Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

44 SPORT Samstag, 3. August 2019


Vor 40Jahrenkam es amFastnet Racezur Katastrophe –


heute ist die Regattapopulärer dennje SEITE 42


Vor zwei Jahrenhat Frédéric Va sseurmit dem Umbau des


Sauber-Rennstalls begonnen– eineZwischenbilanz SEITE 43


«Wir entziehen uns ständig die Liebe»

BarthélémyConstantin ist blutjung und Sportchef im FCSion – oder doch nur der Sohn des allmächtigen Präsidenten? Im Gespräch mit


Samuel Burgener erzählt er vonder Amour fou zu seinemVater, vonder Champions League und vomPreis, den er für seinLeben bezahlt


Barthélémy Constantin,Sie sind erst 24
Jahre alt, aber seit viereinhalbJahren
Sportchef im FC Sion.Das ist krass.
Ich startete im Dezember 2014. Es war
eine schwierige Zeit.Wir warenTabel-
lenletzter. Ich warTeammanager und
Junge für alles.Dann sagte meinVater:
«Du wirst Sportchef, arrangiere dich.» In
derWinterpauseverpflichteten wirReto
Ziegler ,Veroljub Salatic, Elsad Zverotic
und denTrainer DidierTholot. Es war
meine ersteTransferperiode. Ein halbes
Jahr spätergewa nnen wir den Cup-Final
gegen den FCBasel.


Seither ist sehrviel passiert im FC Sion.
Fast nur Schlechtes.
Ja, wir hatten viel Unruhe.VieleTrainer-
wechsel.Aber jeder war einFall für sich.
Peter Zeidler, MuratYakin, andere.


Warum ist im FC Sion ständig Unruhe?
Jeder Verein funktioniert anders, jeder
hat seine eigenenProb leme. Bei uns gibt
es einen Präsidenten, meinenVater,der
alles bezahlt. Und der schliesslich ent-
scheidet.In anderen Klubs gibt esVor-
stände undKommissionen, mehr Leute,
mehr Diskussionen.


Was ist besser?
Schauen Sie: Als wir im Sommer 20 16
mit West Ham über denTransfer von
Edimilson Fernandes verhandelten,
dauerte alles sehr lange.West Ham hat
zwei Präsidenten,dazu vielePersonen im
Board.Viele Leute müssen ihr Einver-
ständnis geben.Alles ist ruhig, geordnet.
Bei uns funktioniert es anders, mehr aus
dem Bauch.Alles geht schnell, dieWege
sind kurz.Rock’n’Roll. Ich mag es.


Leute in der Branche sagen von Ihnen,
Sie hätten eingutesAuge für Spieler und
sehr guteKontakte.
Ich rede nicht über meine Stärken. Was
ich weiss: Ich arbeite sehr viel.Wenn es
um einenTransfergeht,kann ich nächte-
lang wach bleiben.


Die Leute sagen auch, Sie seien zu jung.
«Er ist noch jung.» Ich höre es ständig.
Ist Jungsein eine Schwäche?


Sie sind der Chef einesTrainer-Staff und
eine sTeams von 35 Spielern.DerTrai-
ner Stéphane Henchoz hat eineWelt-
karriere gemacht,spieltefür das Natio-
nalteam und Liverpool...
Stimmt.Und ich habe nicht einmalFuss-
ball gespielt.Ausser ein paarJahre im
FC Martigny und im FCBagnes.


Wie geht das, wenn Sie Henchoz ein
Feedback geben müssen?
Als Erstes geht es umKompetenz,Sach-
verstand.Dann gehtes um Einfühlungs-
vermögen.Ich liebe die Menschen, und
das spüren sie.Wichtig ist auch, nicht zu
denken, dassman alles weiss oder kann.
Ich höre zu, ich hinterfrage mich.


FühlenSie sichernst genommen in der
Szene?
Ich denke: ja. Die Leute, die michken-
nen, schätzen mich.


Worin müssen Sie besserwerden?
Ich muss lernen, die Spieler zu ver-
stehen. IhreKultur zu begreifen. Es ist
ein grosser Unterschied, ob ein Spie-
ler aus Nigeria oder aus Côte d’Ivoire
kommt. Ob er Albaner ist oder Italie-
ner. Die Spieler müssen sich wohlfühlen.
Und ich musslernen, wie ich das errei-
che. Nur so werden wir erfolgreich sein.


Ihr Vater Christian Constantin ist der
grosse Patron imVerein, eineWalliser
Überfigur, geliebt und gehasst.Wie ist
IhreBeziehung zu ihm?
Sehr gut (lacht). Es gibt die berufliche
Beziehung und die persönliche.


Können Sie diese Ebenen trennen?
Ich habe von meinemVater gelernt: Die
Arbeit ist die Arbeit, das Leben ist das
Leben.Wenn wir einenTransfer ma-
chen wollen und uneinig sind, schreien
wir uns imBüro an und gehen unsan
die Gurgel. Und wenn mich eine Sorge
plagt und ich einenväterlichen Rat
brauche, hört er mir zu.Ist er umge-
kehrt enttäuscht vonseinem Sohn, hat
er deswegenkein Problem mit seinem
Sportchef.

Ist es so einfach?
Unsere Beziehung ist sehr intensiv, sehr
emotional.Wirspielen miteinander,
wir kämpfen und leiden.Wir entziehen
uns ständig die Liebe und überschütten
uns dann damit. Es ist eineAmour fou,
schön und verrückt.Wir suchen unseren
Weg. Und werden immer besser.

Wie geht das?
Wir werden älter, und ichwerde vernünf-
tiger. Ich habe so viel erlebt in denletz-
ten Jahren.Das prägt. Die privaten Pro-
bleme liegen hinter uns.Als ich15,16, 17
Jahre alt war, war es sehr schwierig.

Sie brachen damals IhreAusbildung ab.
Warum?
Weil es nichts gab, was mich interessierte.
Ich hasste die Schule. Meine Noten
waren immergut, ich hatte nieirgend-
welche Probleme.Aber die Schulstun-
den waren eine Qual. Man sitzt da, und
alle reden irgendwas. Unerträglich.Mein
Motto war schon damals: etwas machen
und daraus lernen. Ich mache Dinge lie-
ber alleine und falsch, anstatt mich von
zehn Leuten coachen zu lassen.

Was sagten Ihre Eltern damals?
Wir hatten sehr viele, sehr schwierige
Diskussionen. Die Krise fing an, als sich
meine Eltern scheiden liessen.Das hat
mich sehr fest getroffen. Ich war mitten
in der Pubertät und in steterAufruhr.
Es war überJahre das wichtigsteThema,
dass ich etwas aus mir mache. Ich be-
suchte weiterführende Schulen, doch es
war mir zuwider. Meine Mutter war da-
gegen, dass ich dieAusbildung abbreche.
MeinVater eigentlich auch. Aber was
hätte er mir sagen wollen? Er hat es da-
mals genaugleich gemacht. Ich arbeitete
dann bei den Bergbahnen inVerbier und
auf einemBauernhof. Dann holte mich
meinVater zum Klub. Ich kann bis heute
nur eines dazu sagen: danke.

Was hätten Sie getan, wenn Sie nicht im
Fussball gelandetwären?
Ich wäre nachParis gegangen, um das
Theaterspielen zu lernen. Ich habesie-
ben Jahre lang Schultheater gespielt.
Das war schön.

Würden Sie alles nochmals so machen?
Ja, klar.Aber ich weiss bis heute nicht,
ob es richtig war.Was ich weiss: dass
ich das mache, was ich immer machen
wollte. In der Primarschule simulierte
ich oft amFreitagnachmittagBauch-
schmerzen, um mit demTeam an ein
Auswärtsspiel zureisen. Ich liebe den
Fussball seit je.

2013 kam der Bruch mit IhremVater.
Es war eine schwierige Saison. Der ita-
lienischeWeltmeister Gennaro Gattuso
war Spieler und späterTrainer. Dann
wollte ihn meinVater loswerden. Ich

stellte mich auf die Seite von Gattuso,
ich war einTrotzkopf. MeinVater sagte
mir, ich könne gehen.Dann arbeitete ich
drei Monate lang für die Stadtverwal-
tung von Martigny. Ich wischteWege,
räumte Strassen,montierteLampen.Für
zehnFranken proTag. Ich begriff viel in
dieser Zeit: was Arbeit bedeutet.Wie
viel Glück ich im Leben habe.

Und dann?
Dann wäre ich fast zu einem Klub in
die USA gegangen. Oder nach Novara
in die SerieB. Ich wollte mit meinem
Vater nach Novarareisen, um denVer-
trag zu unterschreiben. Plötzlich fragte
er mich, ob ich zum FC Sion zurück-
kommen möchte.

Was schätzen Sie an IhremVater?
Wenn er ein Geschäft macht, ist er ein
Killer. Im Fussball, im Immobilien-
geschäft. Und er hat eine unendliche
Leidenschaft in sich. Ich habe vonihm
gelernt, dass ich um vier Uhr in der
Nacht erreichbar sein muss, wenn ich
etwas erreichen will. Einen Spieler ver-
pflichten, einen Sponsor gewinnen.

Als der FC Sion vor zweiWochen im
ersten Saisonspiel gegenBasel in Rück-
stand geriet,trat IhrVater wie so oft hin-
ter die Spielerbank, stand breitbeinig
und mit verschränktenArmen da.Was
denken Sie in solchen Momenten?
Er will demTeam mit seiner Präsenz
etwas geben.Das funktioniert natürlich
nur, wenn man es nicht ständig macht.
Manchmal sage ich ihm auf derTribüne,
dass er sitzen bleiben soll.Dann bleibt
er sitzen. Und manchmal sage ich ihm:
«Los, geh runter.»

Sie selber wirken oft hypernervös,
schreien herum,verwerfen die Arme, be-
klagen sich beim Schiedsrichter.
Ich weiss. Das Problem unsererFamilie
ist, dass wir denFussball und den Klub
lieben.Wir sind im Privatleben meistens
ruhig und ausgeglichen. Aber wenn das
Spiel beginnt, vergessen wir alles. In
unserem Innern bricht etwas los,und
wir werden zu anderen Menschen.Wir
sind dann im Kriegsmodus.

Als Sportchef müssten Sie doch Ruhe
ausstrahlen.
Soll ich morgen aufstehen und sagen,
dass ich diesen Klub nicht mehr liebe?
Ich kann und will mich nicht verbiegen.
Wenn ich auf meine Art nicht funktio-
niere, höre ich auf.

Die grosseFrage bei Ihnen ist:Wie viel
dürfen Sie wirklich entscheiden?
Die Wahrheit ist, dass ich in vielen Din-
gen entscheiden kann. Und dass es
Dinge gibt, die meinVater alleinent-
scheidet. Er muss mich nicht fragen,
wenn erkeine Lust dazu hat.Wir disku-
tieren fast alle Sachen. Doch zwei oder
drei Mal hat er einen Spieler verpflich-
tet,ohne es mir zu sagen.Da bin ich aus-
gerastet. Es waren Schnellschüsse. Die
funktionieren selten.

Viele Leute sehen Sie sehr kritisch. Sie
werden «filsàpapa»genannt, vonBe-
ruf Sohn.
Je m’en fous. Es ist mir egal.

Sie tönen wie IhrVater.
Hören Sie:Ich arbeite sehr viel. Dann
schaue ich zurFamilie, zu meinenFreun-
den, zu meinem kleinen Neffen. Ich
habekeine Zeit,andere Leute zu bewer-
ten.Wer mich bewerten will,bitte schön.

Einst hielten dieWalliserFans inBern
ein Banner in die Luft, auf dem geschrie-
ben stand: «Barth,dein Platz ist in der
Schule, nicht auf derAuswechselbank.»
Was dachten Sie in diesem Moment?
Dass wir das Spielgewinnen müssen.

Sie bluffen.
Hey, ich bin der Sohn von Christian Con-
stantin. Ich muss miralles Mögliche an-
hören, seit ich 13 oder14 Jahre alt bin.
Das war oft schmerzhaft. Aber irgend-

wann findet man einen Umgang damit.
Vielleicht sind die Leute neidisch. Oder
wütend.Ich weiss es nicht.Was ich weiss:
Es macht krank, über Leute schlecht zu
denken und schlecht zureden.

Der Fussball, die Stadien,die Millionen:
Sie leben einen Bubentraum.Was ist der
Preis?
Die Niederlage im Cup-Final 2017 in
Genfgegen den FCBasel habe ich per-
sönlich genommen.Ich war wochenlang
in einemDauerstress und nach der Nie-
derlage in einem tiefen Loch der Ent-
täuschung. Ich habe kaum mehr geschla-
fen. Mir sind die Haare büschelweise
ausgefallen.Wenn wir heute ein Spiel
gewinnen, gehe ich mit meinenFreun-
den etwas trinken. Wenn wir verlieren,
bleibe ich zu Hause und schütze meine
Freunde vor meinerLaune. Manchmal
ist meinJob schwierig. Und doch: Er ist
ein grosses Glück.

Einmal lange Sommerferien machen mit
einerFreundin?
Das interessiert mich nicht.Ich schwöre
es. Ich mache vierTage Ferien imJuni
und eineWoche im September. Ich gehe
nach Ibiza, Sardinien, Mykonos. Das
reicht. Und ich nehme mir an jedemTag
eine Stunde Zeit für mich. Gerade lese
ich «Hippie» vonPaulo Coelho. Oder
ich gehe biken, bade oderkoche.

Was bedeutet der FC Sion für Sie?
Es ist der Klub desWallis , einer besonde-
ren,widerborstigenRegion. Er trägt eine
Inbrunst in sich, die einzigartig ist. Ich
liebe den Klub.Ich willkeine Karriere
machen,kein Geldverdienen, keine Pro-
filierung. Ich will nur den Erfolg.

Werden Sie den Klub übernehmen,
wenn die Zeit IhresVaters um ist?
Ich denke nicht darüber nach.Vor fünf
Jahren sprach ich davon,dass ich einmal
Präsident werden will. Heute weiss ich,
wie viel ich noch lernen muss.

Wovon träumen Sie?
Ich will aus dem FC Sion einen wichti-
gen Klub machen. Ich will, dass wir in
jedemJahr im Europacup spielen. Und
einmal möchte ich imTourbillon die
Hymne der Champions League hören.

DiesenTraum haben Sie IhremVater ge-
stohlen.
Nein.Wir teilen ihn.

«IstJungsein eine Schwäche?»:Barthélémy Constantinin Martigny. JOËL HUNN / NZZ

«Ich war in einem
tiefen Loch der
Enttäuschung. Mir sind
die Haare büschelweise
ausgefallen.»

SuperLeague, 3.Runde
Samstag, 19 Uhr Sonntag, 16 Uhr
Sitten - Zürich YB - Lugano
Thun - Basel Servette - Luzern
Xamax - St. Gallen


  1. Lugano 2/4 6. Thun 2/2

  2. Luzern 2/4 7. Servette 2/2

  3. YB 2/4 8. Xamax 2/1

  4. Basel 2/3 9. Sitten 2/1

  5. St. Gallen 2/3 10. Zürich 2/1

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