Die Welt Kompakt - 08.08.2019

(Michael S) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,8.AUGUST2019 BÜCHER 25


ich die Augen und dachte unwill-
kürlich an meine frühe Kindheit
im Haus meiner Großmutter. Es
befand sich in einer Zechensied-
lung im nördlichen Ruhrgebiet,
in der es noch wenige Jahre vor
meiner Geburt Wasser nur aus
einer Pumpe am Straßenrand, ei-
nen Schweinestall neben der Kü-
che und das Plumpsklo im Gar-
ten gegeben hatte. Meine ersten
Lebensjahre waren von dieser
einfachen, heute archaisch an-
mutenden Zeit geprägt. Ich sah
vor meinem inneren Auge wieder
die Eisblumen, die im Winter an
den Fenstern erblühten, weil es
bis Ende der 70er-Jahre im gan-
zen Haus nur einen Kohleofen
gab. Erinnerte mich an die Obst-
ernte mit langen Stangen, an de-
ren Ende von Eisenzähnen um-
randete Beutel hingen. Und an
die Bratkartoffeln meiner Ur-
großmutter. Sie bereitete sie in

einer gusseisernen Pfanne zu, die
sie wie einen Diamanten hütete
und die seit einem halben Jahr-
hundert nicht gespült, sondern
immer bloß mit etwas Zeitungs-
papier ausgewischt worden war.
Mehr und mehr solcher offenbar
unvergänglichen Erinnerungen
fluteten meinen Geist.
Medikamente hatten den Jun-
kie ruhiggestellt, die Blutdruck-
messgeräte dröhnten, die
Schwester schaute im Zehn-Mi-
nuten-Takt herein, die Nacht
schritt voran. Mir kam in den
Sinn, was ich einmal über einen
alten korsischen Brauch gelesen
hatte. Danach leisteten sich
selbst die Ärmsten auf Korsika in
der Agonie mindestens drei Kla-
gefrauen, die ihnen mit ihren
Fragen dabei halfen, den Todes-
kampf hinzuziehen, damit sie
nicht einfach wie ein Hund ver-
reckten, sondern Zeit hatten,

sich alle wichtigen Erinnerun-
gen, glückliche und traurige, zu-
rück in die Seele zu rufen und ge-
meinsam mit den Klagefrauen
über sie zu lachen und zu weinen.
Auch ich badete über Stunden in-
nerlich in aus dem Unbewussten
aufsteigenden Bildern, die mir
fern, lebendig und geheimnisvoll
erschienen, dachte an den Dich-
ter Rene Char, der geschrieben
hatte, Leben heiße, eine Erinne-
rung zu vollenden, und schlief
schließlich in der von mir nie für
möglich gehaltenen Gewissheit
ein: Diese Bilder werden bleiben,
selbst wenn ich heute Nacht ster-
be, weil sie außerhalb von mei-
nem Körper sind.

TWir entnehmen den Text Mar-
tin Simons’ Roman „Jetzt noch
nicht, aber irgendwann schon“,
der am 8. August im Aufbau-
Verlag erscheint (186 S., 20 €).

A


n Polen kann man leicht
verzweifeln. Das Land
wirkt wie ein Flickentep-
pich aus Widersprüchen: Einer-
seits sind die Polen ungeheuer
innovativ, kreativ, verfügen über
eine reiche Kulturszene, das inte-
ressanteste Kino Europas und
florierende, sich prächtig entwi-
ckelnde Großstädte. Anderer-
seits kommt es insbesondere in
der Provinz immer wieder zu Ge-
walt und Hass gegen Minderhei-
ten, zu antisemitischen Angriffen
gegen jüdische Institutionen, zu
Attacken gegen LGBT-Aktivisten
wie vergangene Woche in Bialys-
tok.

VON TOMASZ KURIANOWICZ

Man könnte auch sagen: Die
Polen sind tief gespalten. Die
Journalistin Emilia Smechowski
hat den Versuch unternommen,
die Gründe für diese Spaltung
besser zu verstehen. Für ein Jahr
ist sie nach Danzig gezogen, um
mit ihrer vierjährigen Tochter
die alte Heimat neu kennenzuler-
nen. Man muss wissen: Die in
Hamburg lebende Reporterin
wurde 1983 im polnischen Wejhe-
rowo geboren. 1988 emigrierte
sie mit ihren Eltern als deutsche
Spätaussiedlerin
nach West-Berlin.
Dort taten die Sme-
chowskis das, was
viele polnische Fa-
milien getan haben:
Sie versuchten, sich
komplett zu assimi-
lieren und ihr Po-
lentum aus der eige-
nen Biografie zu til-
gen, mit dem erklär-
ten Ziel, gute, streb-
same, unauffällige
Deutsche zu wer-
den. Die Geschichte
dieser selbst ver-
ordneten Germani-
sierung hat Sme-
chowski in ihrem
Buch „Wir Strebermigranten“
schonungslos offenbart.
Nun erscheint also ihr zweites
Buch, genau zur richtigen Zeit.
Im Herbst finden in Polen Parla-
mentswahlen statt, die Stim-
mung ist so aufgeheizt wie noch
nie. Smechowski wählt einen klu-
gen Weg, um sich den zwei La-
gern zu nähern: Sie trifft Men-
schen aus allen Berufsgruppen
und Schichten, um in 25 Kapiteln,
die an Kurzreportagen erinnern,
von ihren Begegnungen mit
Links und Rechts zu erzählen.
Einer der Höhepunkte ist ein
Treffen mit dem Solidarnosc-
Gründer Lech Walesa, der sich in
den letzten Jahren zu einem ein-
samen, frustrierten Mann entwi-
ckelt hat. Walesa hat zwar immer
noch genug Kraft, um mit spon-
tanen Protestaktionen gegen die
Justizreform zu wettern. Zu-

gleich verspielt er sich bei den
Linken jede Form von Sympa-
thie, indem er mit vulgären Sprü-
chen gegen Schwule und Lesben
hetzt. Die Grenzen zwischen
Courage und Kleingeistigkeit
können in Polen ziemlich schmal
sein.
Natürlich wäre es vermessen
zu glauben, Smechowski würde
eine Antwort auf die Frage fin-
den, was die Polen so zerstritten
und zerteilt hat – in ein liberales
„Polen A“ und in ein konservati-
ves „Polen B“. Die Autorin geht
den üblichen Verdächtigen nach:
ökonomischen Unterschieden,
ideologischen Differenzen zwi-
schen den säkularen und den ka-
tholischen Polen, Entgrenzungen
des Turbokapitalismus. Was das
Buch so explosiv macht, ist Sme-
chowskis ehrliche Einschätzung,
wie gering die Chancen auf eine
Verständigung sind. Das zeigen
viele kleine symbolische Beob-
achtungen: Wenn Jaroslaw
Kaczynski nach dem Mord an
dem liberalen Danziger Bürger-
meister Pawel Adamowicz An-
fang 2019 nicht zur Schweigemi-
nute im Parlament erscheint,
drückt er eine emotionale Verro-
hung aus, die das ganze Land be-
fällt. Sie offenbart, dass die Men-

schen die Fähigkeit verlernen, ei-
nen Rest an Empathie für das an-
dere Lager aufzubringen.
Genau diese Verrohung führt
zur Legitimation von Gewalt, zur
Akzeptanz von Neonazi-Aufmär-
schen im Zentrum von War-
schau, zum Duckmäusertum,
wenn ein Pole in einer Straßen-
bahn angegriffen wird, weil er öf-
fentlich Deutsch spricht. Das ist
die bittere Erkenntnis, die durch
Smechowskis Zeilen spricht: dass
der Hass in Polen wächst. Die
Enttäuschung über die negative
Entwicklung Polens ist Sme-
chowski anzumerken. Ist eine
Überwindung der Polarisierung
überhaupt noch möglich? Wollen
die beiden Lager das überhaupt?

TEmilia Smechowski: Rückkehr
nach Polen.Hanser Berlin, 256 S.,
2 3 €.

Polen A und


Polen B


Emilia Smechowski erzählt von einem
gespaltenen Land

Emilia Smechowski ist nach Danzig gezogen,
um die alte Heimat neu kennenzulernen

PICTURE ALLIANCE / JAN HAAS

/JAN HAAS

ILLUSTRATION: KATJA FISCHER FÜR DIE WELT

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