Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in
der das Duopol Boeing / Airbus Risse be-
kommt. Die beiden mögen immer noch
die größten Platzhirsche sein, aber staatli-
che und private Firmen in China, Russland
und Japan machen sich auf, ein Stück vom
großen Kuchen zu holen, der immer grö-
ßer wird.
Flugzeuge bauen wird einfacher, weil
ein hoch spezialisierter Weltmarkt der Zu-
lieferer entstanden ist, die fast jedes ge-
wünschte Teil in der gewünschten Qualität
»just in time« liefern können. Die Zeiten,
in denen der Flugzeugbau noch Ausweis
der »technologischen Führerschaft der ihn
tragenden Volkswirtschaften« war, wie Jür-
gen Weber, damals Aufsichtsratschef der
Lufthansa, noch 2011 in einem Vorwort
schrieb, gehen zu Ende.
Sie sind rau geworden. Besonders für
Boeing.


Wie stets bei großen Affärenlässt sich
der Beginn der Ereignisse unterschiedlich
datieren. Manches spricht dafür, den Be-
ginn der 737-Max-Krise auf das Jahr 2008
zu setzen, als die Lufthansa bei der Farn-
borough Airshow für ihre Tochter Swiss
den geplanten Kauf von 30 Maschinen des
Typs Bombardier CS100 bekannt gab. Die
Jets, etwas kleiner als A320 und Boeing
737, waren eine komplette Neuentwick-
lung und nach Ansicht eines hochrangi-
gen ehemaligen Lufthansa-Managers »das
Beste, was es damals auf dem Markt
gab«. Der Deal war eine Provokation für
die vom Erfolg verwöhnten Airbus- und
Boeing-Manager, die nun unterschiedlich
schnell reagierten. Airbus zog die Lehren
und entwickelte zügig den A320neo.
Die Ankündigung der Europäer vom


  1. Dezember 2010, die gesamte A320-
    Familie zu überarbeiten und mit neuen,
    ungewöhnlich sparsamen und leisen Trieb-
    werken auszustatten, muss in die Boeing-
    Zentrale in Chicago eingefahren sein wie
    ein Blitz. Airbus versprach, den Kerosin-
    verbrauch um ganze 15 Prozent zu min-
    dern. Prompt verkaufte Airbus gleich im
    ersten Jahr nach der Ankündigung mehr
    als tausend Exemplare des A320neo – und
    unter den Käufern waren auch alte Stamm-
    kunden von Boeing.
    Boeing hatte damals keinen fertigen
    Plan für ein neues Flugzeug oder für eine
    passable neue 737-Version. Vor allem war
    der Konzern nicht in der Lage, die neue
    Triebwerksgeneration anzubieten. So war
    die Branche überrascht, dass Boeing nur
    neun Monate später mit Airbus gleich -
    zuziehen schien. Ende August 2011 wur-
    de der Bau der 737 Max verkündet, und
    Boeing versprach, dass die Maschine so-
    gar noch sieben Prozent günstiger betrie-
    ben werden könne als der A320neo. Für
    die Boeing-Ingenieure müssen das turbu-
    lente Zeiten gewesen sein.


Schon die kleinere CFM56-Turbine hat-
ten sie nur mit Tricks unter den Flügel der
alten 737 quetschen können. Das CFM-
LEAP-Triebwerk, das Airbus nun einset-
zen wollte, hatte aber einen Lufteinlass
mit einem Durchmesser von fast zwei Me-
tern. Auf brachiale Weise machten die
Boeing-Ingenieure passend, was partout
nicht passen wollte.
Wieder stauchten sie die Triebwerks-
gondel. Wieder gaben sie eine verkleinerte
Spezialversion des Triebwerks in Auftrag.
Sie versuchten wirklich alles, um unter
dem Flugzeug mehr Platz zu schaffen,
auch das Bugfahrwerk wurde um rund
20 Zentimeter verlängert, jeder Millime-
ter zählte. Vor allem aber brachten sie
das Triebwerk höher am Flügel und ein
ganzes Stück weiter vorn an.
Ein ehemaliger Lufthansa-Manager,
selbst studierter Luftfahrtingenieur und
jahrzehntelang an technischen Flugzeug-
begutachtungen beteiligt, ist davon über-
zeugt, dass Gerichte das Vorgehen der
Boeing-Ingenieure durchaus als »grobe
Fahrlässigkeit« einstufen könnten.
Der Ex-Lufthansa-Mann, der durch
alte vertragliche Bindungen zur Anony-
mität gezwungen ist, zeigte sich über-
zeugt davon, dass die Gesamtkonstruk -
tion der 737 Max »stümperhaft« sei. In
ihr gipfele der technische Rückstand, den
Boeing schon seit den Neunzigerjahren
aufzuholen versuchte.
Die neue Triebwerksanordnung hat die
Flugmechanik der 737 Max gegenüber all

ihren Vorgängern entscheidend verändert.
In extremen Fluglagen mit besonders stei-
lem Anstellwinkel erzeugen die unten plat-
ten Triebwerksgondeln jetzt selbst einen
signifikanten eigenen aerodynamischen
Auftrieb, ganz wie eine kleine zusätzliche
Tragfläche. Das führt dazu, dass die Nase
der Maschine unvermittelt weiter hoch-
geht – und an den Flügeln nun umso leich-
ter ein Strömungsabriss droht. Geschieht
dies, bricht der Auftrieb weg, und das Flug-
zeug stürzt ab.
Um dies zu verhindern, mussten die
Boeing-Ingenieure wieder tief in die Trick-
kiste greifen. Sie wussten, dass dieses
Flugverhalten vom Regelwerk der FAA
ausdrücklich verboten war. Damit die in
manchen Flugsituationen instabile 737
Max dennoch zugelassen werden konnte,
brauchten sie ein elektronisches Helferlein.
Die Boeing-Leute ersannen eine Software,
die den Anstellwinkel, also die Lage der
Maschine im Luftstrom, ständig über-
wacht. Sobald dieser Winkel zu riskant
wird, greift die Software ein: Das »Maneu-
vering Characteristics Augmentation Sys-
tem« (MCAS) senkt dann von sich aus und
ohne Steuerbefehl der Piloten die Nase
der Maschine ab. Dazu verstellt sie nicht
das Ruder, sondern die gesamte Höhen-
flosse am Heck der Maschine, die wirk-
mächtigste Steuerfläche eines Flugzeugs.
Nur durch solcherlei Bastelarbeit er-
reichte die 737 Max die für den sicheren
Flug notwendige Stabilität. Die Prüfer der
FAA wurden darüber frühzeitig infor-
miert und tolerierten dies. In der Rück-
schau ist fraglich, ob sie wirklich alle De-
tails der neuen Softwarelösungen kannten.
Als Boeing der FAA den MCAS-Trick erst-
mals präsentierte, war es ein System, das
nur sehr zaghaft eingriff und die Höhen-
flosse um höchstens 0,6 Grad bewegte.
Später im Entwicklungsprozess hat Boeing
das MCAS deutlich angespitzt und ihm
viel mehr Gewalt über das Flugzeug gege-
ben. Die Rede ist von Verstellungen um
bis zu 2,5 Grad. Dieses deutlich riskantere
System hat die FAA nach bisherigem
Kenntnisstand nie abgestempelt.
Aufgrund der vielen Ungereimtheiten
muss der Konzern nach Auffassung des
ehemaligen Lufthanseaten damit rechnen,
rückwirkend den Versicherungsschutz für
seine 737 Max zu verlieren. In einer Stel-
lungnahme zu den Vorwürfen schreibt
Boeing: »Die FAA berücksichtigte die end-
gültigen Konfigurations- und Betriebs -
parameter des MCAS während der Max-
Zertifizierung und kam zu dem Schluss,
dass alle Zertifizierungs- und behördlichen
Anforderungen erfüllt wurden.«
Und damit sind noch nicht alle groben
Fehler erwähnt, die derzeit diskutiert
und ermittelt werden. Unbegreiflich ist es
für viele Experten, dass sich Boeing bei
der 737 Max vom Prinzip der Redundanz

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BRIAN SMALE / DER SPIEGEL

Reporter Gates

»Kritiker werden
diskriminiert, geschnitten.«

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