1701 1-1710 1 Pestepidemie in Preußen
Bewaffn ete Männer kommen im
Juli 1708 ins preußische Grenz
dorfSchwirwindt südöstlich von
Tilsit. Sie zerhauen die Brücke, die
über einen Fluss ins benachbarte
Königreich Polen-Litauen führt.
Die Straße zur Grenze blockieren
sie mit einem Schlagbaum, errich
ten Sperren aus Lattenzäunen.
Nebenwege durch die Wälder
bearbeiten sie mit Schaufeln, bis
der letzte Pfad unbegehbar ist.
Die Männer handeln auf
Befehl des preußischen Königs
Friedrich I.: Niemand darf mehr
ins Land reisen, gleichgültig ob
arm oder reich. Jeder, der uner
laubt die Grenze passiert, ist "ohne
Gnade und Pardon" aufzuhängen.
Briefe aus Polen oder Litauen
müssen ungelesen verbrannt,
selbst kostbare Kleider und
Wolle in die Flammen gewor-
fen werden.
Mit der Blockade will
Berlin eine Seuche stoppen, die
TEXT:
Martin
Pfo./fenzeller
Hunger
bei Erkrankten Fieber, Glie bereitet
derschmerzen und schwarze
Beulen hervorruft. Eine Epi
demie, die kein Heilmittel
kennt und die meisten Infi
zierten innerhalb von Tagen
dahinrafft : die Pest.
der
Die Seuche wütet bereits
knapp 140 Kilometer entfernt
von der Grenze zu Polen in
Wa rschau, wo sie zahlreiche
Opfer gefordert hat. Von dort,
so heißt es in Berichten, rückt
SEUCHE
den Weg
sie nach Norden vor, immer näher
an Preußen heran.
Doch der Befehl zur Grenz
schließung klingt rigoroser, als
er umgesetzt wird: Viele Fischer,
Bauern und Imker in Grenzorten
erhalten Sondergenehmigungen
und dürfen weiterhin nach Polen
reisen. Zudem fe hlt eine Armee,
um die Grenze zu überwachen.
Die Miliz, eine Hilfstruppe
aus schlecht bewaffneten Bauern,
zerstört zwar vielerorts Brücken,
versenkt Fähren und errichtet
Straßensperren. Doch für eine
dauerhafte Grenzschließung hat
sie nur wenige und zum Teil
unfähige Männer; manche ver
schwinden von ihren Posten, um
zu zechen, andere lassen Reisende
gegen Schmiergeld passieren.
Im August 1708 schließlich
wandern polnische Wa llfahrer
über die Grenze ins preußische
DorfBialutten -ob heimlich, mit
Sondererlaubnis oder gegen Be
stechung, ist nicht überliefert.
Kurz darauf schwitzen die
ersten Dorfbewohner bei hohem
Fieber. Aufihrer Haut bilden sich
dunkle Flecken und Beulen.
Ende des Monats lassen sich
die Zeichen nicht mehr leug
nen: Die Pest ist im Land.
Es ist kein Zufall, dass
sie gerade hier ausbricht. In
kaum einem anderen deutsch
sprachigen Gebiet herrschen
Anfang des 18. Jahrhunderts
so elende Bedingungen wie
in Preußen, jenem Landstrich
im äußersten Nordosten der
deutschen Lande.
Die große Mehrheit der
Einwohner lebt seit Jahrzehn
ten in Hunger, Armut und
Dreck. Dieses Elend ist der
Preis, den die Menschen für
Pracht und Glanz ihrer Herr
scher zahlen müssen. Viele
sind zu schwach, um der Seuche
zu widerstehen. Und so beginnt
eine der größten Katastrophen in
der deutschen Geschichte.
UM 1700 IST PREUSSEN ein zu
rückgebliebenes Fürstentum, das
sich über 200 Kilometer am
südöstlichen Rand der Ostsee
erstreckt. Es liegt außerhalb des
römisch-deutschen Reiches, ge
hört politisch jedoch seit gut
acht Jahrzehnten zum Staat der
Hohenzollern - jener Dynastie,
die von Berlin aus über Preußen,
Brandenburg sowie weitere Regio
nen unter anderem an Rhein und
Weser gebietet. (Erst allmählich
wird man das gesamte Hohenzol
lern-Gebiet "Preußen" nennen -
und das einstige Herzogtum die
ses Namens "Ostpreußen".)
Bereits seit dem Mittelalter
steht die Region an der Ostsee
unter deutscher Herrschaft. Die
christlichen Ritter des Deutschen
Ordens haben dort 1226 einen
Staat errichtet, um die einheimi
schen Heiden zu unterwerfen (dar
unter den Stamm der Prußen). Sie
gründeten Städte wie Königsberg
und lockten Siedler aus dem Hei
ligen Römischen Reich ins Land.
Doch im 15. Jahrhundert un
terlagen die Ritter den Armeen
der Nachbarreiche Polen und
Litauen. Der bedrängte Ordens
staat wurde 1525 in ein weltliches
Fürstentum umgewandelt: Der
damalige Hochmeister der Deut
schritter, Abkömmling einer Ne
benlinie der Hohenzollern, erhielt
den erblichen Titel eines Herzogs.
Sein Sohn starb 1618 ohne
männliche Nachkommen, und so
fiel die Herrschaft an einen ent
fe rnten Ve rwandten - Johann
Sigismund, Kurfürst von Bran
denburg, der die beiden Reiche zu
einem neuen, vereinten Hohen-