Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1

cher Subventionen führend bei neuen Technolo-


gien werden will.


Genau. Diese Strategie ist Teil ihres Wirtschaftsmo-


dells, auch wenn sie weltweit zu Verzerrungen


führt. China wird da nicht nachgeben. Was man


sich aber schon vorstellen kann, ist, dass Trump


für kurze Zeit eine Vereinbarung eingeht, die öf-


fentlichkeitswirksam ist.


Von was für einem Zeitraum sprechen wir?


Das weiß niemand. Sie könnte so lange halten, bis


seine Laune umschwingt. Falls es sechs Monate spä-


ter also gerade gelegen käme, die Vereinbarung zu


brechen, dann wird er das tun. Früher konnte man


davon ausgehen, dass Verträge eingehalten werden.


Doch seit Präsident Trump an der Macht ist, gilt das


nicht mehr. Das ist ein großes Problem. Denn das


lässt sich so leicht nicht mehr zurückdrehen.


Die USA sind nicht das einzige Land mit radikalen


Staatschefs.


Nein, Boris Johnson in Großbritannien ist der


Champion der Unberechenbarkeit. Und es gibt vie-


le andere Beispiele. Wir sind in einer Ära, in der


die Wähler gern jenen ihre Stimme geben, die ei-


genartig sind. Das ist nicht gut für die wirtschaftli-


che Stabilität.


Die US-Notenbank tagt am Mittwoch und könnte


dann die erste Zinssenkung seit der Finanzkrise


beschließen. Ist das angesichts der vielen Unsi-


cherheiten der richtige Schritt?


Nach den vielen Attacken von Trump gibt es hier


natürlich eine politische Dimension. Falls sie die


Zinsen senkt, sieht es so aus, als würde sie dem po-


litischen Druck aus dem Weißen Haus nachgeben.


Aber objektiv betrachtet halte ich das für eine gute


Entscheidung.


Obwohl die Wirtschaft weiter wächst und die Ar-


beitslosigkeit nur bei 3,7 Prozent liegt?


Die Inflation aber ist niedrig. Daher sind für mich


die Vorteile einer Volkswirtschaft, die etwas heißer


läuft, größer als das Risiko steigender Inflation.


Denn nur wenn die Arbeitslosigkeit wirklich nied-


rig ist, haben Frauen und ethnische Minderheiten


viel bessere Chancen auf gute Jobs. Es bleibt zwar


immer noch viel zu tun, bis wir bei echter Chan-


cengleichheit sind. Aber so können wir Fortschritte


machen.


Sie warnen schon seit Jahren vor den Folgen der


wachsenden Ungleichheiten in den Gesellschaf-


ten. Warum ist bislang so wenig passiert?


Vor der Finanzkrise 2008 gab es ein großes Ver-


trauen, dass das System schon funktionieren wird:


weniger Regulierung, geringere Steuern, der Markt


wird es schon richten. Dann kam die Krise, von der


alle gesagt haben, dass so etwas nicht passieren


könnte. Und dann waren alle damit beschäftigt,


das System zu retten. In beiden Phasen war es
schwierig, die Aufmerksamkeit der Entscheider auf
die weiter auseinandergehende Schere zwischen
Arm und Reich zu lenken.

Jetzt jedoch erlebt die Problematik eine Renais-
sance. Hedgefonds-Star Ray Dalio fürchtet gar ei-
ne Revolution, wenn sich nichts ändert und ist ei-
ner von vielen Milliardären, die freiwillig höhere
Steuern zahlen würden.
Es ist bemerkenswert, wie viele sehr reiche Leute
mittlerweile sagen, dass unser kapitalistisches Sys-
tem kaputt ist.

Sie selbst fordern eine neue Art des Kapitalismus,
in dem der Staat Märkte stärker reguliert und
zum Beispiel bei der Krankenversicherung eine
eigene Variante anbietet, die mit den privaten An-
bietern mithalten kann. Ist das in den politisch
tief gespaltenen USA überhaupt realistisch?
Der Staat kann das sehr wohl leisten. Auch wenn
Präsident Trump dabei ist, den Staat zu schwächen
und sowohl Regulierungen als auch Dienstleistun-
gen zurückzufahren. Nehmen Sie das staatliche
Rentensystem als Beispiel. Das ist eine funktionie-
rende Bürokratie.

Das Gegenbeispiel wäre jedoch das Veteranenmi-
nisterium, das schon seit Jahren hoffnungslos
überfordert ist.
Das wird aber schon seit Jahrzehnten unterfinan-
ziert. Ich denke, es gib genügend gute Beispiele,
auch auf der Ebene der Bundesstaaten etwa. Ich
denke an Kalifornien. Der Bundesstaat hat für sich
strengere Abgasregeln mit der Autoindustrie ausge-
handelt als im Rest des Landes.

Gibt es den politischen Willen dazu?
Wir brauchen einen demokratischen Präsidenten
und einen demokratischen Kongress.

In Europa wächst die Angst vor einer Rezession,
auch wegen des Handelskriegs. Wie besorgt sind
Sie um die Wirtschaft in der EU?
Ich mache mir ja schon lange Sorgen um Europa,
weil der Euro den Ländern nicht die Flexibilität
gibt, die sie brauchen. Auch gibt es vor allem in
Deutschland einen zu starken Fokus auf Staatsdefi-
zite und Austerität. Das Ergebnis ist, dass nicht ge-
nug öffentlich investiert wird. Gerade in Deutsch-
land macht sich das jetzt deutlich bemerkbar. Das
alles bedeutet, dass Europa sehr zerbrechlich ist,
politisch wie ökonomisch. Teil dieser Zerbrechlich-
keit heißt, es gibt steigende Ungleichheiten, die in
bestimmten Ländern stärker ausgeprägt sind als in
anderen. Das ist ein Problem für die Funktionsfä-
higkeit der Länder und für die Funktionsfähigkeit
der EU. In diesem Umfeld sorgt ein Handelskrieg
für noch mehr Spannungen.

Die EZB bereitet die Wirtschaft auf noch niedrige-
re Zinsen vor. Ein guter Plan?
Der Effekt durch neue Zinssenkungen wird sehr be-
grenzt sein. Aber wenn die USA die Zinsen senken,
wird Europa das auch tun müssen. Sonst wird der
Euro relativ zum Dollar stärker, was auf die Wettbe-
werbsfähigkeit drückt.

Was halten Sie von der Idee, dass die EZB Aktien
kaufen könnte?
Das halte ich für schwierig. Zum einen, weil das zu
neuen Verzerrungen führen könnte. Wahrschein-
lich würde die EZB eher Aktien von großen Unter-
nehmen kaufen, was dann kleine und mittlere Fir-
men benachteiligte. Zum anderen ist auch hier das
Potenzial, um die Wirtschaft zu stimulieren, gering.

Herr Stiglitz, vielen Dank für das Interview.


Die Fragen stellte Astrid Dörner.


39,


9,


15.1.2015 15.5.


60

50

40

30

20

10

0

3,7 %


Jan. 2015 Juni 2019


6,

5,

5,

4,

4,

3,

3,

+2,3 %



  1. Q. 2015 2. Q. 2019










± 0

US-Wirtschaft
Warenhandel, Volumen in Mrd. US-Dollar

Arbeitslosigkeit in Prozent der Bevölkerung
ab 16 Jahren

Bruttoinlandsprodukt (real), Veränderung
zum Vorjahresquartal in Prozent

HANDELSBLATT Quellen: US-Census, BLS, BEA

China
USA

USA
China

Der Ökonom Der 76-Jährige war Professor in
Yale, Princeton und Oxford, Berater von US-Prä-


sident Bill Clinton und Chefvolkswirt der Welt-
bank. 2001 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis.
Heute lehrt der Neo- Keynesianer an der Colum-


bia University in New York.


Der Autor Stiglitz hat mehr als zwei Dutzend


Sachbücher geschrieben, unter anderem über
die Auswirkungen der Ungleichheit, den Euro


und die Finanzkrise. Sein neustes Werk, „Pro-
gressiver Kapitalismus – Menschen, Macht und
Profite in einer Zeit der Unzufriedenheit“ ist im


Mai erschienen.


Vita Joseph Stiglitz


Viele sehr


reiche Leute


sagen,


dass unser


kapitalisti -


sches System


kaputt ist.


Wirtschaft & Politik


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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


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