Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
den Einrichtungen gewachsen. Im Septem-
ber 2022 trendet auf Twitter der Hashtag
#IhrBeutetUnsAus. Mal heißt die Forde-
rung, den Mindestlohn zu zahlen, mal, die
Einrichtungen gleich ganz zu schließen.
André Thiel war es seit seiner Geburt
vorbestimmt, in einer Werkstatt für Men-
schen mit Behinderung zu arbeiten:
T-Shirts nähen, Bücher binden, Wasserhäh-
ne testen. Doch Thiel reichte das nicht. Er
wollte arbeiten wie jeder andere auch. Am
Leben teilhaben, in den Urlaub fliegen, den
Mindestlohn erhalten, der jedem zusteht.
Thiels Geschichte begann vor 40 Jahren
im mecklenburgischen Ludwigslust. Die
Eltern waren von der Mehrfachbehinde-
rung ihres Sohnes überfordert. Das Jugend-
amt entzog ihnen das Sorgerecht und gab
den Jungen in ein Kinderheim. Schließlich
adoptierte ihn eine Erzieherin, die dort
arbeitete, und nahm ihn bei sich auf – für
ein Heimkind mit Mehrfachbehinderung
ein Glückslos. Morgens frühstückten sie
gemeinsam ein helles Brötchen mit Erd-
beermarmelade. Dann sammelte ein wei-
ßer Kleinbus mit getönten Scheiben
André Thiel ein und lieferte ihn am Tor
der Förderschule ab – für Menschen ohne
Behinderung war er unsichtbar.
Thiel sagt, er habe bald keinen Bock mehr
gehabt auf den Behindertentransport.
Auch die Förderschule demotivierte ihn, er
wäre lieber auf eine normale Schule gegan-
gen. Um zumindest einmal am Tag Men-
schen ohne Behinderung zu sehen, fuhr der
Junge fortan allein mit der Straßenbahn
zur Schule. Dass er selbst nie zu den Be-
rufstätigen gehören würde, die in der Tram
neben ihm saßen, ahnte er nicht. Trotz

seiner Mehrfachbehinderung glaubte
Thiel viele Jahre, er könne alles erreichen,
wenn er nur hart genug an sich arbeite.
Nach der Ermordung von Menschen mit
Behinderung im Nationalsozialismus wur-
den in den 50er-Jahren die ersten Werk-
stätten in Deutschland gegründet. Sie soll-
ten Menschen mit Behinderung von nun
an schützen – vor Übergriffen, aber auch
vor dem rauen Wind des leistungsorien-
tierten Arbeitsmarkts. Aus diesem Grund
hält die Bundesregierung noch heute an
den Werkstätten fest. Und ihre Zahl steigt
von Jahr zu Jahr.
Dabei ist seit den 90er-Jahren die Aufgagabe
der Werkstätten eine andere. In der Theo-
rie sollen sie dafür Sorge tragen, dass Men-
schen wie André Thiel auf den ersten
Arbeitsmarkt vermittelt werden, wenn sie
sich dies zutrauen. So zumindest steht es in
der UN-Behindertenrechtskonvention, die
auch Deutschland 2007 unterschrieb. Doch
in der Praxis gelingt dies so gut wie nie:
Jährlich wird weniger als ein Prozent der
Menschen in den Werkstätten in eine regu-
läre Beschäftigung vermittelt. Obwohl die
UN deshalb seit 2015 eine schrittweise Ab-
schaffung der Werkstätten empfiehlt, hält
die Bundesregierung an der Institution fest.

„Das ist alles ungerecht“


„Es gehört auch zur Wahrheit dazu“ – so
beginnt André Thiel viele seiner Sätze. Was
zur Wahrheit über den Streit um die Werk--
stätten dazugehört, hängt stark von der
Perspektive ab. Für Thiel gibt es nur eine
Wahrheit: „Das ist alles ungerecht.“ Er woll-
te nach der Schule nicht in einer Werkstatt
arbeiten. Deshalb machte er in einem spe-
ziellen Berufsbildungswerk in Greifswald
eine Ausbildung zur kaufmännischen
Fachkraft. Thiel erwähnt das beiläufig in
einem Nebensatz. Erst auf Nachfrage sagt
er voller Stolz: „Wer in der Schule eine Vier
in Deutsch hatte, der hat im Büro eigent-
lich nichts verloren. Den Menschen zu
zeigen, dass man trotz einer Mehrfachbe-
hinderung eine Ausbildung schaffen kann,
war schon ein tolles Gefühl für mich.“
Von einem ähnlichen Gefühl berichtet
auch Katrin Langensiepen. Als Kind wollte

V


om 1. Oktober an haben alle
Menschen in Deutschland
das Recht auf einen Mindest-
lohn von zwölf Euro in der
Stunde. Die SPD und ihr
Arbeitsminister Hubertus
Heil feiern dessen deutliche
Erhöhung mit dem Slogan
„Respekt vor guter Arbeit“.
Nur stimmt der erste Satz dieses Textes

nicht. In Deutschland wird es auch nach


dem 1. Oktober 320000 Menschen geben,


die arbeiten, aber dafür nicht mehr als 1,35


Euro bekommen. Sie sind in einer Werk-


statt für behinderte Menschen beschäftigt


und gelten nicht als echte Arbeitnehmer.


Denn der Hauptzweck ihrer Beschäftigung


ist es nicht, eine wirtschaftlich verwertba-


re Leistung zu erbringen. Deshalb haben


sie kein Anrecht auf den Mindestlohn.


Es gibt schon immer Kritiker, die das für


moderne Sklaverei halten, weil Unterneh-


men in den Werkstätten billiger produzie-


ren lassen könnten als in den Billiglohnlän-


dern Asiens. Fest steht aber auch, dass viele


Beschäftigte dieser Werkstätten nie eine


Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten,


weil sie dessen Anforderungen wegen un-


terschiedlicher, meist geistiger Behinderun-


gen nicht gewachsen sind. Sie finden in den


Werkstätten immerhin eine Art von Teil-


habe, erwerben den Anspruch auf eine Ren-


te, viele fühlen sich hier wohl. Für sie mögen


die Einrichtungen eine gute Lösung sein.


Aber eben nicht für alle, vor allem nicht


für jene, die trotz ihrer Behinderungen den


Willen und den Ehrgeiz haben, am „ganz


normalen Leben“ teilzuhaben. Und so ist


in den vergangenen Jahren die Kritik an


Er dachte,


er könne alles


erreichen, wenn er


nur hart genug


an sich arbeite


André Thiel hat sogar eine Ausbildung absolviert. Aber einen regulären Job fand er nie


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