H
err Ramelow, Inflation,
Energiekrise und Rezes-
sionsangst bestimmen
zurzeit das Lebensgefühl
vieler Menschen. Spüren
Sie das auch?
Ich war kürzlich ein Wochenende in
Westdeutschland, bei einer Taufe,
pure West-Verwandtschaft. Das fühl-
te sich an wie eine andere Welt. All
diese Krisen waren noch kein Thema.
Sogar im Westen herrscht doch
vielerorts Krise.
Aber im Osten wird mit anderer
Emotionalität darauf reagiert. In
Thüringen spricht mich jeder darauf
an. Der Lebensmittelhändler zeigt
mir seinen Stromvertrag, 80 Cent pro
Kilowattstunde. Er weiß nicht, wie er
die in seiner Kalkulation unterbrin-
gen soll. Der Bäckermeister beklagt
die Verzehnfachung seiner Energie-
kosten. Die Friseurin weiß nicht, wie
sie zur Arbeit kommt, wenn der
Dieselpreis über 2,20 Euro liegt.
Was fordern die Leute dann?
Vor allem fragen sie: Wann reagiert
die Politik endlich so, dass man da-
rauf vertrauen kann? Die Bundesre-
gierung setzt teilweise vernünftige
Dinge um, das gebe ich gern zu, aber
sie kommuniziert grottenschlecht.
Bestes Beispiel: die Energiepreis-
pauschale. Erst werden Rentnerin-
nen und Rentner ausgeschlossen,
das führt zu Wut und Frust. Wenn sie
im nächsten Paket dann dabei sind,
hören sie das schon gar nicht mehr.
Die Menschen fordern von mir: Das
müssen Sie denen in Berlin mal
sagen. Tja, das würde ich liebend ger-
ne machen, wenn die mal einen
schnelleren Termin machen würden.
Zu Corona-Hochzeiten gab es fast
im Wochenrhythmus Konferenzen
der Ministerpräsidenten mit dem
Bund. Vermissen Sie das?
Allerdings. Es muss doch bespro-
chen werden, wer letztlich für das
Entlastungspaket zahlt. Das ist kei-
ne gute Art, mit den Ländern umzu-
gehen. Allein das dritte Entlas-
tungspaket kostet den Thüringer
Landeshaushalt im nächsten Jahr
300 Millionen Euro, weitere 300 Mil-
lionen im Jahr darauf. 600 Millionen
Euro werden lax im Koalitionsaus-
schuss verteilt, ohne dass mit uns
auch nur ein Wort geredet wurde.
Ich finde das unerhört.
Haben nicht auch Sie ein Interesse
daran, die Menschen zu entlasten?
Gerade in Thüringen gehen viele
schon wieder auf die Straße.
Selbstverständlich müssen die Men-
schen entlastet werden, aber doch
nicht so. Da wird zu viel Geld mit der
Gießkanne ausgeschüttet. Wozu
braucht ein Ministerpräsident noch
300 Euro Energiegeld? Trotzdem
kann das viele Geld nicht verhin-
dern, dass über den Energiemarkt
Armut in unsere Gesellschaft getrie-
ben wird. Die Bundesregierung muss
alles dafür tun, dass die riesigen
Extraprofite der Energiekonzerne
gar nicht erst entstehen. Diese so-
genannten Übergewinne haben alle
Bürger hart bezahlt. Darum ist es fol-
gerichtig, dass demonstriert wird. Bei
einer Demo in Erfurt bin ich als Ge-
werkschaftsmitglied mitgelaufen.
Demonstrieren da die Opfer der
Energiekrise, oder sind es die Glei-
chen, die 2015 gegen Flüchtlinge
demonstrieren waren?
Ich sprach eben von der Erfurter Ge-
werkschaftsdemonstration. Davon
würde ich mir mehr wünschen. Aber
es gibt auch die anderen. Da fing es
an mit den Flüchtlingen, ging wei-
ter mit Corona, und jetzt sind es die
Energiekrise und der Krieg. Dazwi-
schen sind immer wieder auch die
Windkraftgegner. Der Kern ist häu-
fig derselbe, aber man muss deutlich
unterscheiden zwischen denen, die
echte Sorgen haben, jenen, die die
russische Fahne hochhalten, und
solchen, denen jeder Anlass recht ist
und die versuchen, das Geschehen
zu orchestrieren. An einem Montag
Anfang September haben wir uns
die Demos landesweit genau ange-
sehen. 15000 Menschen waren bei
zehn Veranstaltungen auf der Stra-
ße. Und auf allen waren dieselben
Forderungen zu hören, zum Teil
wortgetreu. Wenn Sie schauen, wer
diese Forderungen vorträgt, landen
sie bei den Aktivisten von „Freies
Thüringen“.
Einer rechtsextremen Gruppie-
rung, die der Verfassungsschutz wie
die „Freien Sachsen“ beobachtet.
Sie haben sich gut vernetzt, und sie
schaffen es, auf diese Kundgebun-
gen Einfluss zu nehmen. Da gibt es
meistens offene Mikrofone, an
denen jeder reden kann. Da mag es
auch Vernünftige geben, aber früher
oder später wird alles mit allem ver-
mengt, von Coronaleugnung über
„Impfzwang“ bis zum „Great Reset“.
Dabei ist die große Anzahl der
Menschen politisch so nicht drauf.
Die sind nur besorgt?
Natürlich sind viele besorgt und
auch sauer. Aber dann sehen sie Frie-
denstauben und ein paar russische
Fahnen und halten diese Kombina-
tion für harmlos. Es mag erstaunlich
klingen, aber zu viele merken nicht,
dass diese Demos längst gekapert
worden sind. Und andere vermissen
die Demonstrationen der Vernünf--
tigen: Gewerkschaften, Sozialver-
bände, Parteien.
Können Sie verstehen, warum vie-
le im Westen der Republik denken:
Schon wieder dieser Osten!
Sie sind hier in einem Bundesland,
in dem die AfD in der Momentauf--
nahme einer Umfrage mit 25Pro-
zent auf Platz eins liegt. Die Frage
ist, ob sich die Wahrnehmung des
Ostens nur darüber definiert. Na-
türlich sind 25Prozent objektiv ein
Höchstwert, aber es sind eben auch
75 Prozent nicht AfD. Die sind stil-
ler, die artikulieren sich aber bei
Wahlen und sind der wahre Grad-
messer in der Demokratie. Trotz-
dem wird gerne die Geschichte über
die 25 Prozent erzählt: Die im Osten
sind alle undankbar und doof.
Eine Forsa-Umfrage Anfang Sep-
tember ergab: Im Osten wollten
65 Prozent Nord Stream 2 öffnen,
im Westen 35 Prozent. Anders als
im Westen will im Osten auch nur
eine Minderheit die Sanktionen
aufrechterhalten.
Die Sanktionen sind im Osten ein
heikles Thema. Auch ich habe lange
damit gefremdelt, bis zum 24. Fe-
bruar. Die Sanktionspolitik entfal-
Das 3-D-Modell
von sich selbst
hat Ramelow von
einem Thüringer
Start-up bekom-
men. Das Herz
dahinter ist das
Logo der Ein-
heitsfeier, die in
diesem Jahr in
Erfurt stattfindet
66 29.9.2022