genössischer Schriftsteller sieht im wuchernden Wien
auch daher einen "Schlund, der alle verschlingt".
Vor allem die Überlebenschancen kleiner Kinder
sind noch schlechter als in anderen europäischen Städten.
Mehr als 50 Prozent der Neugeborenen erleben den ers
ten Geburtstag nicht, weil in den Geburts-und Kranken
häusern katastrophale hygienische Ve rhältnisse herrschen,
Säuglinge von ihren Eltern schlecht versorgt oder unter
ernährt werden - oder weil sie ungewollt sind.
Schätzungen gehen davon aus, dass jedes zehnte Baby
in den Vorstädten unehelich zur We lt kommt - im
katholischen Wien eine ungeheure Schande. Und
so legt manche ledige Mutter ihr Kleines ein
fa ch vor einer Kirche, vor Wohngebäuden
oder einem Findelhaus ab. Andere Frauen
gebären unter erbärmlichen Bedingungen
in Spitälern, von wo aus die Kinder in
Pflegefamilien vermittelt werden.
Doch trotz der Enge, trotz aller ge
sundheitlichen Gefahren strömen unent
wegt Menschen aus anderen Teilen des
Habsburgerreiches nach Wien. Sie suchen
dort Abenteuer und Auskommen, das ihnen
1736 I Wien
Hof- und bisweilen sogar die Bedürftigen. Denn die
Hochwohlgeborenen geben sich gern betont mildtätig.
Auch die Kaiserfamilie beschenkt immer wieder
eigens ausgewählte Waisenkinder. Am Gründonnersrag
lädt sie gar je zwölf alte Männer und Frauen ein, um
ihnen - in der Nachfolge Jesu Christi - symbolisch die
Füße zu waschen und sie zu bedienen.
Sonst aber haben Untertanen niederen Standes kaum
Gelegenheit, den Herrschern nahezukommen. Wü nsche
und Anliegen an den Thron haben sie gewöhnlich schrift
lich vorzutragen - was viele Menschen mangels Bil
dung gar nicht tun können.
Gelingt es ihnen doch, ist keinesfalls klar,
ob die Bittschriften den Regenren erreichen
oder gar bearbeitet und die notierten Wü n
sche erfüllt werden.
Maria Theresia hält das niedere Volk
ohnehin lieber auf Distanz. In ihren Au
gen sind die meisten Untertanen faul.
30 "Bettlerfänger" sind in Wien unter-
das oft eintönige Dasein auf dem Land nicht bieten
kann, vielleicht aber die Hauptstadt mit der Residenz
des Kaisers.
FRANZ STEPHAN,
wegs, um alljene Menschen aufzusammeln,
die andere um Geld bitten, ohne wirklich
arbeitsunfähig zu sein. In einem Zuchthaus im
Vo rort Leopoldstadt sollen die angeblichen Schma
rotzer dann zu Fleiß erzogen werden.
Maria Theresias Auch ein derart drakonisches Vo rgehen aber
schreckt offenbar kaum jemanden davon ab, nach
Wien zu kommen, um dort zu leben. Neben der Aus
sicht auf Arbeit lockt die Menschen vor allem ein
reich gedeckter Tisch. Denn so elend die hygieni
schen Ve rhältnisse in etlichen Vorstädten auch sein
mögen, so sind die Menschen, selbst viele ärmere,
Denn so verschlossen die Hofburg auch sein
mag, so leben von ihr doch weitaus mehr als jene
2000 Menschen, die direkt dort Dienst tun.
Mann, stammt aus
eher unbedeuten-
dem Hause - eine
seltene Liebes-
DIE GIER DES ADELS nach Pomp und Pracht gibt
vielen in der Stadt Arbeit- auch weil jeder, der nach
oben will, den höfischen Lebensstil zu kopieren ver
sucht. Die Nachfrage nach luxuriösen Kleidern ist
auch unter den Bürgern erheblich (ein lediger Mann
heirat in Zeiten
des Mittelstandes gibt in der zweiten Hälfte des 18. Jahr
hunderts knapp 40 Prozent des Haushaltsbudgets fü r
seine Garderobe aus, schätzt ein Zeitgenosse). Daher
florieren Gewerbe wie die Seidenindustrie und Baum
wollweberei.
Im Jahr der Hochzeit zählt man in Wien nicht
weniger als 1646 Schneider und 1874 Schuster.
Viele Adelige machen erhebliche Schulden, um sich
die Galakleider leisten zu können. Die Damen tragen
während ihrer höfischen Auftritte stets ein kleines Säck
chen bei sich, in dem sie die losen Goldfäden ihrer Ge
wänder sammeln, um sie später wieder zu Geld fü r neuen
Luxus zu machen.
Auch viele Dienstboten, Winzer und Bauern bestrei
ten ihren Lebensunterhalt mehr oder minder durch den
arrangierter
Beziehungen erstaunlich gut zumindest mit Grundnahrungsmit
teln versorgt. Das Angebot an Waren jeder Art ist
wohl auch wegen der günstigen Lage Wiens üppig-
und die Preise sind entsprechend niedrig.
Die meisten Lebensmittel stammen aus den verschie
denen Te ilen des habsburgischen Herrschaftsgebiets, das
groß, fruchtbar und vielfältig ist.
Und so kommen aus anderen Regionen Österreichs
Wein, Kälber, Salz, Obst und Geflügel in die Residenz
stadt, aus Ungarn Fleisch von Ochsen, Schweinen und
Schafen sowie Wildbret in rauen Mengen. Böhmen und
Mähren liefern Fasane, Fische, Eier und Getreide. All
diese Wa ren werden auf den verschiedenen Wien er Märk
ten vertrieben, die sich über die Stadt verteilen.
Die Bauern aus dem Umland bieten dreimal wö
chentlich auf dem Hohen Markt - einem lang gestreck
ten Platz, gut 500 Meter nordöstlich der Hofburg- ihre
Erzeugnisse an. Gleich nach Sonnenaufgang rumpeln
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