Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1

Meinung


Die Verfassungsrichter


müssen der EZB dringend


die Grenzen aufzeigen 4


Panorama


Ein Eisbergaus der Antarktis


soll den Wassermangel in


Südafrika bekämpfen 8


Feuilleton


Timbuktus Jugend


liest an gegen


Apathie und Repression 11


Wirtschaft


Machtkampfbeim Fleischkonzern


Tönnies: Über zwei, die sich


vielleicht zu ähnlich sind 16


Sport


Interview mitTrainer Kohfeldt


über seine Vertragsverlängerung


bei Werder Bremen 23


Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel und Schach 12
Traueranzeigen 18


Berlin– Nach der Tötung eines achtjähri-
gen Jungen am Frankfurter Hauptbahn-
hof will Bundesinnenminister Horst Seeho-
fer (CSU) die Sicherheit an deutschen Bahn-
höfen verbessern. Dazu gehört für ihn eine
stärkere Polizeipräsenz. Zudem will er ge-
meinsam mit dem Bundesverkehrsminis-
ter und Vertretern der Bahn in einem Spit-
zengespräch prüfen, wie die Bahnhöfe
durch bauliche Veränderungen sicherer ge-
macht werden könnten. „Wir müssen tun,
was möglich ist, um einen Zugewinn an Si-
cherheit zu schaffen“, sagte Seehofer nach
einem Krisengespräch mit den Spitzen des
Bundeskriminalamtes und der Bundespoli-
zei in Berlin. Dabei dürfe die Frage mögli-
cher Kosten zunächst keine Rolle spielen.
Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt hat
unterdessen Haftbefehl wegen Mordes ge-

gen einen 40-jährigen Eritreer beantragt.
Er soll am Montag den achtjährigen Jungen
und dessen Mutter vor einen einfahrenden
ICE gestoßen haben. Der Junge starb noch
im Gleisbett. Der mutmaßliche Täter lebte
seit 2006 in der Schweiz. Er genoss dort
Asylrecht und galt als „gut integriert“. Seit
vergangenem Donnerstag wurde der Mann
von der Schweizer Polizei gesucht, weil er
seine Nachbarin angegriffen haben soll.
„Wir brauchen dringend mehr Polizei-
präsenz“, forderte Seehofer und kündigte
an, in den Haushaltsgesprächen der Bun-
desregierung um zusätzliche Mittel dafür
zu werben. Er erneuerte seine Forderung
nach stärkerer Videoüberwachung im öf-
fentlichen Raum. Für die Bahnhöfe sollen
alle technischen Möglichkeiten zur Verbes-
serung der Sicherheit geprüft werden,

„und zwar vorurteilsfrei“, sagte er. Seeho-
fer verwies darauf, dass es in Deutschland
rund 5600 Bahnhöfe mit völlig unter-
schiedlichen Strukturen gebe. Er wies Ein-
wände zurück, wonach es zu extrem hohen
Kosten führen könne, die Bahnhöfe in
Deutschland ähnlich abzusichern wie etwa
in Japan oder London.
„Wenn es um Menschenleben geht, ge-
fällt mir das Argument mit dem Geld über-
haupt nicht“, sagte der Minister. Er akzep-
tiere nicht, wenn jemand in dieser Situati-
on sage: „Das kostet Millionen, deshalb ma-
chen wir es nicht.“ Es gehe darum, „alles zu
tun, um die erreichten Sicherheitsstan-
dards noch zu verbessern“, auch wenn nie-
mand totale Sicherheit versprechen kön-
ne. Man müsse bei den Bahnhöfen im Land
Prioritäten setzen, weil es unterschiedli-

che Gefährdungslagen gebe. Seehofer sag-
te, das Sicherheitsgefühl in Deutschland
sei „sehr angespannt“, obwohl die allgemei-
ne Kriminalität zurückgehe. „Wir leben in
einer polarisierten Gesellschaft.“
Der Chef des Bundeskriminalamtes,
Holger Münch, kündigte nach dem Spitzen-
gespräch an, angesichts von Gewalttaten
aus dem rechten Spektrum künftig stärker
nach Netzwerken zu suchen. Zuletzt habe
es eine Reihe von Übergriffen gegeben, die
den Eindruck einer politischen Motivation
erweckten – gegen Moscheen, gegen eine
Stadträtin oder auch den Mord am Kasse-
ler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Die Behörden müssten zudem konsequent
gegen Clankriminalität oder ausländische
Intensivtäter vorgehen, sagte Münch.
jens schneider  Seiten 2 und 4

München– Kulturstaatsministerin Moni-
ka Grütters (CDU) will die deutschen Kino-
betreiber, die unter der Konkurrenz der
großen amerikanischen Streamingdienste
wie Netflix leiden, mit Fördermitteln des
Bundes unterstützen. Sie hat ein „Soforthil-
feprogramm“ für Marketing und digitale
Kundenbindung aufgelegt, das 2019 mit
fünf Millionen Euro dotiert ist. Im kom-
menden Jahr sollen bis zu 17 Millionen Eu-
ro zur Verfügung stehen.sz  Feuilleton

München– Dem Chemiekonzern Bayer
setzen die Klagen gegen seine Agrar-Toch-
ter Monsanto weiter zu, wie aus dem am
Dienstag veröffentlichten Halbjahresbe-
richt hervorgeht. Zum ersten Mal führt der
Konzern auch Fälle aus Kanada auf: Dort
seien fünf Klagen zugestellt worden, in de-
nen jeweils die Zulassung einer Sammel-
klage beantragt werde. Der Aktienkurs
von Bayer reagierte am Dienstag mit kräfti-
gen Abschlägen.sz  Wirtschaft

Berlin– Der öffentliche Nahverkehr sowie
die Benutzung von Fahrrädern und um-
weltfreundlichen Dienstwagen sollen at-
traktiver werden. Entsprechende Regelun-
gen sind im Jahressteuergesetz vorgese-
hen, das an diesem Mittwoch vom Bundes-
kabinett verabschiedet werden soll. Ge-
plant ist, steuerliche Vergünstigungen für
Elektro- und Hybridfahrzeuge, E-Räder
und Job-Tickets bis 2030 zu verlängern
und auszuweiten. gam  Seite 6

Großbritanniens neuer Premier, derzeit auf Werbetour für seinen Brexit-Kurs im Königreich unterwegs, hat den britischen Landwir-
ten versprochen, sie nach dem EU-Austritt besserzustellen. In Wales, wo er am Dienstag eine Hühnerfarm besuchte, kamen zuletzt
laut Experten etwa 80 Prozent der Einkünfte der Bauern von der Europäischen Union. Mehr als 50 000 Menschen sind dort in der
Landwirtschaft beschäftigt.FOTO: ADRIAN DENNIS/REUTERS  Seite 7 und Wirtschaft

Die Idee gehört zu den Klassikern der Me-
dizinkritik, schließlich habenviele Men-
schen ernüchternde Erfahrungen mit Ärz-
ten gemacht. Wenn der Doktor in Eile ist,
nicht richtig zuhört, während des Ge-
sprächs nur auf den PC-Monitor schaut
oder mit zynischen Bemerkungen die
Hoffnung der Kranken zunichtemacht –
dann kommt bald die Forderung auf, sozi-
ale Fähigkeiten und nicht Noten sollten
über den Zugang zum Medizinstudium
entscheiden. Wo bleibt das Mitgefühl in
der Medizin? Schließlich wünschen sich
viele Patienten von ihrem behandelnden
Arzt Empathie und kein Einser-Abi.
Nun ist zwar ein schlechtes Abitur auch
keine Garantie dafür, ein guter Arzt zu
werden, doch etliche Studien haben mitt-
lerweile gezeigt, dass es Kranken deutlich
besser geht, wenn sie von mitfühlenden
Doktoren betreut werden. Sie nehmen
dann ihre Medikamente regelmäßiger,
Behandlungen schlagen besser an, und

Patienten sind eher bereit, ihre schädli-
chen Gewohnheiten aufzugeben.
„Tests auf Empathie sollten zwar nicht
das traditionelle Zulassungsverfahren er-
setzen“, sagt Mohammadreza Hojat, Pro-
fessor für Psychiatrie an der Thomas Jef-
ferson University in Philadelphia. „Aber
sie könnten den Medizin-Fakultäten da-
bei helfen, jene Studierenden zu finden,
die nicht nur herausragende akademi-
sche Fähigkeiten haben, sondern sich
auch ihren Patienten gegenüber beson-
ders zugewandt verhalten.“
Hojat und sein Team haben eine Art
Empathie-Skala aufgestellt, nachdem sie
16 000 Medizinstudierende aus verschie-
denen Semestern einer Erhebung unter-
zogen hatten. Mithilfe standardisierter

Tests könne einfach ermittelt werden,
wie mitfühlend jemand sei, so die Auto-
ren. Da es viele Facetten des Mitgefühls
gibt, haben die Forscher für ihr Konzept
der „klinischen Empathie“ den Schwer-
punkt auf das kognitive (und weniger auf
das affektiv-emotionale) Verständnis für
Schmerz und Leid anderer gelegt, verbun-
den mit der Fähigkeit, darüber zu reden,
sowie der Absicht, zu helfen.
„Man misst bei 20-Jährigen die Empa-
thie, und Jahre später soll ein guter Arzt
herauskommen?“, fragt Martin Fischer
provokant. Er hat an der Ludwig-Maximi-
lians-Universität München eine Profes-
sur für Ausbildungsforschung in der Me-
dizin inne. „Natürlich braucht man ein-
fühlsame Ärzte, und mehr Empathie ist

wünschenswert – aber vor allem braucht
es Ärzte, die besser kommunizieren.“ Im-
merhin lasse sich durch strukturiertes
Feedback, mithilfe von Schauspielerpati-
enten und im Kommunikationstraining
lernen, „Cues and Concerns“ zu beachten,
also das, was Patienten wichtig ist und sie
besonders belastet. Aus manchem Stoffel
im weißen Kittel sei so ein verständnisvol-
ler Arzt geworden.
Der Ruf nach empathischeren Ärzten
begleitet rituell die Gespräche über Medi-
zin, doch etliche Doktoren sind selbst von
der Bürokratie, der Ökonomisierung ih-
res Fachs und Patientenansprüchen über-
fordert – und dann sollen sie bei all dem
Stress immer freundlich und mitfühlend
sein. Das Thema Ärztegesundheit ist mitt-
lerweile auf vielen Fachtagungen im Pro-
gramm. Klar, das Verhältnis ist asymme-
trisch, der Patient ist derjenige, der leidet.
Trotzdem: Wer fühlt eigentlich mit den
Ärzten mit? werner bartens

von daniel brössler
und paul-anton krüger

Berlin/München– Im Konflikt mit Iran
wird sich Deutschland nicht einer von den
USA geführten Mission zum Schutz des
Handelsverkehrs durch die Straße von Hor-
mus anschließen. „Eine Beteiligung an der
amerikanischen Strategie des maximalen
Drucks kommt für uns nicht infrage“, hieß
es am Dienstag aus dem Auswärtigen Amt.
Die USA hätten „vor Kurzem“ einer Reihe
von Verbündeten, darunter Deutschland,
ihr Konzept für eine Seeraumüberwa-
chungsmission am Persischen Golf vorge-
stellt und um Beiträge gebeten.
Die Bundesregierung habe dies zur
Kenntnis genommen, aber keinen Beitrag
in Aussicht gestellt, hieß es. Eine Spreche-
rin der US-Botschaft in Berlin hatte die An-

frage an Deutschland am Dienstag öffent-
lich gemacht. Man habe Deutschland
„förmlich“ ersucht, „zusammen mit Frank-
reich und Großbritannien bei der Siche-
rung der Straße von Hormus mitzuhelfen
und iranische Aggression zu bekämpfen“,
zitierte die Deutsche Presse-Agentur die
Sprecherin. Mitglieder der Bundesregie-
rung hätten „klar gesagt, dass die Freiheit
der Seefahrt geschützt werden sollte. Unse-
re Frage ist, von wem?“
Nach Informationen derSüddeutschen
Zeitunghatte Bundesaußenminister Heiko
Maas (SPD) bereits bei einer Sondersit-
zung des Auswärtigen Ausschusses am ver-
gangenen Mittwoch klargestellt, dass die
Bundesregierung das US-Ansinnen ableh-
ne. Außenminister Maas habe wiederholt
betont, „dass aus unserer Sicht die Priori-
tät auf einer Deeskalation der Spannungen

und diplomatischen Bemühungen liegen
muss“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.
Dazu sei man mit „Frankreich und Großbri-
tannien in enger Abstimmung“. Großbri-
tannien hatte nach der Festsetzung eines
britischen Tankers durch Iran in der Stra-
ße von Hormus vor gut einer Woche eine
rein europäische Mission angeregt, rückt
davon aber seit dem Amtsantritt des neuen
Premiers Boris Johnson offenbar ab.
Das US-Militär hat seit Juni Pläne für ei-
ne internationale maritime Schutzmission
entwickelt, also bereits vor dem Vorfall mit
dem britischen Tanker. Die US-Regierung
reagiert damit auf Attacken auf insgesamt
sechs Tanker im Mai und Juni im Golf von
Oman. Washington macht die iranischen
Revolutionsgarden für die Sabotageakte
verantwortlich, die alle mit Haftminen ver-
übt worden sein sollen.

Mitte Juli teilte das Central Command
des US-Militärs mit, die USA würden Koor-
dinierung und Aufklärung für die multina-
tionale OperationSentinelleisten. Teilneh-
mende Staaten sollten aber jeweils Schif-
fen, die unter ihrer Flagge fahren, Geleit-
schutz leisten. Ziel der Mission sei die Frei-
heit der Schifffahrt zu gewährleisten, vor
allem die ungehinderte Passage in interna-
tionalen Gewässern und internationalen
Schifffahrtsstraßen im Golf von Oman, der
Straße von Hormus, dem Persischen Golf
und der Meerenge Bab el-Mandab am Ein-
gang zum Roten Meer. Am vergangenen
Donnerstag fand in Tampa im US-Bundes-
staat Florida eine Truppenstellerkonfe-
renz für die Operation Sentinel statt. Nach
SZ-Informationen hatte Großbritannien
dabei in Aussicht gestellt, einen Verband
im Zuge der Mission zu leiten.  Seite 4

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HEUTE


Die SZ gibt es als App
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phone: sz.de/zeitungsapp

Mehr als 18000 Klagen


wegen Glyphosat


Berlin/Karlsruhe– Das Bundesverfas-
sungsgericht hat mit erheblichen Beden-
ken die Europäische Bankenunion gebil-
ligt. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle
sagte bei der Urteilsverkündung, die Rege-
lungen zur europäischen Bankenunion
„schöpfen den vorgegebenen Rechtsrah-
men sehr weitgehend aus, überschreiten
ihn aber nicht in einer aus Sicht des Grund-
gesetzes relevanten Form.“ Dieses Ergeb-
nis setze eine „strikte Auslegung“ der Ver-
träge voraus. Die EZB dürfe auch in Zu-
kunft nur bedeutende – also systemrele-
vante – Geldinstitute überwachen, wie
dies bisher praktiziert wird. Sie dürfe ihre
Aufsicht aber nicht aus eigener Hoheit auf
alle Banken ausweiten, sonst wäre dies ei-
ne Verletzung des „Anspruchs auf Demo-
kratie“. Hinter den Klagen steht die europa-
kritische „Europolis“-Gruppe um den Fi-
nanzwissenschaftler Markus Kerber. Grü-
nen-Parteichef Robert Habeck begrüßte
die Entscheidung. „Es ist gut, dass das Ver-
fassungsgericht die Linie bestärkt, dass
sich Europa in einer vertieften Gemeinsam-
keit gegen Spekulationen und Risiken am
Finanzmarkt wappnet“, sagte Habeck der
Süddeutschen Zeitung. Der Finanzsektor
sei global, „die nationalen Regulierungen
reichen da nicht mehr aus“. Die Bankenuni-
on mit Bankenaufsicht und Abwicklungsre-
geln sei ein guter Einstieg.
gam, jan  Seite 4, Wirtschaft

In Rheinland-Pfalz und am Oberrhein
scheint die Sonne, sonst sind Schauer und
Gewitter möglich. Nachmittags im Norden
und Nordosten Regengüsse mit Gefahr
von Hagel und Böen. Höchsttemperaturen
bis zu 27 Grad.  Seite 13 und Bayern

Im Hühnerstall


Medizin undMitgefühl


Forscher fordern: Angehende Ärzte müssen Empathie zeigen


Bundesregierung stellt sich gegen USA


Deutschland beteiligt sich nicht an der „amerikanischen Strategie des maximalen Drucks“ gegen


Iran. Washington hatte Berlin ersucht, sich einer Mission in der Straße von Hormus anzuschließen


Xetra Schluss
12147 Punkte

N.Y. Schluss
27198 Punkte

22 Uhr
1,1157 US-$

Seehofer will mehr Polizisten an Bahnhöfen


Stärkere Präsenz soll Taten wie in Frankfurt verhindern. Schweizer Behörden fahndeten seit Tagen nach dem Angreifer


Grütters kündigt


Soforthilfe für Kinos an


Regierung fördert


E-Autos und E-Räder


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Schuss ins Bein: Das Drama um den Verlagserben Falk Die Seite Drei


Karlsruhe erlaubt


Bankenunion


Kritiker scheitern mit Klage
gegen europäische Aufsicht

(SZ) Über die Poesie und ihre Beziehung
zur Prosa ist viel Kluges geschrieben wor-
den, aber kein Dichter, keine Dichterin hat
es so bündig und zugleich poetisch formu-
liert wie Friederike Kempner, die Schlesi-
sche Nachtigall: „Poesie ist Leben, / Prosa
ist der Tod, / Engelein umschweben / Un-
ser täglich Brot.“ Im Licht dieser Theorie
verwundert es nicht, dass auch Kämpfer
und Rebellen in ihren Parolen die Poesie
der Prosa vorziehen – schließlich ist selbst
ihnen, Engelein hin oder her, das Leben al-
lemal lieber als der Tod. Poetologisch be-
trachtet gehören gereimte Kampfsprüche
in einen Topf mit gereimten Politparolen,
Werbeslogans, Zauberformeln und Grab-
inschriften. Sie alle wollen, mit je eigenen
Zielen, versteht sich, den gewohnten um-
gangssprachlichen Duktus durchbrechen
und auf diese Weise direkt zu den Herzen
vorstoßen: „Gebt den Linken / mehr zu trin-
ken!“, „Faschos, verpisst euch, / keiner ver-
misst euch!“, „Morgen kommt der Weih-
nachtsmann, / allerdings nur nebenan.“
In den letzten Jahren sah es ganz
danach aus, als hätte sich das deutsche Poe-
sievermögen in „Hätte, hätte, / Fahrrad-
kette“ erschöpft, dem Vers, den einzig
Lothar Matthäus mit seiner Variante „Wä-
re, wäre, / Fahrradkette“ ebenso mutig wie
erfolglos aufzubrechen und weiterzuentwi-
ckeln suchte. Bei den jüngsten Klima-
protesten in Stuttgart hat sich nun ein Slo-
gan in den Vordergrund gespielt, dem, bei
der bekannten Zählebigkeit des Flugwe-
sens, eine große Zukunft sicher sein dürf-
te: „Attacke, Attacke! / Fliegen ist kacke!“
Das Revolutionärste daran ist eine schein-
bare Kleinigkeit, nämlich die adverbiale
Verwendung vonKacke, die mit dem Merk-
satz „Du siehst kacke aus“ über kurz oder
lang in den Duden vorrücken dürfte. Das
Reimpaar Attacke/Kacke ist indes nicht
über Nacht vom Himmel über Stuttgart
gefallen. Es gibt dafür schon kernige Vor-
läufer wie die Parole „Attacke, Attacke! /
Kohle ist kacke!“, und wenn auf landwirt-
schaftlich geprägten Webseiten mächtige
Güllewagen – denken wir nur an den Chal-
lenger Terra Gator 845 – ihren Auftritt
haben, dann in aller Regel unter dem Ope-
rationsbefehl „Attacke mit Kacke“.
Noch ist nicht sicher, mit welcher Macht
die Flugscham (schwed.flygskam) bereits
von den Leuten Besitz ergriffen hat und ob
sie möglicherweise bald als eigenständige
Krankheit –pudor aviaticus– die etablier-
te und nicht annähernd so peinliche Flug-
angst in den Schatten stellen wird. In der
Passauer Neuen Pressegab es dazu schon
eine schöne Karikatur. Sie zeigte Passagie-
re, die ins Flugzeug steigen und dabei ihre
Köpfe verstecken, geradeso wie Angeklag-
te, die sich im Gerichtssaal Aktenordner
vors Gesicht halten, um die Fotografen aus-
zubremsen. Es wird die Zeit kommen, da
niemand mehr den Fahrgästen „Glückli-
che Reise!“ nachruft, weil immer jemand
in der Nähe ist, der den ergänzenden Vers
parat hat: „Fliegen ist ...!“


DAS WETTER



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