Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019

Festivalbesuc herlass enmit


RestguthabenaufKarten


einigesan Geld liegen 23


Die USAmachengege ndie


russischePipeline Nord


Stream 2mobil 25


Bargeldlosbezahlen Gasversorgung


DINO GEROMELLA /ALAMY

Landung amFerienort: Die Swiss entschädigtPassagiere bei Verspätung nur,wenn sich der Konsument über EU-Gerichtewehrt.(Pula, Kroatien, 30. Juni2018)

Unterschiedliche Entschädigungsansprüche bei Abflügen aus der Schweiz und aus der EU

Verwirrende Schweizer Rechtslage


Quelle: cancelled.ch, eigene Recherchen

In der EU geltende Auslegungder
Verord nungzu Passagierrechten
Gilt für die EU und imVerkehr mit
Drittstaaten,Gerichtsstand EU-Land

Entschädigung
Kurzst recke (bis1500 km) 250 €
Mittelstr ecke (1500–3500km) 400 €
Langstrecke (über 3500 km) 600€
Langstrecke innerhalb derEU 400 €

Entschädigung
250 €
400 €
300 €1
400 €

Bei Annullierung des Flugs Bei über3 StundenVerspätung

Flügeaus derSchweiz
in die EU oder
umgekehrt

Flügeaus derSchweiz
in Drittstaaten
oder umgekehrt

Auslegung der
EU-Verord nung
in derSchweiz

Keine Entschädigung

Entschädigunggemäss EU-Verord nung

Keine Entschädigungbei Klage
vor Sch weizer Zivilgericht2
Entschädigunggemäss EU-Verord nung
bei Anzeige beim Bundesamt für
Zivilluftfahrt (Bazl)3

Keine Entschädigungbei Klage
vor Sch weizer Zivilgericht2
Entschädigunggemäss EU-Verord-
nung beiKlage vor EU-Zivilgericht

1 Ab 4 StundenVerspätung600€. 2 Schweizer Zivilgerichte wenden die2006 übernommene EU-Verord nung zuPassagierrechten nurauf
Flügezwischen der Schweiz und der EU anund nicht fürVerspätungen. 3 Die Airlines können einerBusse durch dasBundesamt entgehen,
wenn sie denPassagierentschädigen, und ziehen dies in der Regelvor.

DieLufthans azahlt,dieSwissnicht


SchweizerGerichte schränkenRechte auf Entschädigung beiVerspätungendeutlich ein, obwohl ein


EU-Abkommen anderes vorsieht. Über Umwege können sich Fluggäste durchsetzen.VonBirgitVoigt


S


chreihälse sind keine angenehmen
Zeitgenossen. Aber als Flugpassagiere
haben sie in derSchweiz klare strategi-
scheVorteile.Wenn es um eine Ent-
schädigungwegen grosserVerspätung, Annul-
lierung oder überfüllter Maschinengeht,
werden dieSanftmütigen hierzulande defini-
tiv nicht belohnt.
Dabei hat dieSchweiz 2006 einevon der EU
übernommeneVerordnung in Kraftgesetzt.
Sie sichert Flugreisenden beivon Airlinesver-
hinderbaren Pannen nebstBetreuung auch
eine finanzielle Abgeltung zu(sieheTabelle).
Der EuropäischeGerichtshof (EuGH) hat den
Geltungsbereich dieserVerordnung in den
letztenJahren stetig zugunsten derReisenden
ausgeweitet. Zuletzt mit einem Urteil, das
auch mehrteilige Flüge mitverschiedenen
Airlines in dieVerordnung einschliesst.

Widersprüchliche Auslegung
Passagiere, die aus derSchweiz starten, haben
davon allerdingswenig. SimonSommer ist ein
auf Passagierrechte spezialisierterJurist. Er
arbeitet für dieWebsite cancelled.ch, die sich
auf die Durchsetzungvon Kundenansprüchen
in derSchweiz spezialisiert hat.Seine Erfah-
rung: «Das EU-Fluggastrecht ist inzwischen
wesentlichkonsumentenfreundlicher ausge-
staltet als dasSchweizerRecht.» HiesigeGe-
richte übernähmen dieAusdehnung desGel-
tungsbereichs nicht oder legten sogarTeile
der ursprünglichenVerordnungrestriktiver
aus als der EU-Gerichtshof.
Das führt zu höchstverwirrenden Situatio-
nen.Soerklärt die Lufthansa auf Anfrage,
dass sie selbstverständlich auch bei Flügen
aus derSchweiz die EU-Konsumentenrechte
einhalte.Swiss undEdelweiss,Schwester-
gesellschaften im gleichenKonzern,wollen
dagegen grundsätzlichkeine Entschädigun-

Ausgleichsleistung infolgevon Verspätungen
von mehr als drei Stunden bei Abflügen ab
Schweizer Flughäfen»,teilt die Airline mit.
DiePosition entbehrt nicht einergewissen
Brisanz, denn die EU-Kommissiongeht klar
davon aus, dass dieSchweiz diefortlaufende
Auslegung derVerordnung durch das EuGH
übernimmt.CarlosAcosta,Referatsleiter für
Luftfahrtabkommen innerhalb der EU-Kom-
mission, schreibt auf Anfrage hin: «Als grund-
sätzlichesPrinzipgelten alleGerichtsurteile
des EuropäischenGerichtshofes (EuGH) auch
für dieSchweiz.»

Doch der hohe EU-Beamte irre, befindet
auch der Bundesrat. EineMotionvon FDP-
Nationalrat Hans-Ulrich Bigler zu den immer
weiter auseinanderklaffenden Passagierrech-
ten zwang dieRegierung diesenFrühling zu
einer Stellungnahme. In der Antwort auf die
Motion erklärte der Bundesrat, dass EuGH-Ur-
teile zwar einewichtige Grundlage für die
Auslegung und Anwendung desrelevanten
EU-Luftrechts durch schweizerische Bundes-
behörden undGerichte bildeten, «diese aber
grundsätzlich nicht zu bindenvermögen».
Heisst: DieSchweizerJustiz entscheidet
unabhängig, sollte sich aber an den EuGH-
Urteilen orientieren und nur in begründeten
Fällen abweichen.Der Bundesratkonstatiert:
«EinzelneSchweizer Zivilgerichte folgen der
europäischenRechtssprechung betreffend
Verspätungen, andere nicht. DieFolge kann
sein, dass Flugpassagiere, die ihreForderung
beiVerspätungen von SchweizerGerichten
beurteilen lassen,gegenüber jenen, die in der
EU klagen, schlechtergestellt seinkönnen.»

Groteske Situation
SimonSommervon cancelled.ch erklärt die
Auswirkungen der grotesken Situation in der
Praxis:«Wenn ein Passagier bei einem Flug
von Zürich nachAthen eine grosseVerspätung
erleidet undvor einemSchweizerGericht
klagt,wird er abgewiesen. Klagt der gleiche
Passagier in der gleichenSachevor einemGe-
richt inAthen, erhält ervon der Airline eine
Entschädigung.»
Und esgeht noch bizarrer: AlsAufsichts-
behörde über die Airlines hat auch das Bun-
desamt für Zivilluftfahrt (Bazl) eine eigene
Meinung zurAuslegung der Fluggastverord-
nung Nr. 261/2004. «Das ZivilgerichtBasel-

FortsetzungSeite23


gen beiVerspätungen zahlen. DieBegrün-
dung:Verspätungen waren 2006 in derVer-
ordnung noch nicht erwähnt, lediglichkom-
plette Flugausfälle waren aufgeführt.
Schweizer Fluggesellschaften stützen sich
nur auf eine sehr dünneSchichtvon zivil-
rechtlichen Urteilen, die in derFachwelt um-
stritten sind.Defacto liefern nur drei erst-
instanzliche Entscheidevon Basel (2011/2012)
und Bülach (2016) derSwiss die Steilvorlagen
für ablehnendeBescheide zu Passagierbegeh-
ren: «Da dieRechtsprechung des EuGH in der
Schweiz nicht gilt, bestehtkein Anspruch auf
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