16�6-1716 1 Gottfried Wilhelm Leibniz
Um Geld zu verdienen, verfasst Leibniz juristische
Gutachten. Und dient sich 1673 sogar, mit einer Spott
schrift auf Ludwig XIV., dem Kaiser in Wien für einen
Posten als Hofsatiriker an. Doch ein Beamter richtet ihm
aus, Majestät beschäftige bereits einen spaßigen Biblio
thekar, es bestehe kein weiterer Bedarf.
1676 nimmt er das Angebot des Herzogs Johann
Friedrich von Braunschweig-Lüneburg an, in der Residenz
Hannover als Rechtsbeistand und Bibliothekar zu dienen
- allerdings erst nach langem Zögern, denn Hannover ist
tiefe Provinz: ein Nest mit kaum 10 000 Einwohnern,
erst 40 Jahre zuvor zur fürstlichen Residenz avanciert.
Nur allmählich blüht auch hier jene barocke Pracht
auf, die andere Höfe längst beglänzt. Noch immer säumen
Fachwerkhäuser die oft ungepflasterten Straßen, und statt
in einem Prunkbau residiert der Herzog in einem umge
bauten Kloster.
Johann Friedrich ist ein rachsüchtiger, auf den ersten
Blick wenig einnehmender Mensch. Selbst seine Mutter
fi ndet ihn hässlich, "abscheulich dick, dabei viel kürzer
als die anderen". Sechs Lakaien tragen ihn in der Sänfte
umher, und zur Jagd muss man ihn stützen. Auch ein
Mann des Geistes ist er nicht: Viel mehr als die Bücher
interessiert ihn seine kostspielige Armee.
Leibniz, den Intellektuellen, hält sich der Fürst eher
zu seinem Amüsement. Er bringt ihn in einer Kammer
der Bibliothek unter, im Modergeruch alter Schwarten.
Der Gelehrte fürchtet zunächst, er sei zu einer wah
ren "Sisyphusarbeit der Gerichtsgeschäfte" verdammt,
doch tatsächlich lässtJohann Friedrich ihm reichlich Zeit,
seinen mathematischen, naturwissenschaftlichen und
philosophischen Grillen zu folgen.
anchmal darf er dem Herzog auch sei
ne Ideen vortragen. Dann begibt sich
Leibniz zum "Audienzbett", in dem
Johann Friedrich ab acht Uhr morgens
seine Tage verbringt, und präsentiert
ihm Entwürfe fü r Ve rschlüsselungsmaschinen, Pläne zur
Mechanisierung der Seidenproduktion, zur Verwaltungs
reform, zu Ackerbau und Manufakturwesen. Unterbrei
tet ihm ein gigantisches Programm zur Datensammlung,
schlägt Mikrokredite für Arme vor, Ve rsicherungen gegen
Flut und Feuer und für Hinterbliebene.
"Mein Guter", ächzt der Fürst dann, "mein Beson
derer" und bietet jovial eine Tasse Schokolade an. Doch
von den Plänen will er meist nichts wissen.
Nur der Vorschlag seines Hofgelehrten, die Berg
werke im Harz, Deutschlands größter Industrielandschaft,
mit Windkraft zu entwässern, stößt bei Johann Friedrich
MULTI PLI KATIONEN
und Divisionen vollzieht
die Konstruktion durch
vom Zählrad dokumen
tierte, fortlaufende
Additionen beziehungs
weise Subtraktionen -
so wie auch moderne
Computer
auflnteresse. Doch die Leibniz'schen Windmühlen sind
zu schwach, und auch Wind und We tter nicht verlässlich
auf seiner Seite. Zudem sabotiert das Bergamt den wun
derlichen �ereinsteiger, der sich kaum unter Tage wagt,
"wo ich mich selbst nicht sehen könnte". Schließlich muss
der Autodidakt auch diese Pläne aufgeben.
Als Johann Friedrich 1680 stirbt und dessen Bruder
Ernst August in Hannover das Regiment übernimmt,
verschlechtert sich die Stellung des Gelehrten noch wei
ter. Der neue Fürst kürzt Leibniz den Etat für die Biblio
thek von 1500 auf nicht einmal100 Ta ler pro Jahr. Dafür
spannt er ihn als PR-Manager ein, lässt ihn Erbansprüche
legitimieren und Glückwunschgedichte verfassen. Und
erteilt ihm den Auftrag, eine umfassende Geschichte des
We lfenhauses zu erstellen, dem der Herzog angehört.
Immerhin darf der Forscher fü r diese Arbeit reisen.
Auf der Suche nach den Wurzeln seines Chefs durch
kämmt er Süddeutschland und Österreich, durchquert
Italien bis nach Rom und Neapel. Und es gelingt ihm
sogar, in Wien eine Audienz bei Kaiser Leopold I. zu
erhaschen, ihm Pläne zur Münzreform vorzulegen, zur
Finanzierung der Tü rken kriege, zum Aufbau eines Reichs
archivs. Doch der Kaiser nickt nur gnädig- und wendet
sich anderen Dingen zu.
DERWEIL GREIFEN DIE BESCHRÄNKUNGEN am hanno
verschen Hof immer massiver auch seinen Körper an.
Manchmal spürt Leibniz plötzlich "Frost und darauf
Hitze", dann wieder ein "Grimmen" im Bauch.
Die Ärzte raten ihm, weniger zu denken - Leibniz
aber weiß selbst am besten, was ihm fehlt: "Alles was mich
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