Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
Der Süd-Mensch definiert sich zunächst
als englisch, dann als britisch und schließ-
lich, falls überhaupt, als europäisch. Wes-
halb man, auf der Suche nach dem seeli-
schen Zustand der Nation, regelmäßig das
Hochamt des Englischseins besuchte, die
Country Fairs, zu bestaunen etwa in der
Nähe von Exeter, Devon. Viel Tweed, viel
Marmelade, viele Traktoren und Landro-
ver und natürlich sehr viele Bauern, Bon-
zen und Barone. Schweine paradieren an
der Leine vor fachkundigem Publikum,
und direkt nebenan parkt ein mobiler Im-
biss, „British Meat“, in dem verkauft wird,
was aus den Schweinen später wird: Ban-
gers, die berüchtigten Würste undefinier-
baren Geschmacks.
Auf solchen Messen versteht man spät,
aber besser als nie, warum die heutige Pre-
mierministerin und damalige Ministerin
für „Umwelt, Ernährung und ländlichen
Raum“ vor Jahren bei einem Parteitag eine
drollige Rede über britische Äpfel, briti-
sche Schweine und britischen Käse hielt,
die in dem fulminanten Satz gipfelte, sie,
Liz Truss, werde nicht ruhen, bis der briti-
sche Apfel wieder „on top of the tree“ hän-
ge, ergo bester aller Äpfel sei. Statt der Äp-
fel hängen ihr diese Worte bis heute nach,
die für die Stammwählerschaft bestimmt
waren, und genau die ist auf diesen „Coun-
try Fairs“ in Hülle und Fülle zugegen; es
sind Tory-Parteitage im Freien sozusagen.

Unter Schafscherern


Man kann auf diesen Messen gefütterte
Gummistiefel kaufen für sagenhafte 300
Pfund. Man kann Hunden zugucken, die
Kunststücke machen, und Männern, die
Schafe scheren. Einer heißt George Mudge
und war Mitglied des englischen Schaf--
schur-Teams, das bei der Schafschur-Welt-
meisterschaft 2008 Vierter wurde, knapp
hinter Lesotho, Südafrika und Neuseeland.
George Mudge hat einen festen Schafsche-
rer-Händedruck und eine noch festere
Meinung über die EU, nämlich: endlich
raus und frei. Er hält aus dem Stand einen
Vortrag über den unmittelbar bevorste-
henden Zusammenbruch Europas. Erst
hätten die Römer die Welt regiert, später
die Briten, und jetzt regiere die Bürokratie.
Irgendwann kommt George auch noch auf
Hitler, den Blitzkrieg und dessen Paralle-
len zum Brexit, „keep calm and carry on“.
Das kann immer mal passieren in Eng-
land. Wobei man an dieser Stelle festhal-
ten muss, dass der Brexit den Reisegenuss
so gut wie gar nicht tangiert, wenn man
erst mal da ist. Klar, die Nation durchlebt
turbulente Zeiten, aber das tun wir ja alle.
Davon abgesehen bleibt Pfund doch

D


ie Briten haben es wirklich nicht
leicht. Erst leistete sich Boris
Johnson die berühmte eine Lüge
zu viel und musste Downing
Street räumen. Und kaum hatte
sich seine Nachmieterin Liz Truss
in Schloss Balmoral zum Antrittsbesuch
bei der Königin vorgestellt, verstarb die
Unsterbliche. Trauer legte sich über Land
und Leute und irgendwie auch die ganze
Welt. Neuer König nun und neue Premier-
ministerin, aber viele alte Sorgen. Brexit,
Inflation, hohe Lebenshaltungskosten, das
ist der aktuelle britische Dreiklang.
Deshalb, gleich zu Beginn und nach all
dem Kummer, mal eine schöne Nachricht
von der Insel: Die Menschen im Süden
Englands, insbesondere die in Kent und
ganz insbesondere die im ländlichen Kent
und dort in den Gemeinden Detling und
Thurnham werden im Schnitt 95 (Frauen)
und 86 (Männer) Jahre alt und liegen da-
mit im statistischen Mittel deutlich über
dem britischen Rest und die Frauen nur
knapp unter der Queen. Die „Times“ frag-
te sich nach einem Ortsbesuch, ob sie was
Gesundes im Wasser hätten oder die Leu-
te dort schlicht glücklicher seien als die in,
sagen wir, Hull, Ipswich oder Stoke-on-
Trent. Nun ist auch nicht ganz auszuschlie-
ßen, dass ein spätabendliches Glas Rosé
Wunder wirkt, wie im Fall der 102 Jahre al-
ten Irene Nobbs aus Detling, die dieses
Ritual seit Jahrzehnten pflegt und darauf
schwört und lebt und lebt und lebt.
Man weiß es nicht.
Was man aber weiß, ist, dass es sich nicht
nur in Kent, sondern überall im Süden der
Insel gut und offenkundig lange leben
lässt. Sofern man von Natur aus mit einem
gesunden Maß an Gelassenheit und Ge-
duld ausgestattet ist, die es zwingend
braucht, um von A nach B zu kommen. Von
Arundel nach Brighton in East Sussex bei-
spielsweise. Die Straßen schmal und kur-
venreich, gesäumt von bilderbuchmäßigen
Hecken und Bruchmauern. In Stoßzeiten
„inchen“, also kriechen, die Autos durch
den Süden. Was durchaus als Metapher
taugt für das Leben grundsätzlich in Avon,
Kent und Cornwall, Dorset, Devon, Hamp-
shire und Somerset. Alles gemächlicher,
ruhiger, langsamer als andernorts in Groß-
britannien, mit Ausnahme vom etwas drö-
meligen Wales vielleicht.
Nirgendwo ist England englischer als im
Süden, das gilt auch für die Politik. Der Sü-
den ist vornehmlich Tory-Turf, Heimspiel
für Liz Truss’ konservative Partei. Bis auf
den roten Sprengsel um das linksliberale
Brighton stimmten beinahe alle Counties
des Südens mehrheitlich für den Brexit. 4

Abwechslungsreich: Das historische Canterbury


(o.) in Kent mit seiner berühmten Kathedrale hat


nicht viel gemein mit dem wettergegerbten


Fischerort Weymouth in Dorset (M.) und dem


urbanen Bristol (u.) mit seinen bunten Markthallen,


wie hier St. Nicholas Market


REISE


112 29.9.2022

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