FOTO: INGRID SCHMIDT/STERN
M
eine Idee konnte nicht funk-
tionieren, aber das wollte ich
nicht einsehen. Ich war 16 und
hatte eine Obsession für Gift-
tiere. Schlangen, Skorpione,
Spinnen – die fand ich alle toll.
Als unsere Biologielehrerin uns auffor-
derte, bei „Jugend forscht“ mitzumachen,
dachte ich, nun sei die Zeit gekommen, den
vielen Menschen, die sich vor Gifttieren
fürchten, zu beweisen, wie nützlich diese
Tiere sein können.
Hundertfüßer etwa fressen Käfer, Schne-
cken und andere wirbellose Tiere. Ich frag-
te mich, ob man diese heimischen Gifttiere
nicht zur Verteidigung von Äckern gegen
Schädlinge einsetzen könnte. Und über-
legte mir ein Experiment: Hundertfüßer
findet man einfach, man muss nur etwas
buddeln und entdeckt sie im Erdboden. Ich
setzte sie in Terrarien und schaute, was mit
den Blattläusen und Kartoffelkäfern pas-
sierte, die ich zeitgleich auf die Pflanzen in
dem Terrarium losgelassen hatte. Es ge-
schah nichts: Die Schädlinge klettern auf
die Blätter der Pflanzen, die Hundertfüßer
aber leben im Boden. Beide kommen sich
räumlich überhaupt nicht nahe.
Ich erhielt keinen Preis, und meinen
Traum, Tiergiftforscher zu werden, legte
ich zunächst ad acta.
Stattdessen machte ich nach dem Abi-
tur eine Ausbildung zum Chemielaboran-
ten und studierte Biochemie. Nach einigen
Semestern traf ich auf einen Professor, der
mit Salamandergiften experimentierte.
Ein Glücksfall, denn Tiergift-Forschung
spielt in Deutschland eigentlich keine
große Rolle, anders als in Australien,
den USA und Südamerika. Der Pro-
fessor suchte eine wissenschaftliche
Hilfskraft für sein Labor, und da ich die
Berufsausbildung gemacht hatte, war
ich der passende Kandidat.
So kam das Gift wieder in mein Le-
ben. Als vor vier Jahren am Fraunhofer-
Institut für Molekularbiologie und An-
gewandte Oekologie die Arbeitsgruppe
„Animal Venomics“ eingerichtet wurde,
wechselte ich dorthin und schrieb meine
Doktorarbeit über Spinnengifte. Nach
meiner Promotion im vergangenen Jahr
wurde ich sogar als Gruppenleiter ein-
gesetzt.
Die Toxine von Tieren haben ein enor-
mes Potenzial für die Medizin. Eines der
wichtigsten Medikamente gegen Blut-
hochdruck, Captopril, basiert auf einem
Schlangengift. Die Substanz hemmt die
Aktivität des Angiotensin-konvertieren-
den Enzyms, ACE, das den Blutdruck
reguliert. Ist der ACE-Spiegel niedrig,
sinkt auch der Blutdruck. Viele Menschen
würden ohne dieses Medikament nicht
mehr leben.
Andere Tiergifte verhindern erfolgreich
das Wachstum von Viren und Bakterien
und könnten bei der Entwicklung neuer
Antibiotika eine Rolle spielen. Austra-
lische Kollegen haben kürzlich eine
20-Millionen-Dollar-Förderung erhalten
für klinische Tests eines Spinnengiftes,
das neuronale Schäden bei Schlaganfall-
patienten zu lindern scheint.
Mich interessiert vor allem die Anwen-
dung von Spinnengiften in der Landwirt-
schaft. Im Lauf der Evolution haben sich
Spinnen zu den erfolgreichsten Insekten-
tötern der Welt entwickelt. Ihre Toxine
sind teilweise so optimiert, dass sie gezielt
bestimmte Insekten töten, andere aber in
Ruhe lassen. Bekannt ist etwa eine Sub-
stanz, die Schmetterlingslarven ausschal-
tet, Bienen aber verschont. Wenn man die
Komponenten solcher Toxine identifiziert
und verbessert, erhält man geeignete Kan-
didaten für die Pestizidentwicklung.
Das Forschungsfeld ist noch sehr jung,
aber es beschäftigt sich mit einer wich-
tigen Frage: Wie können wir uns er-
nähren, ohne die Artenvielfalt zu zer-
stören? Mittlerweile ist jedem klar,
dass wir nachhaltige Alternativ-
angebote zu den bisherigen che-
mischen Pflanzenschutzmitteln
brauchen. Spinnengifte können
ein Teil der Lösung sein. Sie rei-
chern sich nicht im Boden an und
sind auch für Menschen ungefähr-
lich. Erste Kooperationen mit der
Industrie haben wir bereits angescho-
ben. Das Interesse ist groß.
Mein Ziel ist es, möglichst viele wirk-
same Substanzen zu finden. Damit wür-
de ich mir meinen Kindheitstraum erfül-
len. Und dabei helfen, eines der großen ge-
sellschaftlichen Probleme dieser Zeit zu
lösen. 2 Aufgezeichnet von Doris Schneyink
Teilnehmer und Preisträger von Jugend forscht und dem Deutschen Gründerpreis erzählen ihre Geschichte.
Diesmal: Dr. Tim Lüddecke, 33, Leiter „Animal Venomics“ am Fraunhofer-Institut Gießen, Jugend forscht 2008
Tim Lüddecke will beweisen,
dass Giftspinnen nützlich sind.
Hier erzählt er von seinem
Scheitern und seinem Durchbruch
GENIALE
IDEE
WISSEN
100 29.9.2022
KO LU M N E