Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

HEIZEN


IST DAS NEUE


PRASSEN


Kester Schlenz über das


verbissene Wettfrieren in


seinem Freundeskreis


FOTOS: ADOBE STOCK (3)

G


estern hat mich meine Frau beim
Fummeln erwischt – am Ther-
mostat der Wohnzimmerheizung.
Ich hatte es von eins auf zwei dre-
hen wollen, weil ich Angst hatte
zu vereisen. „Nix da“, brummte
meine Frau hinter ihrem bis zur Nase
hochgezogenen Schal und wedelte tadelnd
mit dem wollenen Fäustling. Sie ist streng.
Wir haben abgemacht, dass wir erst ab
Oktober richtig heizen. Bis dahin nur
Frostschutz-Einstellung. Man muss seinen
Beitrag in Sachen Energiekrise leisten. Wir
haben eine Gasheizung. Wenn wir die an-
machen, fliegen die Zehn-Euro-Scheine
aus dem Schornstein. Also Pullis und Dau-
nenjacken raus.
Es ist Ende September, und nachts sind
wir deutlich einstellig bei den Temperatu-
ren. Deutschland friert. Aber viele von uns
halten durch, und kaum einer traut sich zu
sagen: Ich habe meine Heizperiode! Denn
Heizen ist das neue Prassen. Wir sind jetzt
Asketen. Mittlerweile ist ein richtiger
Wettbewerb daraus geworden. Früher als
Kinder spielten wir: Wer kann am längs-
ten die Luft anhalten? Heute nach der
Zeitenwende heißt es: Wer hält es am
längsten ohne Heizung aus? Ich weiß, das
ist nicht immer witzig. Viele Menschen
machen sich zu Recht Sorgen. Die Politik
muss handeln: Herr Scholz, deckeln Sie die
Gas- und Strompreise! Demos drohen, mit
Parolen wie „Heiz ist geil!“
Trotzdem hat das verbissene Wettfrie-
ren auch eine gewisse Komik. Kein Small
Talk mehr ohne frostige Worte. „Bei uns
stehen aus Solidarität alle Thermostate
nur auf eins“, tönt Ina voller Herzenswär-
me, die nun für alle reichen muss. Olivers
Familie beheizt nur ein Zimmer. Jetzt

hocken da tagsüber alle und gehen sich auf
den Senkel. Christiane und Thomas kau-
ern sonntags nach dem Aufbacken der
Frühstücksbrötchen immer auf dem Fuß-
boden vor der offenen Backofenklappe –
Restwärme abgreifen. Nicola kuschelt im
kalten Wohnzimmer mit ihren beiden gro-
ßen Hunden. Gregors Zwillinge sollen zur
Abhärtung in einem Internat auf Spitz-
bergen zur Schule gehen. Gebadet wird fast
nirgends mehr. Duschen nur noch in Etap-
pen. Kurz mit Sparstrahl einnässen. Pause.
Einseifen. Dann erst wieder Wasser an. Und
nicht zu heiß,bitte. Ferngesehen wird auf
dem Sofa mit Wolldecken und Wärm-
flaschen. Und viele entdecken erst jetzt,
dass ihre Heizung eine Nachtabsenkung
hat. Nacht? Ha! Die wird knallhart ab
21 Uhr aktiviert. Soziale Kälte ist angesagt!
Zu Hause bei uns steht noch ein Kamin-
ofen. Mit dem könnten wir gemütlich zu-
heizen. Allein: Es gibt kein Brennholz
mehr. Alles weg. Gauner bieten im Netz
gegen Vorauszahlung schon für Un-
summen Kaminholz an, das gar nicht exis-
tiert. Im Baumarkt wird ab und an noch
was verkauft, der Raummeter für rund
300 Euro. Das ist, als ob man Designer-
möbel zerhackt und verheizt. Außerdem
glaube ich als Verschwörungstheoretiker,
dass dieses Holz aus finsteren Quellen
stammt: aus Tschernobyl oder den Tropen.
Also frieren wir in Solidarität. In mei-
nem Fall mit einer Ausnahme: Im Bad
muss eine gewisse Mindesttemperatur
herrschen. Da darf es nicht arschkalt
sein. Ich mag nicht im Pulli mit Pudel-
mütze in Moonboots bei Bodenfrost ab-
führen. Kälte am Pürzel soll außerdem zu
Hämorrhoiden führen. Mögen sie Putin
heimsuchen, aber nicht mich. 2

GESELLSCHAFT


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