Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1
von daniel brössler

Berlin– Als nach 63 Tagen der letzte
Schussgefallen war und 18 000 Aufständi-
sche sowie 150 000 Zivilisten ihr Leben ge-
lassen hatten, gingen die Deutschen syste-
matisch ans Werk. Sie vertrieben nicht nur
eine halbe Million noch in Warschau leben-
de Einwohner, sondern zerstörten auch
gründlich Haus für Haus. Am Ende waren
85 Prozent der polnischen Hauptstadt ver-
nichtet. Wenn Polen am 1. August des Be-
ginns des Warschauer Aufstandes vor
75 Jahren gedenkt, wird auch Bundesau-
ßenminister Heiko Maas (SPD) dabei sein.
Bereits an diesem Mittwoch will er zum
Denkmal für den Warschauer Aufstand
kommen und an einem Gottesdienst teil-
nehmen. In Polen weiß man zu schätzen,
dass Maas sich der deutschen historischen
Verantwortung stellt. Die Erwartungen ge-
hen allerdings deutlich weiter. Im Parla-
ment, dem Sejm, steht ein Bericht vor der
Fertigstellung, der die polnische Forde-
rung nach Reparationen untermauern soll.
Der Besuch von Maas sei „wichtig“, sagt
Polens Außenminister Jacek Czaputowicz,
zumal der Deutsche „historischen Fragen
großes Gewicht beimisst“. Die Reparations-
forderungen seien zwar kein „unmittelba-
res Diskussionsthema zwischen den Au-
ßenministerien“, aber Czaputowicz ver-
weist auf den ausstehenden Bericht aus
dem Sejm. Das Thema schwelt, seit es die
regierenden Nationalkonservativen von


der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)
vor einigen Jahren auf die Tagesordnung
gesetzt haben. Die Entschädigungsforde-
rungen seien „kein erledigtes Thema“, hat-
te Polens Präsident Andrzej Duda im ver-
gangenen Oktober bekräftigt.

Genau darüber gehen die Meinungen in
Warschau und Berlin auseinander. In ei-
nem Rechtsgutachten des wissenschaftli-
chen Dienstes des Sejms von 2017 werden
Entschädigungsansprüche Polens gegen-
über Deutschland als „legitim“ bezeichnet.
„Während des Zweiten Weltkriegs erlitt Po-
len, gemessen an der Bevölkerungszahl
und dem Gesamtvermögen, die höchsten
Menschen- und materiellen Verluste von
allen europäischen Staaten“, heißt es dort.
Sechs Millionen polnische Bürger hätten
ihr Leben verloren, die materiellen Verlus-
te summierten sich nach damaligem Wert
auf 48,8 Milliarden US-Dollar. Ein polni-
scher Anspruch ergebe sich aus der Ent-
scheidung der Potsdamer Konferenz, wo-
nach Deutschland einen Ausgleich für Ver-
luste leisten müsse. „Dies wurde bis heute
gegenüber Polen nicht realisiert“, heißt es
in dem Gutachten. Zwar sei bestimmt wor-
den, dass Polen durch die Sowjetunion ei-
nen Reparationsanteil erhalte. Daraus sei
aber nicht abzuleiten, dass Polen keinen di-
rekten Anspruch geltend machen könne.
Eine Verzichtserklärung des polnischen Mi-
nisterrates vom 23. August 1953 habe wie-
derum gegen die damalige Verfassung ver-
stoßen und sei auf sowjetischen Druck hin
zustande gekommen.
Die Bundesregierung hält keines dieser
Argumente für stichhaltig. Die Frage der
deutschen Reparationen sei „in der Vergan-
genheit abschließend geregelt worden,
rechtlich und politisch“, hatte sie bereits
2017 erklärt – und dabei auf die Verzichts-
erklärung von 1953 verwiesen. Ein Sach-
standsbericht des Wissenschaftlichen
Dienstes des Bundestages vom Juni bestä-
tigt diese Auffassung. Ob durch den Ver-
zicht 1953 polnisches Recht gebrochen wor-
den sei, sei völkerrechtlich unerheblich.
„Die Rechtsauffassung der Bundesregie-
rung, wonach der damalige Verzicht Po-
lens dem Grundsatz der Vertragstreue (pac-
ta sunt servanda) folgend auch die gegen-
wärtige polnische Regierung bindet, ent-
spricht daher dem geltenden Völkerrecht“,

heißt es. Griechenland, das ebenfalls Repa-
rationsforderungen erhebt, hatte eine sol-
che Verzichtserklärung nie abgegeben,
weshalb sich die Lage dort „weniger ein-
deutig“ darstelle.
„Auf die von der Regierungspartei PiS
immer wiederkehrende Debatte darf sich
die Bundesregierung nicht einlassen“, for-
dert die FDP-Bundestagsabgeordnete Re-
nata Alt. Statt Reparationsdebatten brau-
che „die polnische Bevölkerung eine unab-

hängige Justiz, sowie Presse- und Medien-
freiheit“. Die Bundesregierung solle „nicht
brüsk abweisend reagieren, sondern Offen-
heit für Gespräche unterhalb von Verhand-
lungen zeigen“, meint hingegen der Grüne
Manuel Sarrazin. Er gehört zu den Abge-
ordneten, die sich dafür einsetzen, in Ber-
lin ein Mahnmal für die polnischen Opfer
des NS-Terrors zu errichten. Als mögliche
deutsche Geste wird auch eine Beteiligung
an den Kosten des 1944 von den Deutschen

zerstörten Sächsischen Palais in Warschau
diskutiert.
Eigentlich sollte der Sejm-Bericht zum


  1. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. Sep-
    tember veröffentlicht werden, zu dem
    auch Bundespräsident Frank-Walter Stein-
    meier in Polen erwartet wird. Man brauche
    mehr Zeit und wolle das Thema aus dem be-
    ginnenden Wahlkampf halten, hieß es nun
    aus dem Sejm. Veröffentlicht werde der Be-
    richt nun erst nach der Wahl im Herbst.


Reparationen sind im gegenwärtigen Völ-
kerrecht alle Zahlungen, die ein Staat leis-
tet, um eine Verletzung des Völkerrechts
wiedergutzumachen. Allerdings waren im
Völkergewohnheitsrecht zu Zeiten des
Zweiten Weltkriegs Ansprüche auf Repara-
tionen noch von ihrer Fixierung in Verträ-
gen abhängig. Solche klaren Globalabkom-
men zur Regelung der Reparationspflich-
ten Deutschlands nach Ende des Weltkrie-
ges gibt es jedoch nicht, weil der soge-
nannte Kalte Krieg die Siegermächte ent-
zweite, Deutschland teilte und den Ab-
schluss eines Friedensvertrags verhinder-
te. Der Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990
zur internationalen Anerkennung des wie-
dervereinigten Deutschland erwähnt Re-
parationen nicht ausdrücklich. Nach deut-
scher Auffassung ist die Reparationsfrage
damit obsolet geworden. SZ

Brüssel –Seit erst einem Monat ist Ursula
von der Leyen auf Twitter vertreten, und
die designierte Chefin der EU-Kommissi-
on nutzt den Kurznachrichtendienst noch
ziemlich zurückhaltend. Am Dienstagmor-
gen postete ihr Team ein Foto der CDU-Po-
litikerin, die am Brüsseler Flughafen auf ih-
ren Flug wartet. Das nächste Ziel ihrer Ken-
nenlerntour durch Europa: die kroatische
Hauptstadt Zagreb, wo sie mit Ministerprä-
sident Andrej Plenković verabredet war.
Noch in dieser Woche will von der Leyen
auch Spanien und Italien besuchen. Das
Bild aus der Flughafen-Lounge zeigt, was
sich für die frühere Verteidigungsministe-
rin ändert: Über ein eigenes Flugzeug ver-
fügt sie nun nicht mehr, sondern muss wie
Vorgänger Jean-Claude Juncker und alle
EU-Kommissare Linie fliegen. Der Termin-
kalender orientiert sich nun am Flugplan.
Machbar ist dies ohne Frage – Juncker reis-
te mit Flug 951 von United Airlines nach
Washington, bevor er Trump eine Pause
im Handelsstreit abrang – aber so effizient
wie früher sind Reisen nicht mehr.

In den Hauptstädten wird von der Leyen
über das Arbeitsprogramm bis 2024 sowie
Zuschnitt und Personal ihrer EU-Kommis-
sion sprechen. Während Spanien mit Josep
Borrell als EU-Außenbeauftragtem promi-
nent vertreten ist, haben Kroatien und Itali-
en ihre Kandidaten noch nicht benannt –
und Plenković weiß wie Giuseppe Conte,
wie wichtig der ersten Frau an der Spitze
der Kommission die Geschlechterparität
ist. Hier tut sich etwas: Zypern schickt Stel-
la Kyriakides ins Rennen und am Montag-
abend sagte Tschechiens Premier Andrej
Babiš, dass Digitalkommissarin Věra Jou-
rová in Brüssel bleiben solle. Elf Männer
und acht Frauen sind offiziell von den Re-
gierungen nominiert worden; und Schwe-
den schickt wohl erneut eine Kommissa-
rin. Im August führt von der Leyen Gesprä-
che mit den Bewerbern, die im Herbst das
Europaparlament überzeugen müssen.
Jourová ist dort gut bekannt und Prag
würde ein Portfolio mit Digital- oder
Wirtschaftsbezug gefallen, so Babiš. Er
pries von der Leyen dafür, die Spaltung
zwischen Ost- und West überwinden zu
wollen. Ähnlich dürfte sich auch jener
Mann äußern, der am Donnerstag in Brüs-
sel erwartet wird und mit Babiš und Polens
Premier Mateusz Morawiecki den Sozialde-
mokraten Frans Timmermans als Nachfol-
ger von Juncker verhinderte: Viktor Orbán.
Der Ungar bezeichnete von der Leyen kürz-
lich als „pragmatisch und Mutter von sie-
ben Kindern“. Er fordert, die Kommission
solle nicht mehr auftreten wie ein „politi-
scher Aktivist“ – ein Verweis auf das gegen
Budapest laufende Rechtsstaatsverfahren.

Dass von der Leyen in dieser Frage zu-
letzt Formulierungen wie „keiner von uns
ist perfekt“ nutzte, wird in Brüssel auf-
merksam registriert. Hier wird auch geläs-
tert, dass die Deutsche bisher kein Top-Per-
sonal rekrutiert hat: Ihr Vorgänger Jun-
cker hatte in seiner Bewerbungsrede ge-
sagt, politische „Schwergewichte“ gewin-
nen zu wollen. Dies gelang: Drei Ex-Premi-
erminister und mehrere Außenminister
wechselten nach Brüssel. Davon ist 2019
nichts zu sehen. Medienberichten zufolge
möchte Rumänien seine EU-Botschafterin
Luminita Odobescu vorschlagen. Die gilt
in Brüssel zwar als hochprofessionell, aber
ist eben keine Politikerin, die in der Heimat
jeder kennt. matthias kolb

Des Krieges


langer Schatten


Polen gedenkt des Warschauer Aufstands gegen die Nazis
und konfrontiert Berlin mit neuen Forderungen

Berlin– Die Unionsfraktion reagiert zu-
rückhaltend auf CSU-Vorschläge, den Kli-
maschutz auch im Grundgesetz zu veran-
kern. „Wir sollten das offen diskutieren“,
sagte Unions-Fraktionsvize Andreas Jung
(CDU) derSüddeutschen Zeitung: „Aller-
dings steht der Schutz der natürlichen Le-
bensgrundlagen schon im Grundgesetz.“
Dazu zähle auch der Klimaschutz. Im Übri-
gen stelle sich dann die Frage, ob nicht
auch der Naturschutz ausdrücklich Erwäh-
nung in der Verfassung finden sollte.
Zuvor hatte Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) gefordert, den Klima-
schutz in der Verfassung festzuschreiben.
Dort ist seit 1994 als Staatsziel der Schutz
der natürlichen Lebensgrundlagen aufge-
nommen, „auch in Verantwortung für die
künftigen Generationen“. 2002 wurde der
Artikel 20a um den Tierschutz ergänzt. Die
Grünen fordern schon länger einen eige-
nen Artikel zum Klimaschutz. „Dafür sprä-
che, dass es sich beim Klimaschutz um ei-
ne herausragende Aufgabe handelt, die
nicht den Halbwertzeiten von Legislaturpe-
rioden folgt“, sagte Jung, „das muss man
abwägen.“


Der Finanzpolitiker Jung zählt zu einer
fünfköpfigen Unions-Arbeitsgruppe, die
derzeit die künftige Klimagesetzgebung
mit vorbereiten soll – ebenso wie die CSU-
Politiker Georg Nüßlein und Anja Weisger-
ber. Nüßlein warb dafür, „sorgfältig den
Mehrwert einer Änderung“ zu prüfen: „Ar-
tikel 20a deckt das Thema meines Erach-
tens bereits ab.“ Auch die Umweltpolitike-
rin Weisgerber setzt mehr auf konkrete Kli-
mavorgaben als auf Änderungen des
Grundgesetzes. „Wir werden ein innovati-
ves Klimaschutzgesetz des Bundes erarbei-
ten, das es so noch nicht gegeben hat“, sag-
te sie. Zwar sei auch sie offen für eine Erwei-
terung des Grundgesetzes um ein „Staats-
ziel“ Klimaschutz. Aber zunächst werde
sich die Koalition „jetzt mit Nachdruck auf
die Maßnahmen konzentrieren“. Die Uni-
on will bis Mitte September ihre Linie in Sa-
chen Klimaschutz klären, ehe am 20. Sep-
tember das sogenannte Klimakabinett kon-
krete Entscheidungen treffen soll.
Derweil dreht die SPD die Forderungen
Söders noch weiter. Der Klimaschutz im
Grundgesetz reiche nicht, sagt die SPD-
Umweltpolitikerin Nina Scheer. „Wir brau-
chen eine grundgesetzliche Staatspflicht
zum Umstieg auf Erneuerbare Energien.“
Sonst könne ein Staatsziel Klimaschutz die
Atomkraft begünstigen. Scheer bewirbt
sich zusammen mit dem Gesundheitspoli-
tiker Karl Lauterbach um den SPD-Vorsitz.
michael bauchmüller  Bayern


Hamburg– Nach dem Scheitern seiner
Wiederwahl ins Europaparlament kehrt
der AfD-Gründer und Wirtschaftswissen-
schaftler Bernd Lucke an die Universität
Hamburg zurück. Der 56-Jährige, der sich
2014 beurlauben ließ, werde zum Winterse-
mester wieder im Lehrbetrieb der Uni ar-
beiten, sagte eine Sprecherin. Lucke selbst
wollte sich nicht öffentlich äußern. Bei Stu-
dierenden stößt die Rückkehr des Profes-
sors auf Kritik. Lucke habe mit „seiner bür-
gerlichen Fassade den Weg der AfD zur
menschenverachtenden und rassistischen
Partei geebnet“, sagte der Vorsitzende des
Allgemeinen Studierendenausschusses,
Karim Kuropka: „So ein Mensch gehört an
keine Universität.“ dpa

Reparationen


Söders Vorschlag stößt


aus Skepsis in der Union


AfD-Gründer Lucke lehrt


wieder an Uni Hamburg


Berlin– Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) ist im Urlaub, deshalb wird der Vize-
kanzler an diesem Mittwoch die Sitzung
des Bundeskabinetts leiten. Wie man es
von Olaf Scholz erwarten darf, hat der Sozi-
aldemokrat das besondere Ereignis gut
vorbereitet. Weil auch die SPD zeigen soll,
dass sie beim Klimaschutz vorankommen
will, hat der Bundesfinanzminister ein Pa-
ket mit steuerlichen Maßnahmen zusam-
mengestellt, die klimaschonendes Verhal-
ten fördern sollen – vor allem auf den tägli-
chen Arbeits- und Freizeitwegen. Scholz
will die Elektromobilität voranbringen
und Bürger anregen, auf den öffentlichen
Nahverkehr und Fahrräder umzusteigen.

Job-Tickets


Die Anreize für Jobtickets, die Arbeitgeber
ihren Angestellten ganz oder teilweise be-

reits heute zahlen, werden verbessert. Um
deutlich mehr Autofahrer als bislang zu
motivieren, auf Busse und Bahnen umzu-
steigen, können Arbeitnehmer die vom Ar-
beitgeber erhaltenen Zuschüsse oder den
geldwerten Vorteil künftig pauschal mit 25
Prozent versteuern lassen. Der Vorteil: Sie
behalten trotzdem ihre Entfernungspau-
schale. Das Job-Ticket soll nicht mehr –
wie bisher – darauf angerechnet werden.

E-Dienstwagen


Die Bundesregierung verlängert die steuer-
lichen Vorteile für E-Autos als Dienstwa-
gen und beim Laden. Wer ein Elektro- oder
Hybridfahrzeug der Firma auch privat
nutzt, muss diesen Vorteil nur mit 0,5 Pro-
zent des inländischen Listenpreises ver-
steuern; diese Regel war ursprünglich bis
2021 befristet, soll aber nun bis 2030 gel-

ten. Voraussetzung ist, dass die Reichwei-
ten der Fahrzeuge ab 2022 deutlich stei-
gen. Lieferfahrzeuge erhalten Sonderab-
schreibungen. Elektro- und Hybridfahr-
zeuge dürfen steuerfrei beim Arbeitgeber
aufgeladen werden. Stellt der Arbeitgeber
Ladevorrichtungen für daheim zur Verfü-
gung, muss dies als geldwerter Vorteil ver-
steuert werden – auch diese Regeln wer-
den bis 2030 verlängert. Unternehmen, die
E-Autos mieten oder leasen, sollen eben-
falls steuerlich entlastet werden.

E-Fahrräder


In Städten boomt der autofreie Verkehr.
Wer zusätzlich zum regulären Arbeitslohn
ein Dienstfahrrad bekommt und es auch
privat nutzt, kann das bis 2030 steuerfrei
tun. Das gilt auch für Chefs und Eigentü-
mer selbst.

Wohnen


Die Bundesregierung will bezahlbaren
Wohnraum fördern – und hat dazu ver-
schiedene Maßnahmen erlassen. Unter an-
derem sollen Werkswohnungen helfen,
Engpässe zu vermeiden. Die bisherige Re-
gelung war allerdings wenig attraktiv für
Arbeitnehmer. Wer von seinem Arbeitge-
ber eine Wohnung preiswert vermietet be-
kam, musste die Differenz zur ortsübli-
chen Miete versteuern. Diese Regel wird
nun durch einen geringeren Abschlag er-
setzt.
Die Regierung schließt zudem ein Steu-
erschlupfloch bei Immobilienkäufen, das
vor allem finanzstarke Käufer genutzt ha-
ben, um die Grunderwerbsteuer zu umge-
hen – zulasten der Länder. Künftig sollen
die sogenannten Share-Deals kaum noch
möglich sein. cerstin gammelin

Istanbul –Der Abgeordnete Murat Bayba-
tur hat sich bereits ein VW-Logo für seinen
Social-Media-Account zugelegt. Bayba-
turs Partei ist die AKP von Präsident Recep
Tayyip Erdoğan, sein Wahlkreis die Stadt
Manisa, unweit der Ägäis-Metropole Iz-
mir. Und Manisa ist nach Überzeugung des
konservativen Politikers der beste Stand-
ort für ein Volkswagenwerk in der Türkei.
Noch mindestens zwei andere türkische
Städte preisen derzeit ihre Vorteile an,
auch wenn es noch nicht einmal sicher ist,
dass die Türkei überhaupt den Zuschlag
für das deutsches Autowerk erhält.

„Der Stand der Dinge ist, dass es keine
abschließende Entscheidung des Auf-
sichtsrats gibt“, sagte Niedersachsens
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der
auch im Aufsichtsrat von VW sitzt, am
Dienstag der Deutschen Presseagentur
(dpa) in Hannover. „Sicher ist“, fügte Weil
hinzu, „ganz egal wie auch immer diese
Entscheidung ausfällt, es wird eine wirt-
schaftliche Entscheidung und keine politi-
sche Aussage sein.“
Eine solche Unterscheidung dürfte
Erdoğan kaum interessieren. Der Präsi-
dent würde sich ein Votum für die Türkei
mit einer Investition von 1,3 bis zwei Milli-
arden Euro gewiss auf die eigenen Fahnen
schreiben. Die Türkei rutschte zuletzt in
die Rezession, die offizielle Arbeitslosenra-

te erreichte im ersten Quartal des Jahres
13,7 Prozent. Das geplante VW-Werk soll
bis zu 5000 Jobs schaffen. Kritiker haben
VW wegen der Menschenrechtslage schon
vor einem Engagement in der Türkei
gewarnt. Dazu sagte Weil, man sollte den
Demokraten in der Türkei grundsätzlich
nicht den Eindruck vermitteln, „wegen
Präsident Erdoğan das Land insgesamt in

Acht und Bann zu legen“. Türkische Medi-
en hatten von einem persönlichen Treffen
von VW-Chef Herbert Diess und Erdoğan
im Juni in der Türkei berichtet.
VW verwies jüngst darauf, dass die Toch-
tergesellschaft MAN seit Jahren in Ankara
Busse produziert. Ein Konzernsprecher
lobte „Liefertreue“ und „höchste Qualitäts-
standards“ bei der Produktion in der Tür-

kei. Auch Saudi-Arabien hatte VW ein
Angebot unterbreitet, wie die ARD in der
vergangenen Woche berichtete. Riad bot
demnach eine Prämie von bis zu 1000 Dol-
lar für jedes in den kommenden zehn
Jahren produzierte Auto. Ein Engagement
des Volkswagen-Konzerns in Saudi-Arabi-
en scheidet aus politischen Gründen der-
zeit aber wohl grundsätzlich aus. Mit auf
der Bewerberliste steht noch Bulgarien,
das mit niedrigen Löhnen lockt.
Der türkische Markt ist aber wesentlich
größer. Das Land gehört bereits jetzt zu
den guten VW-Kunden. Gebaut werden
sollen an dem neuen Standort offenbar
Benzin- und Dieselfahrzeuge, während in
Deutschland der Konzern zunehmend auf
Elektromodelle umstellen will.
Einer der Großaktionäre von VW mit
17 Prozent der Stammaktien ist der Staats-
fonds von Katar. Das Emirat ist der engste
Bündnispartner der Türkei in der Region.
Das MagazinAutomobilwocheberichtete
ohne Quellenangabe, Katar dringe darauf,
das neue Werk in der Türkei zu bauen.
In Manisa sagte der Vorsitzende des
regierungsnahen Unternehmerverbandes
Müsiad, Reşit Ürper: „Wir sind eine Stadt
mit industriellem und landwirtschaftli-
chem Potenzial.“ Lokalblätter zeigten be-
reits das angebliche Produktionsgelände.
Ayberk Aloğlu, der in Manisa die Vereini-
gung der Exporteure in der Ägäis-Region
leitet, hofft auf „wirtschaftliche Belebung“
für seine Stadt mit ihren rund 280 000 Ein-
wohnern. „Wir waren die ersten“, sagt
Aloğlu, „die VW diesen Vorschlag gemacht
haben.“ christiane schlötzer

6 HMG (^) POLITIK Mittwoch,31. Juli 2019, Nr. 175 DEFGH
Kritiker warnen wegen der
Menschenrechtslage schon
vor einem Engagement
Die Bundesregierung hält
die Frage für längst erledigt,
der Sejm will das nicht hinnehmen
Gedenken an unermessliches Leid: Am Denkmal des Warschauer Aufstands legte Bundespräsident Frank-Walter Stein-
meier imJuni des vergangenen Jahres einen Kranz nieder. FOTO: JENS BÜTTNER / DPA
Erst in Kroatien, dann nach Spanien und
Italien: Ursula von der Leyen. FOTO: AFP
Ein Mann in Istanbul mit seinem VW-Käfer. Wegen der Rezession in der Türkei wün-
schen sich viele Menschen, dass Volkswagen ein Werk baut. FOTO: OZAN KOSE / AFP
In Brüssel wird gelästert, dass
sie noch keine Ex-Premiers
für die Kommission gewonnen hat
Tingeln durch
Europa
Von der Leyen wirbt um Personal
für die EU-Kommission
CDU/CSU-Abgeordnete setzen auf
konkrete Klimavorgaben statt auf
Änderung des Grundgesetzes
Umstiegshilfen vom Finanzamt
Vizekanzler Olaf Scholz will mit Steuererleichterungen umweltfreundliches Verhalten fördern
Rettung aus Deutschland
Türkische Städte wetteifern darum, Standort von Volkswagenwerken zu werden

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