Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
Jan Rosen-
kranz (l.) und
Nele Span-
dick sprachen
Bodo Ramelow in seinem Übergangs-
büro. Die Thüringer Staatskanzlei wird
gerade saniert. Fotograf Roger
Hagmann musste mit einer kleineren
Kulisse als üblich vorliebnehmen FOTO: MARTIN SCHUTT/DPA

Was die Wirtschaftsleistung, Löh-


ne und Renten betrifft, steht der


Osten nach wie vor schlechter da.


Alles eine Frage der Perspektive.


Die Menschen hier im Osten haben


in den 30 Jahren etwas geschafft,


was ihnen niemand zugetraut hät-


te. Mitteldeutschland, also Sach-


sen, Sachsen-Anhalt und Thürin-


gen zusammen, liegt wirtschaftlich


betrachtet auf Platz elf aller euro-


päischen Staaten. Wir haben allein


in Thüringen 60 Weltmarktführer.


Bei einem Besuch in Vietnam hat


mich die Staatsführung mal ge-


fragt, wie wir als kleines Bundes-


land diese Zuwachsraten geschafft


hätten, das sei ja Wahnsinn. Das


muss ich mir in Vietnam sagen


lassen, weil hier jeder nur erzählt,


wie schlecht alles ist.


Warum passt das Gefühl nicht zu


der wirtschaftlichen Realität?


Weil wir hier am liebsten darüber


diskutieren, wie viel Abstand wir im


Osten noch oder schon wieder zum


Westen haben. Wir haben den emo-


tionalen Teil des Zusammenwach-


sens sträflich vernachlässigt. Sand-


mann und grüner Pfeil sind einfach


zu wenig als Erinnerung an das, was


man aus der eigenen Lebensleistung


mitbringt. Warum dauert es 30 Jah-


re, bis uns auffällt, dass die ostdeut-


sche Gemeindeschwester keine so


schlechte Idee ist? Oder die Kombi-


nation aus Abitur und Beruf? Selbst


ein Herr Dr. Gysi ist gelernter Rin-


derzüchter mit Abitur, es hat ihm


offenkundig nicht geschadet.


Ihre Partei wollte für das Zusam-


menwachsen stehen, die Fusion


von WASG und PDS zur Linken ist


15 Jahre her. Längst sind unüber-


brückbare Probleme sichtbar. Wie
kurz vor der Spaltung stehen Sie?
Das müssen Sie andere fragen. Ich
habe die Architektur der Einheit
hergestellt, weil ich geglaubt habe,
mit der Partei können wir über
Ost-West-Befindlichkeiten mitei-
nander ins Gespräch kommen. Aber
wenn jetzt einige unsolidarisch eine
Klaviatur bedienen, die sich an Par-
teibeschlüssen gar nicht mehr
orientiert, sondern ein bestimmtes
Klientel ansprechen will, führt das
zu einer Zerreißprobe.
Sie sprechen von Sahra Wagen-
knecht. Die warf der Regierung
kürzlich im Bundestag vor, „einen
beispiellosen Wirtschaftskrieg
gegen unseren wichtigsten Ener-
gielieferanten vom Zaun zu bre-
chen“. Das ist keine Befindlichkeit,
sondern knallharte Politik.
Wie machen wir denn da Politik? Ich
war wenige Tage vorher in der Bun-
destagsfraktion und habe mit den
Abgeordneten debattiert. Leider war
Frau Wagenknecht nicht anwesend.
Eigentlich war die Linie klar, es war
klar, dass wir keine Separatverhand-
lungen mit Russland fordern, weil
wir uns damit in unserem Verhält-
nis zu Osteuropa spalten lassen
würden. Dann sitze ich wenig spä-
ter im polnischen Senat, als mich
diese Rede erreicht, die dort als pro-
russisch verstanden wurde. Da wer-
de ich gefragt, ob das auch meine
Position sei, ist ja schließlich meine
Partei. Ich habe dafür kein Verständ-
nis. Herr Putin hat den Krieg gegen
die Ukraine angefangen. Es war
nicht die Nato.
Was folgt daraus? Ein Missbilli-
gungsantrag bekam in der Frak-
tion keine Mehrheit. Man einigte
sich auf den Kompromiss, dass Ab-
geordnete, die im Namen der Frak--
tion sprechen, auch deren Linie
vertreten sollen. Ist das alles?
Ich habe einen Brief an die Fraktion
geschrieben und meine Verwun-
derung deutlich formuliert. Wir
müssen auf Basis unserer Verabre-
dungen und der Beschlüsse der
Partei arbeiten. Damit ist für mich
alles gesagt.
Die Linke ist sehr mit sich selbst
beschäftigt, dabei müsste Ihre Par-
tei für die Menschen da sein, die im
Moment so viel Wut äußern, oder?
Meine Partei muss sich nicht für
alle Menschen einsetzen, die Wut

äußern. Da sind auch Menschen
wütend, denen es gut geht. Ich
möchte, dass meine Partei für die da
ist, die in Armut stürzen oder nicht
aus der Armutsfalle rauskommen.
Es gab in der Linken die Hoffnung,
sie würde von dieser Krise profi-
tieren. Warum klappt das nicht?
Die zerstörerische These, dass es gut
für die Partei ist, wenn erst die Ver-
elendung einsetzt, die überlassen
wir mal besser der AfD. Es darf auch
nicht unser Ziel sein, dass uns nur
arme Menschen wählen. Es ist unser
Problem, dass es nicht gelingt, dem
Selbstständigen, dem Freiberufler,
dem Unternehmer klarzumachen,
dass es für ihn gut ist, wenn es eine
starke Linke gibt.
Was, wenn Sie der Letzte sind, der
die Linke retten kann?
Ich halte überhaupt nichts davon,
dass der einzige Ministerpräsident,
der ein linkes Parteibuch hat, auch
noch den Vorsitz übernimmt.
Wir haben einen anderen Verdacht:
Könnte es sein, dass Sie in Wahr-
heit kein wahrer Linker sind, son-
dern ein heimlicher Royalist? Den
neuen King Charles haben Sie di-
rekt nach Thüringen eingeladen.
Ja, weil seine Familie von hier
kommt. Deswegen war ich schon
zum Tee bei ihm in London. König
Charles hat selbst gesagt, er sei er-
staunt, dass ein Ministerpräsident
aus Deutschland die Geschichte sei-
ner Familie so gut kenne. Sein Vater
hieß Mountbatten, geborener Bat-
tenberg, das ist der Landgraf von
Hessen. Ich war gerade in Schloss
Reinhardsbrunn, das ist der Zwilling
von Balmoral Castle, dem Schloss, in
dem die Queen nun verstorben ist.
Die Geschichte unserer Fürstentü-
mer gehört genauso zu Thüringen
wie die Entstehung der Arbeiter-
bewegung.
Können wir also davon ausgehen,
dass Charles Ihrer Einladung folgt?
Das wäre eine große Ehre für unse-
ren Freistaat. 2

Ramelow unter-
stützte 1993 die
Kali-Kumpel in
Bischofferode.
2014 (wie hier
auf dem Foto)
erzwang er im
Thüringer Land-
tag eine erneute
Befassung mit
den Umständen
der Schließung –
kurz darauf
wurde er Minis-
terpräsident

68 29.9.2022

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