Generäle der Streitkräfte zu durch-
leuchten, ob sie einen Putsch mittra-
gen würden. Mich rief ein General
an und warnte: Man muss sehen, ob
die Demokratie einen Lula-Sieg
überlebt. Dennoch halte ich das
Szenario nicht für wahrscheinlich.“
Auch Gespräche des stern mit
Militärs unterschiedlicher Ränge
ergeben: Ein Staatsstreich ist un-
wahrscheinlich. Die USA und EU
würden eine Bolsonaro-Diktatur
nicht anerkennen und das Land iso-
lieren. Die Folgen für Brasiliens
Wirtschaft wären verheerend.
„Umso wichtiger wäre ein klarer
Sieg von Lula, am besten schon im
ersten Wahlgang“, sagt Stuenkel.
Und er fragt sich, wie der ernsthaft
infrage stehen kann, nach alldem,
was Bolsonaro den Brasilianern in
den letzten vier Jahren angetan hat.
Die Wahrheit in der Grotte
Wer die Wahrheit über den Zustand
des Landes erfahren will, davon ist
der Missionar Nilton Pereira über-
zeugt, der muss tief hinein in sei-
ne Favela Gruta – die Grotte – am
Rand der Großstadt Niterói nahe
Rio. Hinein in ein Labyrinth enger
Gassen, in denen die Drogengangs
regieren und die Armen hungern
und wo der Schimmel auf Felsen
wächst wie eine zweite Haut.
Pereira, 41, ist ein schmaler Mann,
dessen Hände sein ganzes Leben er-
zählen, wie er sagt, den Kampf von
Gut und Böse: Die rechte Hand ist
zerschossen, aus seiner Zeit als Dro-
gengangster. In der linken Hand hält
er die Bibel und hebt sie segnend
über alle Menschen, vor allem über
Huren, Gangster und Bettler, „denn
das war das, was Jesus tat“.
Es ist ein verregneter Tag Ende
September, Pereira führt vorbei am
Versteck einer Drogengang, die seit
Bolsonaros neuen Waffendekreten
leichteren Zugang zu Schusswaffen
hat. Vorbei an Hütten aus Holz, Stein
und Plastik, provisorische Behau-
sungen für einige der 9,6 Millionen
neuen Armen im Land. Hinein in
eine Gasse, wo sieben seiner Bekann-
ten an Covid-19 starben, jenem Vi-
rus, das Bolsonaro ein „Grippelein“
nannte, obwohl es fast 700000 Bra-
silianer tötete. In eine Realität, die
eines herausschreit: Der Präsident
ist krachend gescheitert.
„Wir leiden wieder Hunger“, be-
richtet eine Tagelöhnerin, „das gab
es unter Lula nicht“ – ein Verweis auf
Lulas Präsidentschaft von 2003 bis
2010, während derer es mehr als
30 Millionen Menschen aus der Ar-
mut schafften. Doch die Putzfrau
Claudia, Mutter von drei Kindern,
erwidert: „Wie gut, dass der Präsi-
dent uns jetzt 600 Reais zahlt“ – ein
Verweis auf die Nothilfe, die Bolso-
naro vor Kurzem aus wahltaktischen
Gründen erhöht hat. „Er hetzt alle
gegeneinander auf“, findet der Dro-
genkurier Maxuel, ein schlaksiger
Kerl, der gerade aus dem Gefängnis
entlassen wurde. „Er ist ein Mann
Gottes“, widerspricht ein hagerer
Arbeiter, der wie viele in den Armen-
vierteln „Evangélico“ ist, ein Anhän-
ger der fundamentalistischen Frei-
kirchen, und der im Gottesdienst
und den sozialen Medien zu hören
bekommt: Lula ist ein Kommunist.
Ein Dieb. Vom Teufel. Wer ihn wählt,
kommt nicht in den Himmel.
Für die meisten Brasilianer geht
es bei dieser Wahl nicht um die
Zukunft der Demokratie oder des
Regenwalds. Es geht um das tägliche
Brot oder das ewige Leben.
Nach vier Jahren Bolsonaro ist das
Land tief gespalten. Für den Präsi-
denten stimmen eher die Reichen.
Die Militärs. Die Landbesitzer. Die
Alten. Die Männer. Am größten ist
seine Unterstützung unter alten
weißen Evangelikalen. Unter ihnen
Männer wie Pastor Malafaia (3,6
Millionen Instagram-Follower), der
den stern-Reporter anraunzt: „Ihr in
Deutschland tragt selbst Schuld an
eurem Untergang. Ihr habt die Isla-
misierung zugelassen. Und der 4
Präsident Bolso-
naro und sein
Prediger: Silas
Malafaia (o.r.) ist
Brasiliens be-
kanntester evan-
gelikaler Pastor
Für Gott und
Vaterland (l.):
Bei einer Parade
in Rio trägt
ein Bolsonaro-
Anhänger ein
Kruzifix
Vom Drogendea-
ler zum Missio-
nar (r.): Nilton
Pereira wurde im
Gefängnis reli-
giös und predigt
in den Armen-
vierteln, hier
in der Großstadt
Niterói
Gewinnt Bolsonaro, ist
der Amazonas endgültig
der Vernichtung
preisgegeben
29.9.2022 85