahre bevor er in Leipzig geboren wird,
nehmen wieder einmal die Schweden nach langer Bela
gerung die Stadt ein, die in diesem Krieg schon ein Fünftel
ihrer Einwohner verloren hat. Erst 1650 ziehen die letzten
Besatzungstruppen ab. Und noch viele Jahre später plün
dern Räuberbanden die Häuser, vermerken die Chronis
ten in Leipzigs Straßen "besondere Bettelbedrängnis".
Und weil die Harmonie seiner Ansicht nach nur
durch das Denken entstehen kann, schafft Leibniz sie in
seinem Kopf: Mit den We rkzeugen der Logik will er diese
verrückt gewordene Zeit in die Bahn bringen.
Schon vor der Einschulung mag das Professorenkind
lieber lesen als spielen, unterhält sich besser mit Büchern
als mit gleichaltrigen Freunden. Und dass sein Vater stirbt,
als er sechs ist, sieht er im Rückblick nicht als Tr auma,
sondern als Chance: Nur so kann er ohne elterliche Vor
gaben lernen, was ihm gefällt, und "auf viele Dinge kom
men, an die ich sonst nimmermehr gedacht hätte".
Mit acht Jahren besucht er nicht nur die Grund
schule, sondern wälzt nebenbei den altrömischen Histo
riker Livius - und erschließt sich die lateinische Sprache
ohne Wörterbuch, nur anhand der Holzschnitt-Abbil
dungen, mit denen die Bücher verziert sind. Mit neun
stürzt er sich auf die Kirchenväter, die Logik des Aristo
teles und die Metaphysik der Scholastik.
Mit zwölf denkt er erstmals über eine "Art Alphabet
der menschlichen Gedanken" nach: ein Arsenal aus klar
definierten, als Zeichen darstellbaren Grundbegriffen,
die sich eindeutig und nachvollziehbar zu gedanklichen
Urteilen kombinieren lassen. Auch als er mit 17 das Stu-
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