Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1

Das Mädchen hofft, nicht aufzufallen. Es
hofft, dassdie Zeit schnell vergeht, obwohl
fünf Stunden lange dauern, eigentlich end-
los. Es hofft, nichts falsch zu machen, nicht
in der Schule. Nicht in Deutschland. Das
Mädchen hofft, dass sie Mathe haben, weil
es Mathe an den Zahlen erkennt. Es
braucht keine Sprache für Mathe. Das Mäd-
chen hofft am meisten: übersehen zu wer-
den. Es erinnert sich in seiner Mutterspra-
che daran, wie es war, jemand zu sein.
Das Mädchen hat keine mangelnden
Deutschkenntnisse, es hat praktisch keine.
Es kann zwei Sätze, und beide hat es aus
dem dicken, braungebundenen Wörter-
buch zusammengestückelt und auswen-
dig gelernt: „Ich verstehen Deutsch, aber
nicht sehr gut.“ Und: „Ich wollen mit deut-
sche Kinder Freundschaft halten.“ Es kann
auch noch „Hände hoch!“ und „Hitler ka-
putt“, aber es weiß genug, um diese Sätze
dort zu lassen, wo es sie her hat: In sowjeti-
schen Filmen, in denen die Soldaten der
sowjetischen Armee die herzlosen Deut-
schen besiegen.
Dass es immer noch leichter fällt, „das
Mädchen“ zu schreiben. Obwohl ich das
bin, das Mädchen, obwohl ich das Mäd-
chen nicht mehr bin, obwohl ich alles getan
habe, um nie wieder dieses Mädchen zu
sein.
Eine schwäbische Kleinstadt, die vierte
Klasse, Mai 1992: Ich verstehe Mathe – die
Zahlen – und Musik – die Noten. Sonst ver-
stehe ich nichts. Deutsch, Heimat- und
Sachkunde, und was man sonst in der
Grundschule so lernt, sind keine Fächer,
weil sie Farben sind. Das sehe ich, erst ver-
wundert, dann bewundernd: Jedes Fach
scheint einen andersfarbigen Heftum-
schlag zu haben. Das weiß ich: Dass ich mon-
tags rot, gelb, lila, grün habe, und Mittwoch
zwei Mal blau. Donnerstag morgens teilt
sich die Klasse auf, ich gehe mal mit der
einen, mal mit der anderen Hälfte mit, der
Gerechtigkeit halber. Es dauert Monate, bis


ich das verstehe: katholische und evangeli-
sche Religion. Ich bin Jüdin, aber das sage
ich nicht, weil ich ja schon das andere bin:
Russin. Die Russin: Sie lachen. Weil ich zum
Schwimmunterricht ohne Schwimmsa-
chen auftauche, weil ich keine Brotdose ha-
be, weil ich ich bin vor allem.
Einmal bittet die Lehrerin zwei Mäd-
chen, der Integration halber, mit mir zu
sprechen, was ich mehr spüre, als dass ich
es wortwörtlich verstehe. Es ist eine Last:
Elf Jahre alt zu sein und andere von der ei-
genen Existenz erlösen zu wollen. Die Leh-
rerin findet, es sei besser für mich, im kom-
menden Schuljahr in eine Förderklasse zu
gehen, um erst einmal Deutsch zu lernen,
aber meine Mutter findet das nicht. Ich fin-
de, dass meine Mutter peinlich wirkt, wie
sie das der Rektorin erklärt, mit ihren stol-
pernden und flehenden Sätzen, und dass
es zu viele Stunden sind, die ich bis zu den
Sommerferien zähle.

In den Sommerferien lerne ich Deutsch
auf die einzige Weise, die mir einfällt: mit
Pippi Langstrumpf. Das ist eine Geschich-
te, die später, als ich beginne, Romane auf
Deutsch zu schreiben, allen gefällt, die
mich danach fragen, wie es kommt, dass
ich mit elf ohne Deutschkenntnisse nach
Deutschland kam und nun Bücher schrei-
be. Lindgrens Bücher, die ich auf Russisch
auswendig kenne, und nun aus der Büche-
rei auf Deutsch ausleihe, lese ich unter
dem Stacheldrahtzaun, der unser Asylan-

tenwohnheim umzäunt. Ich lese alleine.
Meine Eltern sind nicht da, weil sie tags-
über einen Deutschkurs besuchen, und
sonst sind sie nicht da, weil sie mit allen
Kräften versuchen, herauszufinden, wie
man das macht: in Deutschland leben.
Nächtliche Sirenen, weil Schlägereien auf
dem Asylantenwohnheimgelände Polizei-
einsätze fordern, nächtliche Ängste, weil
die Sommerferien endlich sind, und ich
noch einmal in die vierte Klasse komme.
Eine schwäbische Kleinstadt, die vierte
Klasse, August 1992. Das Mädchen hat
mangelnde Deutschkenntnisse. Es hat Pip-
pi Langstrumpf drei Mal auf Deutsch gele-
sen, einmal „Karlsson vom Dach“ und
sechs Mal einen Bibelcomic, den gute, mis-
sionierende Christen vor dem Wohnheim
kostenlos an die ungläubigen Asylanten
verteilten. Das Mädchen wiederholt die
vierte Klasse, es hat einen neuen Lehrer.
Der Lehrer spricht Schwäbisch, das ist das
schwierigere Deutsch.
Der Lehrer fragt das Mädchen gleich
am ersten Tag, was es gerne mache. Ich
kann das nicht langsam genug ausspre-
chen: Er fragt mich. „Lesen“, sage ich, und
der eigenen mangelnden Deutschkenntnis-
se bewusst, füge ich hinzu: „Buch.“ Er
schlägt mir vor, eine Geschichte zu schrei-
ben. Ich glaube zu verstehen, dass er mir
das vorschlägt, ich glaube das, weil ich das
inhaltlich eigentlich nicht glauben kann,
ich bin mir der mangelnden Deutschkennt-
nisse bewusst. Ich nicke, weil ich gelernt ha-
be, dass das die einfachste Antwort ist. Sie
lassen mich dann meistens in Ruhe.
In Mathe schreibe ich geliebte Zahlen,
sie ergeben einen Sinn. Ich schreibe die Lö-
sungen so schnell herunter, dass es dem

Lehrer auffällt, der mich an die Tafel ruft.
Dorthin schreibt er eine Aufgabe, die
schwieriger ist, als was wir bis eben gerech-
net haben. Das Ergebnis weiß ich, ich gra-
be in meinen mangelnden Deutschkennt-
nissen nach den deutschen Zahlen. „Fünf-
unddreißig“, sage ich, ich flüstere es. Die
Sprache muss ich noch lernen, und die
Lautstärke muss ich noch lernen. Und erst
recht „ich“ in dieser Sprache zu sagen. Der
Lehrer sagt nichts. Ich sage auch nichts, ich
rechne noch einmal im Kopf. Und noch ein-
mal, obwohl das Ergebnis stimmt. Da
drückt er mir die Kreide in die Hand, ich
soll die Zahl an die Tafel schreiben.
Es ist klar, wie die Geschichte endet. Ich
schreibe das richtige Ergebnis, die Drei-
undfünfzig an die Tafel, das soll mal einer
verstehen, warum die Deutschen die Zah-
len richtig herum schreiben, aber falsch
herum aussprechen. Da klatscht der Leh-
rer, dann klatschen sie alle, die Deutschen
klatschen, für mich. Die Deutschen, unter
denen mehrere türkisch-, polnisch-, kroa-
tisch- und so weiter-stämmige Schüler
und Schülerinnen sitzen, aber auch das ver-
stehe ich noch nicht. Der Lehrer schickt
mich von Tisch zu Tisch, ich soll den ande-
ren beim Rechnen helfen. Er nennt mich
Matheexpertin. Er fragt herum, ob jemand
dem Schriftstellerklub beitreten möchte,
den er heute mit mir gegründet habe.
Den Weg von der Schule ins Asylanten-
wohnheim kann man fliegen, wenn man
zwei Dinge ist: Matheexpertin. Und Schrift-
stellerin, was ich in Gedanken so buchsta-
biere wie damals: „Schriftschtalerin“.
Das ist eine schöne Geschichte, sie en-
det gut. Sie endet mit diesem Text, den ich
schreibe, weil ein CDU-Politiker sagte,

dass Kinder, die nicht gut Deutsch spre-
chen und verstehen, an Grundschulen
noch nichts zu suchen haben. Dem Schrift-
stellerklub traten außer mir Steffi, Svenja,
Nicole und Bernhard bei. Von Steffi lernte
ich das Wort „meinetwegen“, dessen Be-
deutung ich nicht kannte, und das so
schön klang. Es schien auf jede Frage als
Antwort zu passen, das kam mir gelegen
bei Fragen, die ich nicht verstand. Von
Svenja lernte ich, dass „Emil aus Lönneber-
ga“ auf Deutsch Michel heißt, TKKG, Ge-
schenkpapier und Doppelkekse, ein deut-
sches Wunder. Von Nicole lerne ich, dass
Freundschaft in Deutschland nicht heißt,
dass man einander besucht, zumindest
nicht, wenn einer in der besseren Gegend
lebt und der andere hinter Stacheldraht-
zaun. Von Bernhard lerne ich, dass man
nicht aus Russland kommen muss, um an-
ders zu sein, und endlich ein bisschen
Schwäbisch.

Das ist eine Geschichte mit einem guten
Ende. Es ist keine singuläre Geschichte, sie
ist eine, die den Prolog zur heutigen Gesell-
schaft erzählt. Sie erzählt die Unsicherhei-
ten, die Ängste, die Menschen, die man nie
vergisst: die beigetragen haben, dass man
werden durfte, wer man heute ist. In mei-
nem Fall mein Schwäbisch sprechender
Lehrer. Er hatte keine Fortbildungen zur In-
tegration von Kindern mit mangelnden
Deutschkenntnissen gemacht, er wusste
nichts über Juden, die aus der Sowjetunion

kamen, also tat er, was logisch erscheint:
Er fragte mich. Sie erzählt die Momente
des Nichts, in denen das Ich verschwindet,
die nicht wegzureden sind, auch nicht spä-
ter. Sie erzählt, wie man von Fettnäpfchen
zu Fettnäpfchen stolpert, wenn man eine
fremde Kultur begreift.
Der Humor kommt später, wenn man al-
les begriffen hat, oder nicht mehr meint, al-
les begreifen zu müssen. Sie erzählt die Zu-
sammenstöße, aus denen ein anderes Zu-
sammen wird, das Zusammenleben, aber
sie vergisst nicht den Schmerz. Einsamkeit
erzählt sie auch, die größte, weil man noch
klein ist, was das Alleinsein größer macht,
vor allem aber erzählt sie den Anfang.
Der Anfang wird im Präteritum erzählt,
ich kam, stand, saß, wartete, ich verstand,
sagte, mochte nichts, und heute schreiben
wir Geschichten auf, pflegen und heilen
Menschen, programmieren Apps, steuern,
bauen und reparieren Züge, Flugzeuge, Au-
tos, drehen Filme, lehren Kinder, lehren Er-
wachsene, erfinden Dinge, eröffnen Ge-
schäfte und Restaurants, ziehen Kinder
groß, mit denen wir Deutsch und Fremd-
sprachen und viel zu viel Mischmasch spre-
chen, gehen wählen und werden gewählt,
essen Doppelkekse, arbeiten, trauern, lie-
ben, lachen und ärgern uns: über uns
selbst und über unser Deutschland.
Das Mädchen hält sein erstes deut-
sches Zeugnis in der Hand. Da steht: „Sie
nimmt aufgrund mangelnder Deutsch-
kenntnisse nicht am Unterricht teil und äu-
ßert sich nur nach ausdrücklicher Auffor-
derung in Ein-Wort-Sätzen.“ Das Mädchen
ist nicht traurig über diese Worte, es ver-
steht sie nicht. Es versteht: Der Name ihres
Vaters im Zeugnis ist falsch geschrieben.
Das Mädchen bin ich. Ich habe gelernt, das
Ich laut zu sprechen.

Die Autorin, geboren 1981 in Sankt Petersburg,
lebt in München. Zuletzt erschien von ihr der Ro-
man„MehrSchwarz als Lila“ (Rowohlt Berlin).

von catrin lorch

P


aul Klee meditierte lange vor seinen
Leinwänden, bevor er den Pinsel in
die Hand nahm. Malen war denken,
absolute Konzentration. Vor dieser Wand
hat er gesessen. Sie ist dunkel gestrichen,
fast schwarz. Das gleichmäßige Nordlicht,
das durch die hohen Fenster in sein Atelier
fällt, bricht sich daneben auf grauen und
graublauen Flächen. Alles in diesem Saal,
in dem der Maler zu seiner Zeit als Lehrer
am Bauhaus mehr als 200 Bilder gemalt
hat, ist Ruhe und Zurückhaltung.
Die Werkstatt ist nur ein paar Treppen-
stufen entfernt von Küche und Esszim-
mer. Und die wirken ganz anders: Die
Durchreiche von der Küche über die Spül-
küche ins Esszimmer – ein höchst funktio-
naler Bereich – ist strahlend bunt gehal-
ten, hellgrüne Schiebetüren gliedern die
Wandflächen über kräftigen Querakzen-
ten in Weiß. Gelbe Fensterrahmen und ro-
te Geländer verleihen der Architektur die
Qualität einer farbig gefassten Skulptur.
Wer in diesem Jahr, in dem die Kunstschu-
le Bauhaus ihren 100. Geburtstag feiert,
dem Ursprung des Mythos nahekommen
will, für den gibt es keinen besseren Ort als
diese Reihe kleiner Villen in Dessau, deren
kürzlich abgeschlossene, perfekte Renovie-
rung ihre Schönheit feiert.


Das war nicht immer so, lange standen
sie im Schatten des ikonischen Bauhaus-
Gebäudes, das mit seiner gewaltigen Glas-
fassade wie eine Lernfabrik wirkt. Wäh-
rend dieses Gebäude schon zu DDR-Zeiten
renoviert worden war, waren die Wohnhäu-
ser, die der Bauhaus-Gründer Walter Gro-
pius für seine Professoren geplant hatte,
noch bis in die Neunziger unkenntlich: Ei-
nes war ganz zerstört, die anderen waren
durch zugemauerte Fenster und klobige
Schornsteine entstellt, einem hatte man
ein Giebeldach aufgesetzt.
Es gibt für die Moderne in Deutschland
wohl kaum eine bedeutendere Anschrift
als die Burgkühnauer Allee, in der neben
Gropius auch seine Nachfolger Hannes
Meyer und Ludwig Mies van der Rohe resi-
dierten, László Moholy-Nagy und Josef Al-
bers, Lyonel Feininger, Georg Muche und
Oskar Schlemmer und am längsten – im
Doppelhaus Nummer 6 – Wassily Kandins-
ky und Paul Klee.
Die Häuser, so schrieb es schon bei ihrer
Einweihung der Kunstkritiker Max Os-
born, hätten im Vergleich zu dem „ortho-
dox-puritanischen“ und „bös-ungemütli-
chen“ Versuchshaus in Weimar an Beha-
gen und Komfort zugenommen. Hannes
Meyer nannte sie sogar „geistvolle neoplas-
tische Gebilde und vom Leben erfüllte Plas-
tik“, Lyonel Feininger „Schöpfung“.
Ihr Bau war untrennbar mit dem Umzug
der Bauhäusler von Weimar nach Dessau
verbunden, wo man Gropius nicht nur ein
Schulgebäude, sondern eben auch Werk-
stätten, einen Wohnturm für die Studen-
ten und sieben Wohnhäuser für die Meis-
ter versprochen hatte. Gropius, für den Ar-
chitektur die Organisation von Lebensvor-
gängen war, schrieb beim Einzug im Juli
1926: „Der Willkür der Stile sind wir satt ge-
worden, von der Laune zur Regel geschrit-
ten und suchen nun in klaren knappen und
einfachen Formen, die der Art unseres heu-
tigen Lebens entsprechen, den wesentli-
chen und sinnvollen Ausdruck unserer
häuslichen Umgebung.“
Vor allem die Grundrisse gelten als stil-
bildend. Die Doppelhäuser sind ineinan-
der verschränkt und um 90 Grad gedreht
und enthalten neben den Ateliers sowie
Wohn- und Schlafräumen auch Mädchen-
zimmer, Gästezimmer und Dienstboten-
eingänge. Sie waren mehr als 250 Quadrat-
meter groß, die Direktorenvilla sogar 350


Quadratmeter. Gewaltige Fenster und eine
Vielzahl von Terrassen wirkten luftig, die
hellen flächigen Fassaden mit ihren dunk-
len Flachdach-Kanten kontrastierten mit
den Kiefern auf dem Gelände.
Und auch das Inventar war höchst ausge-
sucht, das meiste stammte aus den Werk-
stätten der Kunstschule, wie die von Mari-
anne Brandt für die Metallwerkstatt ent-
worfenen Lampen und die Stahlrohrsessel
von Marcel Breuer. Während Klee und Kan-
dinsky nicht auf ein paar persönliche Mö-
bel wie dunkel gebeizte Anrichten verzich-
ten wollten, führte Ise Gropius nicht nur Ar-
chitekten, sondern auch die Hausfrauen-
vereinigung durch ihr modernes Zuhause.
Und ein Dokumentarfilm zeigte Dienst-
mädchen, die mechanische Wunderwerke
wie zusammenschiebbare Fenstergitter
und Klappsofas vorführten. Einzig Oskar
Schlemmer beschwerte sich über den ihm
vorgegebenen Lebensstil, schließlich
musste er mehr als die Hälfte seines Ge-
halts für Miete und Heizung ausgeben.
Es ist wohl die selten wieder erreichte
Mischung aus äußerster Reduktion und
Eleganz, aus Strenge und Boheme, die die-
se Ästhetik ausmacht. Und obwohl auch
die Meisterhäuser bis auf die zerstörte Di-
rektorenvilla in den Neunzigerjahren wie-
derhergestellt wurden, sind sie eigentlich
erst jetzt wirklich wiederzuerkennen.
Denn lange wurden sie für Ausstellungen

genutzt, obwohl sie mit ihren großen Glas-
fenstern und eher kleinen Räumen dafür
kaum geeignet waren, schon weil der Denk-
malpfleger notieren musste, dass in die Ba-
dezimmer Klimaanlagen eingebaut wur-
den, deren Ausgänge auf den einst mono-
chromen Wandflächen mit Blechen verklei-
det waren.

Der wissenschaftlichen Mitarbeiter Flo-
rian Strob spricht darüber, als sei es nicht
um die Reparatur von Gebäuden gegan-
gen, sondern um die Restaurierung kostba-
rer Gemälde. Vor allem die Wiederherstel-
lung der farbigen Wandflächen. Dafür wur-
den Pigmentschichten analysiert, Zu-
standsberichte angefertigt, Pläne und Aus-
führungen anhand von Zeichnungen und
Fotografien beurteilt. War die legendäre
schwarze Esszimmerwand bei Familie Kan-
dinsky einst auch korallenrot? Wie viele
Schichten Blau und Grün verbergen sich
unter der Farbe, mit der die Zimmer nach
dem Umzug der Bauhäusler nach Berlin ge-
weißelt wurden?
Mehr als hundert verschiedene Farbtö-
ne katalogisierten die Wissenschaftler. Bei
der Ausmalung wurden dann nicht nur die
originalen Farben angemischt, sondern
auch die historischen Pigmente und Binde-
mittel verwendet. Ein stumpfes Rot wirkt
eben ganz anders als ein strahlender Lack.
Jetzt können die Gebäude für sich selbst
stehen, und das einzige, was in den Räu-
men installiert wurde, sind Stelltafeln mit
integrierten Monitoren, die sozusagen am
Ort des Geschehens Architektur- und
Kunstgeschichte referieren. Die Häuser
selbst sind fortan die Exponate.
Die Wirkung ist außerordentlich. Im
eher kleinen Schlafzimmer von Nina Kan-
dinsky mag man sich überhaupt nicht ab-

wenden von dem matt schimmernden Sil-
berton der Stirnwand, der als feinkörnige,
fast grisselige Oberfläche die Mauer fast
aufzulösen scheint. Als sei das Silber ange-
weht worden, da, wo einst das Kopfende
des Bettes stand. Der kostbare Glanz muss
Nina Kandinsky gut gestanden haben. Die
Gattin des bedeutendsten Malers des frü-
hen 20. Jahrhunderts war, anders als ihre
Vorgängerin, die Malerin Gabriele Münter,
eine kapriziöse Frau.
An einem sonnigen Tag dringt mit dem
warmen Licht auch der Geruch von Harz
und Tannennadeln in die farblich perfekt
ausbalancierten Zimmer. Man kann sich
vorstellen, dass die Familien, deren Privi-
leg es war, hier zu wohnen, meist über die
Terrassen liefen und nicht über die kleinen
Flure, von denen Treppen abzweigen, die
so schmal sind wie die Stufen auf einem
Schiff. Die Schlichtheit und Funktionalität
war hier aber etwas, das man ausspielte:
Das Zickzack der einfachen Stufen wird
durch gelbe Farbe noch betont, der
Schwung des Handlaufs in grellem Rot her-
vorgehoben, die hölzernen Leisten der
Schiebetüren und Fensterrahmen in einen
abstrakten Mehrklang aus Gelb, Rot, Weiß
und Schwarz verwandelt. Man muss die Ge-
bäude nicht länger als historische Kulissen
sehen. Man kann sie jetzt einfach auch ge-
nießen. Als Kompositionen der Moderne,
als Bilder.

DEFGH Nr. 182, Donnerstag, 8. August 2019 HF2 9


Das Landesarbeitsgericht in Düsseldorf
verhandelt am 20. August das Beru-
fungsverfahren wegen der fristlosen
Kündigung der früheren Intendantin
desTanztheaters Wuppertal Pina
Bausch. Das bestätigte das Gericht am
Dienstag. Der IntendantinAdolphe
Binderwar im Juli 2018 gekündigt
worden. In der ersten Instanz erklärte
das Arbeitsgericht Wuppertal die Kündi-
gung für unwirksam. Gegen dieses
Urteil ging die Leitung des Tanztheaters
in Berufung. Binder hatte den Leitungs-
posten rund ein Jahr inne. dpa

Trevor Noah, der Moderator der „Daily
Show“, die er 2015 von Jon Stewart über-
nommen hat, kann sehr ernsthaft argumen-
tieren. Nach den beiden Massakern des Wo-
chenendes ist in den USA erneut die Debatte
um stärkere Waffenkontrolle entbrannt. No-
ah antwortete in seiner Show auf Argumen-
te für einen weiterhin unbeschränkten Waf-
fenbesitz, in diesem Fall vorgetragen von
Sean Hannity auf „Fox News“. sz

„Nach Hannity hat Amerika nicht zu viele
Waffen, sondern nicht genug. Nach jedem
Massaker hört man, dass man überall be-
waffnete Sicherheitskräfte einsetzen soll.
Doch in Parkland gab es sie, in Las Vegas,
die Polizei in Dayton reagierte in weniger
als 30 Sekunden. Trotzdem starben hier
neun Menschen. Waffengewalt kann über-
all ausbrechen. Sollen wir also Wachen in
jeder Mall, Bar, Schule, Theater, Kino, Kir-
che postieren? Hannity pocht auf die Frei-
heit der Amerikaner. Aber wenn diese Ame-
rikaner in einer Welt der Zäune, Kontrol-
len, Detektoren und Wachen überall im öf-
fentlichen Raum leben müssen, dann sind
sie eine Gesellschaft im Gefängnis, für die
nur eins frei ist: ihre Waffen.“

Vierte Klasse, keine Deutschkenntnisse


Wie ich eine schwäbische Grundschule überstand und Schriftstellerin wurde.Von Lena Gorelik


Die glänzende Wand über Nina


Kandinskys Bett sieht aus, als sei


ihr Silberton angeweht worden


Der Lehrer fragt mich, was
ich gerne mache. Er fragt mich!
„Lesen“, sage ich: „Buch.“

In meinem ersten deutschen
Zeugnis ist der Name
meines Vaters falsch geschrieben

Der KünstlerJonathan Meesehat der
Lübecker Kunsthalle eine eigens ange-
fertigteInstallation geschenkt.Sie
zeige den Kino-Bösewicht Darth Vader
und eine Mumin-Figur, ein von der
skandinavischen Schriftstellerin Tove
Jansson erfundenes Trollwesen, teilte
die Hansestadt mit. Die Installation soll
künftig in einem Raum im Unterge-
schoss der Kunsthalle stehen. Meese
hatte von Mitte Februar bis zum Sonn-
tag an fünf verschiedenen Orten in
Lübeck seine Werke gezeigt. dpa

Film
Juliette Binoche
über ihr Liebesdrama
„So wie du mich willst“ 10

Literatur
DerHistoriker H. Glenn Penny schil-
dert die„tragische Geschichte
der deutschen Ethnologie“ 12

Wissen
Pferden gelingt es oft, Tore oder
Gatter zu öffnen. Was sagt das
über ihre Intelligenz? 14

 http://www.sz.de/kultur

Nicht nur Weiß: Mehr als 100 Farbtöne
verwendeten die Restauratoren. FOTO: LORC

Gemälde in drei Dimensionen


Zum Bauhaus-Jubiläum wurden auch die sieben Dessauer „Meisterhäuser“ liebevoll in ihren


Originalzustand zurückversetzt. Ihre visionäre Qualität ist erst jetzt wiederzuerkennen


Der Bauhauslehrer Hannes Meyer nannte die Bauten „geistvolle neoplastische Gebilde und vom Leben erfüllte Plastik“. FOTO: YVONNE TENSCHERT

FEUILLETON


KURZ GEMELDET


GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT

Waffenfreiheit


HEUTE

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