Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.08.2019

(Joyce) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019·NR. 182·SEITE 9


Fürs Publikum öffnen wird sie erst
wieder am 7. Dezember, aber die
Sanierungsarbeiten in der Dresdner
Sempergalerie sind nun plangemäß ab-
geschlossen, und so konnte das Gebäu-
de, das die berühmte Sammlung der Al-
ten Meister enthält, gestern wieder an
die Staatlichen Kunstsammlungen
übergeben werden – auf dass nun die
Dauerausstellung vorbereitet werde,
die dann nach sechs Jahren erstmals
wieder vollständig zu sehen sein wird.
Die italienischen Gemälde, auch die
Sixtinische Madonna als bekanntestes
Werk der Sammlung, werden vor rote
Stoffwände gehängt werden, für die
niederländische und deutsche Kunst
ist Grün vorgesehen, Bilder von Fran-
zosen und Spaniern werden fortan auf
blauem Stoff präsentiert. Rund 750 Bil-
der alter Meister und etwa vierhundert
Skulpturen von der Antike bis zur Ba-
rockzeit müssen dabei arrangiert wer-
den. Die Sanierung war vor allem nö-
tig, um eine moderne Klimatechnik zu
installieren, fünfzig Millionen Euro
hat der Umbau des Gebäudes gekostet.
Während der Arbeiten waren abwech-
selnd große Teile des Gebäudes ge-
sperrt gewesen; auf dem verbleiben-
den Platz hatte man eine konzentrierte
Version der Dauerausstellung sehen
können. F.A.Z.

I


m Sommer sind die Universitäten
tot. Der Lehrbetrieb ist eingestellt,
die Prüfungsphasen gehen schnell
vorbei, und die Wissenschaftler ha-
ben endlich Zeit, sich ihrer Forschung zu
widmen, die vor lauter Verwaltungstätig-
keit, Projektanträgen und Bologna-Bache-
lor-Master-Reformen brachliegt. Manch-
mal aber ist die Sommerpause auch eine
gute Gelegenheit, unliebsame Sachverhal-
te möglichst ungesehen unter den Tep-
pich zu kehren. Das Interdisziplinäre Zen-
trum für Diktaturforschung an der Hum-
boldt-Universität zu Berlin (HU) gehört
zu diesen unangenehmen Dingen, derer
sich die Universität am liebsten ohne viel
Aufhebens entledigen würde.
Die Idee des Forschungszentrums geht
auf den Historiker Jörg Baberowski zu-
rück, der den dafür erforderlichen An-
trag in Kooperation mit der juristischen
Fakultät an der HU einreichen wollte.
Wo sonst um ausreichend Mittel, Aner-
kennung der Wissenschaftler und die Re-
levanz ihrer Forschungsthemen gerun-
gen wird, stand das Verfahren hier schon
im Frühjahr auf dem Spiel, weil die Uni-
versität die Einhaltung grundlegender
wissenschaftlicher Regeln nicht gewähr-
leisten konnte. Noch während des An-
tragsverfahrens wurden aus dem Umfeld
der Studentenvertretung via Twitter In-
halte aus den universitätsinternen Gut-
achten veröffentlicht, die zur Beurtei-
lung des geplanten Projekts eingeholt
worden waren (F.A.Z. vom 21. Februar).
Auf ein Neues, hätte man nach diesen
schweren Versäumnissen der Universität
denken können: Retten, was noch zu ret-
ten ist, um das Antragsverfahren wenigs-
tens formal zum Erfolg zu führen. Statt-
dessen ist das Gegenteil passiert. Erst
wurde die Beratung über das Forschungs-
zentrum im Akademischen Senat wochen-
lang verschoben. Dann zog sich die juristi-
sche Fakultät aus dem Vorhaben zurück.
Damit war eine der formalen Vorausset-
zungen für den Antrag nicht mehr erfüllt,
an dem mindestens zwei Fakultäten betei-
ligt sein müssen. Erst nach diesem Rück-
zug, als jedem hätte klar sein können,
dass eine Verhandlung über das geplante
Forschungszentrum unter diesen Umstän-
den gar nicht möglich ist, wurde sie auf
die Tagesordnung des Akademischen Se-
nats gesetzt.
Als Baberowski davon im Juni Kenntnis
bekam, bat er Universitätspräsidentin Sa-
bine Kunst darum, die Beratung vorerst zu-
rückzustellen, weil sein Projekt sonst aus
sachfremden Gründen abgelehnt werden
müsse. Doch seine Argumente liefen ins
Leere. Eine Woche später wurde im Aka-
demischen Senat darüber verhandelt, und
jeder, der wollte, konnte umgehend erfah-
ren, zu welchem Ergebnis die Beteiligten
gekommen sind. Der Antrag für ein Inter-
disziplinäres Zentrum „Vergleichende Dik-
taturforschung“ sei zurückgezogen wor-
den, twitterte Bengt Rüstemeier noch am
selben Tag. Er engagiert sich bei den Jusos
und gehört zu jenen Mitgliedern der Stu-
dentenvertretung, die in den sozialen Netz-
werken gerne vorn dabei sind, wenn es
darum geht, wahlweise die Universitätslei-
tung oder Baberowski zu attackieren. Die
Präsidentin habe erklärt, dass der Antrag
nicht mehr gestellt werde: „Im Ergebnis
ein Erfolg.“
Was die Studenten triumphierend als
Erfolg verkünden, müsste die Universi-
tätsleitung sofort auf den Plan rufen.
Denn noch im Frühjahr, als Inhalte der in-
ternen Gutachten bekannt wurden, hatte
sie beteuert, einen verlässlicheren Um-
gang mit vertraulichen Informationen zu
gewährleisten. Eingeschritten ist sie aber
auch in diesem Fall nicht – und das, ob-
wohl der Tweet falsche Angaben enthält.
Nach Auskunft von Baberowski hat er
den Antrag nicht zurückgezogen, sondern
aus formalen Gründen darum gebeten,
ihn vorerst von der Tagesordnung zu neh-
men. Wie konnte es dann dazu kommen,
dass Sabine Kunst – sollte der Tweet stim-
men – mitgeteilt hat, der Antrag würde
nicht mehr gestellt?
Zum genauen Hergang schweigt sich
die Universitätsleitung aus. Nicht weniger
irritierend ist die Stellungnahme ihres
Pressesprechers zum Stand des Projekts:
Die Debatten über das Zentrum „Verglei-
chende Diktaturforschung“ seien medial
breit diskutiert worden und hätten eine
Schärfe angenommen, „vor deren Hinter-
grund der Akademische Senat als eigent-
lich zuständiges Entscheidungsgremium
mit der Sache selbst gar nicht mehr befasst
werden konnte“. Aus diesem Grund sei

der Antrag „insgesamt in so schwere Fahr-
wasser geraten, dass die Fortführung des
Prozesses nicht mehr sinnvoll erscheint“.
An keiner Stelle erwähnt die Universi-
tätsleitung, welche inhaltlichen Erwägun-
gen aus ihrer Sicht für oder gegen die
Etablierung eines solchen Forschungszen-
trums sprechen – und nur darum sollte es
eigentlich gehen. Von wissenschaftlichen
Kriterien wie Erkenntnisinteresse, For-
schungsstand, Thesen, Machbarkeit ist in
den Verlautbarungen der Universität sehr
wenig zu hören. Sie gibt vor, sich nicht po-
litisieren lassen zu wollen, kapituliert mit
einer solchen Begründung aber gleichzei-
tig vor der ideologischen Vereinnahmung
seitens einiger Studenten, die sehr erfolg-
reich Stimmung gegen Baberowski ma-
chen. Als „rechtsradikaler Professor“,
„Nazi-Apologet“ und „Geschichtsrevisio-
nist“ ist er nicht nur auf der „World So-
cialist Web Site“ verschrien, die auch Be-
hauptungen enthält, er wolle kritische Stu-
denten von der Uni entfernen und sie
mundtot machen. Eine vertiefte Ausein-
andersetzung mit seiner Forschung findet
sich in diesen Anfeindungen selten. Ange-
griffen wird Baberowski vor allem für sei-
nen „Antikommunismus“ und seine Kri-
tik an Merkels Flüchtlingspolitik. Pau-
schale Verurteilungen und Häme finden
sich in den sozialen Netzwerken dabei zu-
hauf; Argumente und die Stärke, politi-
sche Differenzen auszuhalten, sucht man
vergeblich.
Es ist kaum möglich, etwas anderes in
diesen Agitationen zu lesen als eine be-
wusst vorangetriebene Diffamierung ei-
nes politisch unbequemen Professors.
Hat die Universitätsleitung in diesem Fall
nicht eine Fürsorgepflicht gegenüber ih-
ren Beamten und Angestellten? Die Uni-
versität äußert sich dazu nicht. Dabei
dürfte sie im Sinne der Wissenschaftsfrei-
heit kein Interesse an einer ideologischen
Verengung der Diskurse haben, die hier-
zulande überall zu beobachten ist. Von ei-
ner „Professorenjagd“ sprach kürzlich
das Magazin „Cicero“, Bundesbildungsmi-
nisterin Anja Karliczek erinnerte an die
Meinungsfreiheit von Professoren, und
der Deutsche Hochschulverband sah sich
gezwungen, eine Erklärung zu verabschie-
den, die eigentlich eine Selbstverständ-
lichkeit sein sollte: „Wer die Welt der Uni-
versitäten betritt, muss akzeptieren, mit
Vorstellungen konfrontiert zu werden,
die den eigenen zuwiderlaufen.“
Baberowski sagt im Gespräch, die
Humboldt-Universität habe sich längst
vom Prinzip der Wissenschaftsfreiheit
verabschiedet. Trotz mehrfacher Nachfra-
gen habe er nicht einmal eine schriftli-
che Mitteilung über den offenkundig ge-
fassten Beschluss erhalten, den Antrag
zur Errichtung des Interdisziplinären
Zentrums „Vergleichende Diktaturfor-
schung“ nicht mehr zu verhandeln. Die
Juristen, die anfangs an dem Forschungs-
vorhaben beteiligt waren, wollen sich zu
den Vorgängen nicht äußern. Sie berufen
sich auf eine vom Akademischen Senat
erbetene Schweigepflicht, an die sich die
Universitätsleitung selbst allerdings nur
in Teilen hält.

E


s liegt auf der Hand, dass ihr Ge-
baren auch etwas mit der Exzel-
lenzstrategie zu tun hat. Im Juli
sind die Berliner Universitäten
wieder zu „exzellenten“ gekürt worden.
Gerede über schwerwiegende Verfahrens-
fehler, Diskreditierungen anerkannter
Wissenschaftler und politische Zerwürf-
nisse käme dem Begehren, im von Ran-
kings besessenen Wissenschaftsbetrieb
möglichst gut dazustehen, nicht gerade zu-
pass: Exzellent ist, wer es vermeidet, in
der Öffentlichkeit anzuecken.
Dieser vorauseilende Gehorsam gegen-
über einem mitunter bloß vermuteten
Mainstream ist in diesem Fall umso er-
staunlicher, als die Sorge der Universität
nicht etwa einer Masse von Wutbürgern
gilt, deren Wählerstimmen gewonnen
werden müssten, sondern einem kleinen
Kreis von Studenten, die jede Verhältnis-
mäßigkeit verloren haben. Eine neue Re-
volution ist von ihnen sicher nicht zu er-
warten. Politische Agitation war gestern,
studentischer Vulgärmarxismus vorges-
tern. „Die meisten Studenten sind unpoli-
tisch und sagen zu diesen Fragen gar
nichts“, bestätigt Baberowski. Eine Min-
derheit gebe hier den Ton an. Wie kann es
angesichts dieser Größenverhältnisse
sein, dass die HU nicht Herrin der Lage
wird und es zulässt, dass die Wissenschaft
Schaden nimmt?
Die Humboldt-Universität hatte nach
dem Skandal um die veröffentlichten Gut-
achten die Gelegenheit, ihre Arbeit bes-
ser zu machen. Stattdessen gibt ihr Füh-
rungspersonal klein bei, weil Exzellenz
auf der einen und wenige, aber lauthals
polternde Studenten auf der anderen Sei-
te drohen. So viel Skrupel hätte man sich
bei der Errichtung des Islam-Instituts ge-
wünscht, das trotz massiver Kritik an der
Beteiligung reaktionärer Islam-Verbände
im Wintersemester seinen Betrieb an der
HU aufnehmen wird (F.A.Z. vom 11. Sep-
tember). Es stünde der Universität gut zu
Gesicht, für die Freiheit und den Fort-
schritt der Wissenschaft einzustehen und
nicht feige vor dem Zeitgeist zu kapitulie-
ren, der sie in ein politisches Zwangskor-
sett stecken will. HANNAH BETHKE

Die Feigheit


der Wissenschaft


D

er Berliner Kreuzberg ist kein rich-
tiger Berg, jedenfalls nicht, wenn
man damit das meint, was in Bayern so
herumsteht. Er ist eher ein Hügel. Das
Viertel darunter heißt auch Kreuzberg.
Auf dem Kreuzberg gibt es einen Was-
serfall, der dem Zackelfall im Riesenge-
birge nachgebildet ist. Was es, anders
als im Riesengebirge, auf dem Kreuz-
berg nicht gibt, sind Geröllabgänge:
Noch nie fielen Felsbrocken von der
Größe eines Sofas vom Kreuzberg in
die Straßen von Kreuzberg hinein; ent-
sprechend verblüfft waren die Kreuz-
berger, als an der Bergmannstraße
plötzlich lauter solche Gesteinsbro-
cken herumlagen. Die Findlinge waren
vom Bezirk abgelegt worden, um Au-
tos, insbesondere Falschparker, fernzu-
halten. Berlin will eine Verkehrswen-
de. Wie so etwas gehen kann, zeigt Ko-
penhagen: Dort hat man ganze Straßen-
züge in reine Fahrradstraßen umgewan-
delt, die Autos und der Lieferverkehr
kommen von hinten an die Häuser. Das
funktioniert ganz gut, weil man Fortbe-
wegungsmittel, die einander in die Que-
re kommen können, säuberlich vonein-
ander trennt. In Berlin gibt es Pläne, ge-
nau das Gegenteil zu tun und Straßen
in „Shared Spaces“ zu verwandeln, in
„Begegnungszonen“, in denen es keine
Bürgersteige und Radwege und Fahr-
bahnen mehr gibt, sondern einen
Raum, den sich „alle teilen“ und der, so
der Bezirk, das „verträgliche Miteinan-
der aller im Straßenverkehr“ fördert.
Der Fünfjährige auf seinem Roller
muss dann mit dem Fahrradkurier und
dem Lastwagenfahrer „verhandeln“,
wer wo fährt. Wer schon einmal Fünf-
jährigen, Fahrradkurieren oder Lastwa-
genfahrern begegnet ist, ahnt, dass die-
se Verhandlungen nicht einfach wer-
den. In der Berliner Bergmannstraße
zeigt sich währenddessen, wie die Zu-
kunft des städtischen Raums aussehen
wird, wenn man seine Gestaltung an
ausgabefreudige Surrealisten delegiert.
Die verkehrsberuhigte Zone wurde
markiert mit Hunderten von giftgrü-
nen Punkten, die die Straße wie den Bo-
den einer Diskothek aussehen lassen
und zu schnelle Autofahrer verwirren
sollen, dazu wurden auf früheren Park-
plätzen „Parklets“ errichtet, Holzpla-
teaus mit Sitzecken und orangen Stahl-
kisten, in denen undefinierbare Gräser
wachsen. Dort zusammensitzen und
sich sonnen, wo früher Autos parkten,
klingt gut. Nur: In Italien hätte man ein-
fach im Sommer ein paar Stühle auf die
Straße gestellt, in Frankreich, wie bei
„Paris Plage“ üblich, ein paar Ladun-
gen Sand auf die Fahrbahn geschüttet,
die Polizei hätte mit Halteverbotsschil-
dern für besiedelbare Parkflächen sor-
gen können – aber solche Improvisatio-
nen gehen deutschen Planern nicht
weit genug. Man wollte es massiv:
Mehr als anderthalb Millionen Euro
wurden für grüne Punkte, Felsen und
fünfzehn festungsartige „Aufenthalts-
module“ ausgegeben. Im November sol-
len sie wegen Misserfolgs wieder abge-
baut werden. Auch die Findlinge wur-
den schnell wieder abtransportiert – of-
fiziell wegen der Fertigstellung der Bau-
stelle, aus der sie Falschparker heraus-
halten sollten. Ein anderer Grund
könnte sein, dass sich nachts Fahrrad-
und Elektrorollerfahrer beim Dagegen-
fahren eine blutige Nase holten und die
Felsbrocken so nicht den alten Autover-
kehr, sondern die neue E-Mobilität
recht rabiat zum Erliegen brachten.
Nur SUV-Fahrer, die die Stadt eh als ge-
fährliche Wildnis betrachten, fürchte-
ten die Felsen nicht. „Die Findlinge
werden nun zur Sanierung des Wasser-
laufs im Viktoriapark eingesetzt“, er-
klärt das Bezirksamt schmallippig. So
kommt wenigstens der Felsen noch da-
hin, wo er sich gern aufhält. nma

JERUSALEM, 7. August
Lässt sich Max Brod ohne Franz Kafka
denken? Offenbar kaum, wenn es um
den Nachlass des Verwalters, Freundes
und Bewahrers geht. Dabei war Brod zu
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
noch der weit erfolgreichere Schriftstel-
ler. Im letzten Augenblick vor dem Ein-
marsch der Wehrmacht nach Prag floh
Brod nach Palästina und nahm Kafkas
Schriften mit nach Tel Aviv, wo er 1968
starb. Nun sind die letzten Kartons sei-
nes Nachlasses aus Zürich und Berlin in
der israelischen Nationalbibliothek ange-
kommen. Darunter befinden sich von
Kafka drei verschiedene handschriftli-
che Entwürfe zu „Hochzeitsvorbereitun-
gen auf dem Lande“, Hunderte Briefe an
Freunde wie Brod sowie bisher unveröf-
fentlichte Zeichnungen.
Um dieses Erbe ist lange ge-
stritten worden. Brod hatte sei-
ner Sekretärin Esther Hoffe
seinen Nachlass übertragen,
die damit nicht eben pfleglich
umging. Einen Teil hatte sie of-
fenbar verkauft, einst behaup-
tete sie auch, Einbrecher hät-
ten Dokumente gestohlen. Je-
denfalls lagerten bis zuletzt
kistenweise Dokumente in ei-
nem Zürcher Bankschließ-
fach, zudem stellte das Bundes-
kriminalamt in Wiesbaden in
einem Zufallsfund Tausende
Manuskriptseiten sicher, nach-
dem ein Kunstfälscherring auf-
geflogen war. Gerichte haben
entschieden, dass diese nach
Israel zurückzubringen sind.
Gestern hat der Chefarchivar
der Nationalbibliothek in Jeru-
salem fünftausend Blätter aus Deutsch-
land und mindestens ebenso viele aus Zü-
rich feierlich entgegengenommen.
Dabei hätte eigentlich Brod im Mittel-
punkt stehen sollen. „Fünfundneunzig
Prozent der Materialien, die wir nun ha-
ben, sind Brod, das schließt auch die Do-
kumente aus Berlin und der Schweiz
ein“, sagt Stefan Litt, der für den deutsch-
sprachigen Bestand zuständige Archivar
der Nationalbibliothek. Aber auch die is-
raelische Bibliotheksleitung stellte Kaf-
ka in den Mittelpunkt ihrer Präsentati-
on: „Es ist nun klarer als je zuvor, dass
die Nationalbibliothek in Jerusalem das
rechtmäßige Zuhause für die Brod- und
Kafka-Papiere ist“, so der Bibliotheksvor-
sitzende David Blumberg. Ein israeli-
scher Rechtsanspruch auf anderes Kaf-
ka-Material lässt sich daraus wohl nicht
ableiten.
Stefan Litt sichtet den schriftlichen
Brod-Nachlass weitgehend allein. Und

Brod war ein Vielschreiber: ein Kulmina-
tionspunkt der damaligen europäischen
Literaturszene, der Tausende Briefe ver-
fasste, die heute unschätzbare Quellen
bieten. Sein Tagebuch der Treffen des
Prager Kreises aus dem Café Savoy, wo
er sich mit Kafka, Samuel Hugo Berg-
man oder Oskar Baum traf, liegt jetzt
auch in Jerusalem, ebenso wie das Manu-
skript seines Buchs über die Gruppe. Im
Gegensatz zu Kafka war Brod sich seiner
Bedeutung offenbar ziemlich sicher. Je-
denfalls hatte er sogar seine Schulhefte
aufbewahrt und mit nach Tel Aviv ge-
bracht.
Die Lieferung aus Berlin umfasst ein
nahezu komplettes Manuskript eines frü-
heren Buches aus den zwanziger Jahren,
„Die Frau die nicht enttäuscht“. In dem

Roman tauchen auch zionistische Ideen
auf. Neben Tagebüchern ist Brods frühe
Korrespondenz mit seiner ersten Frau
Elsa erhalten, die 1942 in Israel starb.
Elsa kannte Brods Freunde gut, und man
tauschte sich auch über Kafka aus, „über
das, was er gesagt und gemacht hat, das
sind natürlich alles tolle Sekundärquel-
len“, sagt Litt.
Größere Bekanntheit haben trotzdem
die rund zweihundert Original-Briefe
von Kafka an Brod, auch wenn sie be-
reits kopiert und publiziert wurden. Da
Kafkas Werke nicht mehr dem Urheber-
recht unterliegen, sollen diese Schriften
sofort digitalisiert werden. „Woran wir
denken, ist die digitale Zusammenfüh-
rung eines Franz-Kafka-Portals mit al-
len Sachen, die es gibt“, sagt Litt. Die
Zusammenarbeit mit dem Literaturar-
chiv Marbach etwa sei mittlerweile kolle-
gial und kooperativ, „wir möchten die Be-
ziehungen auch ausbauen.“

Bei Brod dagegen gilt noch Urheber-
rechtsschutz. Dessen Nachlass gehört
nun einer öffentlichen Stiftung, die durch
die Nationalbibliothek betreut wird. Sie
hat den Auftrag, „dafür zu sorgen, dass
der Nachlass allen zur Verfügung steht,
die daran arbeiten dürfen, und dass das
Werk von Brod verlegerisch relevant
bleibt“, sagt Litt. Während Kafka die letz-
ten Jahre seines Lebens etwas Hebräisch
gelernt hatte – sein Lernheft befindet
sich nun ebenfalls in Jerusalem –, bleibt
dessen persönliche Verbindung zum Zio-
nismus uneindeutig. Bei Brod, der die is-
raelische Identität gleichsam dazugenom-
men hatte, ist das anders. In Tel Aviv
wirkte er als Dramaturg am Habima-
Theater, wo er Kafkas „Schloss“ auf die
Bühne brachte. Und wenn Brod im öster-
reichischen Kurort Bad Gast-
ein weilte, habe er sich gefreut,
dort Israelis zu finden. „Wie
schön, dass wir dort alle zusam-
men sitzen“, schrieb Brod dar-
über einst.
Früher wurde Kafka in Israel
noch in den Schulen gelesen,
heute passiert das kaum mehr.
Brod ist öffentlich präsenter. Je-
denfalls ist in Israel keine Stra-
ße nach Kafka benannt, drei
Straßen sind es aber nach
Brod, dem Träger des Bialik-Li-
teraturpreises. Die israelische
Nationalbibliothek hat sich ver-
pflichtet, eine Anthologie von
Brods wichtigsten Werken auf
Hebräisch herauszugeben. Litt
sagt, er könne sich vorstellen,
„dass Brods ältere Romane, die
sich teilweise gar nicht schlecht
lesen, vielleicht einen gewissen
Anklang hier in Israel finden“. Literari-
sche Rückblicke wie etwa Stefan Zweigs
„Die Welt von Gestern“ sind populär in
Israel. „Das ist eine Welt, die viele Men-
schen in Israel kennen aus den Geschich-
ten ihrer Eltern und Großeltern, die von
früher, vom Leben in Europa erzählten,
und das ist letztlich auch das, was Max
Brod in seinen frühen Romanen tut,
wenn er die Bäderwelt in der Sommerfri-
sche beschreibt, die jüdischen Familien,
die dort hinkommen, und die Interaktio-
nen und ersten zionistischen Diskussio-
nen.“
Brod hätte guten Grund gehabt, mit
Deutschland zu brechen. Er tat es nicht.
Sein Bruder Otto, selbst schriftstellerisch
tätig, wurde in der Gaskammer umge-
bracht. Max Brod rettete ein Schauspiel,
das Otto in Theresienstadt geschrieben
hatte; es war dort viermal aufgeführt wor-
den. Auch dieses Typoskript gehört zum
Nachlass. JOCHEN STAHNKE

Endlich im rechtmäßigen Zuhause: Der Nachlass in Jerusalem


Pünktlich fertig


Sanierung der Dresdner
Sempergalerie

Spur der Steine


Seiner Bedeutung war er sich gewiss


Nach vielerlei Irrwegen: In Jerusalem wird der Nachlass von Max Brod vorgestellt


Der enge Mainstream


hatdie Hochschulen


erreicht: Im Streit


um ein Vorhaben


des Historikers Jörg


Baberowski entledigt


sich die Humboldt-Uni-


versität eines politisch


unliebsamen Professors.


Protagonist und Chronist der Prager Literatur: 1964 kehrte Max Brod zu einerLesung in seine Heimatstadt zurück. Fotos Picture Alliance

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