Niall Ferguson gilt als
konservativer Historiker.
Eine Assistentin leitete die
Anfrage von Michael Streck
und Steffen Gassel mit dem Hinweis weiter,
„ausgerechnet der linksliberale stern aus
dem roten Hamburg“ wolle ihn interviewen.
Der Professor sagte prompt zuSicherheitsberater Jake Sullivan Mitte
März in Rom den chinesischen Topdiplo-
maten Yang Jiechi traf, den außenpoliti-
schen Kopf der Kommunistischen Partei.
Sullivan sagte ihm: Wir achten ganz genau
darauf, was die chinesischen Staatsfirmen
tun. Wenn sie gegen unsere Russland-
Sanktionen verstoßen, verhängen wir auch
Strafmaßnahmen gegen China. Das haben
sich die Chinesen gemerkt. Sie achten pe-
nibel darauf, bloß keine US-Sanktionen
gegen sich zu riskieren.
Woher rührt diese Zurückhaltung gegen-
über dem großen Rivalen USA?
Was die Chinesen brauchen, ist Entspan-
nung. Was China will, ist, dass die USA auf--
hören, Taiwan als de facto unabhängigen
Staat zu behandeln, wie es Nancy Pelosi
und andere tun. Und es braucht die USA,
um über Zölle zu reden. Die Chinesen wür-
den sofort eine Entspannung akzeptieren,
wenn es sie gäbe. Aber die USA bieten kei-
ne an. Seit der Kandidatur von Joe Biden
für das Amt des Präsidenten im Jahr 2020
hat sich die Haltung der USA gegenüber
China sogar noch verschärft. Wer hätte das
gedacht – Joe Biden hat eine noch härtere
Haltung gegenüber China eingenommen
als Donald Trump.
Was bedeutet das für Chinas Verhältnis
zu Putin?
Staatschef Xi Jinping steckt in der Zwick-
mühle. Er kann nicht wollen, dass Putin be-
siegt und gedemütigt wird. Er hat zu viel
in diese Beziehung investiert. Ich nehme
an, dass dies der Grund für den Aufruf zur
Waffenruhe war. Die Chinesen sind be-
sorgt, weil es Leute in Washington gibt, die
wollen, dass Putin erniedrigt und gestürzt
wird. Innerhalb der US-Regierung. Viel-
leicht sogar Präsident Biden selbst.
Wo sehen Sie Europa in dieser neuen
Kalter-Krieg-Gemengelage?
Europas Probleme sind sehr groß. Es ver-
folgt eine unrealistische Energiestrategie,
als ob erneuerbare Energien in kurzer Zeit
Atomkraft und Erdgas irgendwie ersetzen
könnten. Europa redet obendrein von
strategischer Autonomie, ist für seine Si-
cherheit aber auf die Vereinigten Staaten
angewiesen. Auch die gegenwärtige Atem-
pause von der Migrationskrise wird für
Europa nicht lange währen. Das gesamte
Bevölkerungswachstum für den Rest
dieses Jahrhunderts wird sich in Afrika er-
eignen, und Afrika ist vom Klimawandel
stärker betroffen als alle anderen Konti-
nente. Es sieht also nicht gut aus.Und Deutschland?
Die deutsche Industrie hat auf zweierlei ge-
setzt: auf billiges Erdgas aus Russland und
auf chinesische Konsumenten. Beide Wet-
ten gehen nicht mehr auf. Der chinesische
Konsum droht, über die Klippe zu stürzen.
Dazu kommt die Krise der Eurozone, die
meines Erachtens zu vermeiden gewesen
wäre, wenn man die EU-Erweiterung nicht
mit der Idee eines föderalistischen Euro-
pas verbunden hätte. In Italien wie in vie-
len anderen Ländern der EU droht neuer
Populismus. Jetzt kann man nur hoffen,
dass ausgerechnet Macron die Art von Füh-
rung leisten kann, die außer ihm offenbar
niemand bieten kann. Oder will.
Sie klingen, als hätte Europa sich selbst
ins Schlamassel geritten. Wer aber hätte
ahnen sollen, dass es zu einer solchen
Konvergenz der Krisen kommt?
Die Realität ist, dass Angela Merkel die
politische Strategie Deutschlands, und ich
würde sagen: die deutsche Wirtschaft, für
gefühlt zwei Jahrzehnte in eine Art Tief--
kühltruhe gesteckt hat. Ich war schon ein
Kritiker von Merkel, als sie als Retterin der
westlichen Welt gefeiert wurde. Heute hat
meine Skepsis breitere Unterstützung. In
ihrer Amtszeit wurden nie die Fragen ge-
stellt, die hätten gestellt werden müssen.
Das betrifft die Beziehungen zu Russland
wie auch die zu China. Und ich höre, dass
trotz der Null-Covid-Beschränkungen
schon wieder zahlreiche deutsche Ge-
schäftsleute in China unterwegs sind.
Ihr aktuelles Buch heißt „Doom“, Unter-
gang. Ist denn da nichts, das Ihnen und
auch uns Hoffnung machen könnte?
Doch, und es ist wunderbar: Die USA wer-
den den neuen Kalten Krieg gewinnen.
Denn China ist dem Untergang geweiht.
Ihr Deutschen solltet euch klarmachen,
was für ein Glück ihr habt, in Amerika eu-
ren Hauptalliierten zu haben! Ja, die USA
haben viele Schwächen und einen Präsi-
denten, dem es an strategischer Raffines-
se mangelt. Aber sie sind viel besser als die
Alternative, denn die heißt: Ein-Parteien-
Staat. In diesem Sinne bin ich ein Optimist.
Der Zweite Kalte Krieg läuft bemerkens-
wert gut, er wird kürzer als der erste. Der
Westen wird siegen. Und ihr Deutschen
seid auf der Seite der Gewinner. 2Exhumierung
eines russischen
Gefallenen nahe
Charkiw im Osten
der Ukraine:
Zerbricht Russ-
lands Armee?„Manche in Washington
wollen, dass Putin
gestürzt wird. Vielleicht
sogar Biden selbst“
gestürzt wird. Vielleicht gestürzt wird. Vielleicht
sogar Biden selbst“
29.9.2022 37