Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

26 WIRTSCHAFT 8. August 2019 DIE ZEIT No 33


DIE ZEIT: sie leben seit 35 Jahren in Ostgrönland,
an einem der menschenärmsten Orte überhaupt.
gerade mal 3500 Einwohner teilen sich die 3000
Kilometer lange Ostküste der weltgrößten Insel.
Der dunkle, eisige Winter dauert neun Monate.
Was hat sie an diesen unwirtlichen Ort verschlagen?
Robert Peroni: Ich wollte nie nach grönland. Ich
komme aus südtirol und bin in den Bergen und
Wäldern aufgewachsen. Dort, wo ich jetzt lebe,
wächst kein einziger Baum. Es gibt nur Eis, Wind
und Weite. Zum glück ließ ich mich damals zu
dieser Expedition überreden.


1983 durchquerte Peroni als Erster das grön­
ländische Inlandeis an seiner breitesten Stelle.
Zusammen mit zwei Kameraden legte er 1400
Kilometer zu Fuß zurück, ganz ohne Hilfsmittel.
Sie brauchten dafür 88 Tage. Bis heute hat
niemand mehr diese Strecke zu Fuß zurückgelegt.


ZEIT: sie haben damals ein Naturgesetz heraus­
gefordert: Es galt als unmöglich, dass ein Mensch
unter arktischen Bedingungen und ohne Lebens­
mitteldepots mehr als 500 Kilometer zu Fuß gehen
kann. Waren sie lebensmüde?
Peroni: Nein, ich hatte alles bis ins letzte Detail ge­
plant. Der Clou war die Nahrung. Wir ernährten
uns von einem äußerst vitamin­ und proteinhaltigen
Kraftpulver, das nur mit Wasser angerührt wurde.
Es bestand aus leicht verdaulichen Fetten, die direkt
in die Blutbahn übergehen und fast keine Abfall­
stoffe enthielten. so brauchten wir nur halb so viele
Kalorien, wie der Körper unter diesen extremen Be­
dingungen eigentlich benötigt hätte. Das sparte viel
gewicht, wobei jeder von uns immer noch 140 Kilo
auf einem schlitten hinter sich herzog.
ZEIT: Einer ihrer Kameraden verlor die Nerven,
wollte sich mit dem gewehr erschießen. Er fing an,
Ihnen zu misstrauen, war überzeugt davon, dass sie
die gruppe im Kreis führten. sie beide redeten kein
Wort mehr miteinander. Wie hält man das aus?
Peroni: Es war sehr schwierig. In so einer extremen
situation wird der Mensch zum tier. Es geht nur
noch ums eigene Überleben. Für uns gab es ja keine
Rettungsmöglichkeit: keinen Helikopter, kein gPs,
kein satellitentelefon. Das ist
bei heutigen unternehmungen
anders. Wir wussten, wenn uns
etwas geschieht, sterben wir.
Ich erinnere mich, wie wir auf­
geben wollten. Eines Morgens
blieben wir einfach in unserem
Zelt liegen. Meine Nase war an
der Zeltwand festgefroren. Wir
konnten nicht mehr, waren
körperlich und mental am
Ende. Da sagte einer von uns:
»Lasst uns etwas essen. Hungrig sterben ist auch
nichts.« Das hat uns das Leben gerettet.
ZEIT: Angst ist Ihnen völlig fremd, oder?
Peroni: ganz und gar nicht. Ich bin ein eher furcht­
samer Mensch. schon als Kind war ich nicht be­
sonders mutig. Vielleicht wollte ich mir deshalb
immer etwas beweisen und habe mir eine Härte ab­
verlangt, die ich körperlich nicht besaß. Ich weiß
noch, wie ich mit Anfang 20 einmal 120 Kilometer
am stück gerannt bin. Einfach so, ich wollte zwi­
schendrin aufhören, aber ich konnte es nicht. Der
Kopf hat es nicht zugelassen. Wenn ich spazieren
gegangen bin, habe ich mir immer zehn Kilo steine
in den Rucksack gelegt, um zu trainieren. Ich war
wohl immer schon ein wenig extrem.


Heute, mit 75 Jahren, kann der einstige Extrem­
sportler kaum noch wenige Hundert Meter zu
Fuß gehen. Er ist auf einem Auge blind und
schwerhörig – zum Teil sind das Spätfolgen
früherer extremer Belastungen.


ZEIT: Bereuen sie, was sie Ihrem Körper alles zu­
gemutet haben?
Peroni: Manchmal denke ich schon: Hätte ich doch
etwas ruhiger gemacht. Dann hätte ich heute noch
die Augen, würde besser hören. Aber ich beklage
mich nicht.
ZEIT: Haben sie das von den grönländern gelernt?
Peroni: Die Inuit sind ein sehr anspruchsloses Volk.
sie akzeptieren die Dinge, wie sie sind. Diese ge­
nügsamkeit habe ich immer bewundert.
ZEIT: sie selbst waren weniger bescheiden. In Ihrem
Leben als Abenteurer kamen sie viel herum, ver­
dienten gutes geld und liebten schnelle Autos – bis
sie mit Mitte 20 in eine sinnkrise stürzten.
Peroni: Bei den Expeditionen ist es immer ums geld
gegangen und um den Erfolg. sobald eine tour ab­
geschlossen war, galt es sofort, eine neue zu finden,
die noch spektakulärer, noch extremer war als die
vorherige. so wollten es die sponsoren. Ein toter in
der gruppe wurde billigend in Kauf genommen
und insgeheim sogar begrüßt. Das gab mehr Presse



  • und damit auch mehr geld. Dieses kranke ge­
    schäft hat mich abgestoßen.
    ZEIT: Hat grönland sie verändert?
    Peroni: Der Extrembergsteiger ist ein Egozentriker,
    der nur den gipfel im Blick hat. Daneben gibt es für
    ihn nichts, das hat beinahe etwas Primitives. Ich war
    ein rastloser Mensch, konnte nie länger an einem
    Ort bleiben. Ostgrönland mit seinen sanftmütigen
    Menschen und seiner atemberaubenden Natur hat
    mich zur Ruhe gebracht.
    ZEIT: Ruhm und Reichtum bedeuten nichts mehr?


Peroni: Ich liebe immer noch schnelle Autos, aber
ich möchte keins mehr besitzen. Es gibt mir ein ge­
fühl von Freiheit, nicht viel zu besitzen und das, was
ich habe, mit anderen zu teilen. In grönland be­
wohne ich ein Dachzimmer ohne fließendes Wasser
und ohne Heizung. Ich habe weder stuhl noch Bett.
Ich schlafe auf einer Matratze auf dem Boden, auf
die es nachts schneit, weil das Fenster undicht ist. Ich
habe zwei Jacken und zwei Hosen. Mir fehlt nichts.
ZEIT: In Ihrem Buch Kälte, Wind und Freiheit
schreiben sie: »Die Inuit und ich, wir verstanden
uns, weil dieses Volk und ich damals gerade eine
tiefe Krise durchmachten. Wir waren beide in ge­
wisser Weise verloren.« Was meinen sie damit?
Peroni: Die Menschen in Ostgrönland hatten bis
vor wenigen Jahrzehnten so gut wie keinen Kontakt
zur Außenwelt. Ende der siebzigerjahre lebten sie
noch genauso wie ihre Vorfahren, die vor tausenden
von Jahren aus der Mongolei geflüchtet waren. sie
wohnten in Erdlöchern, wo sie zu fünft oder zu siebt
auf zwei Quadratmetern überwinterten. Die Inuit
wurden innerhalb weniger Jahrzehnte von der stein­
zeit ins Heute katapultiert.
ZEIT: Wie haben sie diesen schock verkraftet?
Peroni: Die Weißen haben technischen Fortschritt
gebracht: gewehre und Motorschlitten. Die Inuit
leben heute in beheizten Häusern und benutzen
Computer und smart phones so selbstverständlich
wie wir. Aber die Weißen haben keinen Fortschritt
in sachen Menschlichkeit gebracht. sie haben den
Inuit eingeredet, sie seien schmutzig, blutig und pri­
mitiv. Doch kann ein Volk, das in 3000 Jahren kei­
nen einzigen Krieg geführt hat, primitiv sein?
ZEIT: Die Inuit haben über Jahrtausende extremem
Klima und allen Mängeln getrotzt – und sind an der
Ankunft der Zivilisation gescheitert?
Peroni: Die Inuit sind ein Volk der Jäger. Das Jagen
ist ein zentrales Element ihrer Identität. Die Robbe
war alles für sie. sie gab ihnen und ihren Hunden
Nahrung, Felle für die Kajaks und für Kleidung
sowie Fett, das man im Winter als Brennstoff ver­
wenden konnte. Die traditionelle Inuit­Jagd ist
nachhaltig, alles wird verwertet. Heute können die
Menschen vom Jagen nicht mehr leben. Die Weißen
haben ihre Lebensgrundlage zerstört.

In den Siebzigerjahren
starteten Umweltschutz­
organisationen wie WWF
und Green peace weltweite
Kampagnen gegen das Ab­
schlachten von Robbenbabys.
Der Protest der Tierschützer
richtete sich vor allem gegen
die kommerzielle Jagd auf
Jungtiere in Kanada und
Skandinavien. 2009 ver­
abschiedete die Europäische Union ein Handels­
verbot für Robbenerzeugnisse, das 2014 erneuert
wurde. Die Inuit, die weitaus weniger und zu­
meist erwachsene Tiere jagten, traf dieses Verbot
besonders hart. Der Markt für Robbenfelle – die
bis dahin einzige Einnahmequelle der Inuit –
brach vollständig zusammen. Zwar sind Produkte
der traditionellen Inuit­Jagd von dem Embargo
ausgenommen, doch niemand kauft mehr
Robbenfelle. Die über Jahrhunderte autark
lebenden Menschen in Ostgrönland sind heute
auf Sozialhilfe vom dänischen Staat angewiesen.

Peroni: Mit dem Fellmarkt ist auch die gesellschaft
zusammengebrochen. Ein Jäger, der seine Familie
nicht ernähren kann, verliert seine soziale Rolle und
die selbstachtung. Wir haben in Ostgrönland 90
Prozent Arbeitslosigkeit. Die Männer, die nichts
mehr zu tun haben, weil sie nicht jagen können,
sitzen zu Hause und betrinken sich. Alkohol ist ein
Riesenproblem.
ZEIT: grönland hat eine der höchsten selbst mord­
ra ten der Welt.
Peroni: Es ist dramatisch. Die Männer erschießen
sich, die Frauen hängen sich auf. Die vielen suizide
waren der eigentliche grund, warum ich vor 35 Jah­
ren beschlossen habe, in grönland zu bleiben. Immer,
wenn ich weggegangen und nach einiger Zeit zurück­
gekommen bin, waren wieder ein paar Freunde tot. Es
war tragisch. Ich dachte, ich muss etwas tun. Ich muss
bleiben. Deshalb habe ich das Rote Haus gegründet.

Das Rote Haus, das wegen seiner Farbe so heißt,
steht in Tasiilaq, der 100 Kilometer südlich des
Polarkreises gelegenen und mit 2000 Ein­
wohnern größten Stadt Ostgrönlands. Es ist ein
Gästehaus für Touristen und zugleich eine soziale
Auffangstation für die Einheimischen. Hier
bekommt jeder eine warme Mahlzeit. Manch­
mal, erzählt Peroni, stehe ein Dorfbewohner
nachts um zwei vor seiner Tür, betrunken und
bekümmert. Er könne nicht viel mehr tun als
zuhören und eine Tasse Tee anbieten, sagt Peroni.
Aber manchmal helfe das schon. In seinem Hotel
beschäftigt Peroni, der die Sprache der
Einheimischen spricht, ausschließlich Inuit. Er ist
der größte private Arbeitgeber in der Region.

ZEIT: sie sehen im tourismus die einzige Zukunft
für die Region. Wieso sollten die Inuit ausgerechnet
die Weißen, die ihre Kultur zerstört haben, jetzt
auch noch auf ihrem Land herumtrampeln lassen?
Peroni: Ich war anfangs total gegen tourismus. Als
südtiroler habe ich schlimmes gesehen. Diese Le­

»Ich fühle mich schuldig«


Als Extremsportler durchwanderte er grönlands ewiges Eis, heute betreibt er dort ein Hotel. Robert Peroni über die Inuit, die ihn den sinn des Lebens lehrten


derhosenfolklore für deutsche touristen – so etwas
wollte ich den Ostgrönländern unbedingt ersparen.
Bis Mitte der Achtzigerjahre gab es in Ostgrönland
ja noch überhaupt keine touristen. Die grönländi­
sche Regierung hatte aber große Pläne: Binnen zehn
Jahren sollten 100.000 gäste nach Ostgrönland ge­
schleust werden. Ein riesiges Hotel sollte entstehen
und Kurzurlauber aus Island aufnehmen, die ein,
zwei tage auf der Insel bleiben. Es wäre ein Ex­und­
hopp­tourismus entstanden, an dem sich bloß aus­
ländische Investoren bereichert hätten.
ZEIT: Welche Art des Reisens schwebte Ihnen vor?
Peroni: Ich habe gesagt: Wenn tourismus, dann
einer, von dem die Einheimischen profitieren. Zu­
sammen mit Hauser Exkursionen, dem heute größ­
ten Anbieter von nachhaltigen trekking­Reisen
nach Ostgrönland, haben wir vor 25 Jahren eine
Konferenz veranstaltet, zu der wir Wissenschaftler,
touristikexperten und lokale Vertreter der Inuit ein­
geladen haben. Die Voraussetzung war, dass wir den
tourismus streng an den Wünschen der Inuit aus­
richten. Am Ende der Konferenz zogen sich die Ab­
gesandten des Dorfes zur Beratung zurück.
ZEIT: Was war das Ergebnis?
Peroni: Ihr Votum war, dass sie gäste willkommen
heißen, wenn diese ihren status respektierten – zu­
erst als Jäger und dann erst als tourenführer. Das
haben wir akzeptiert. In der Anfangszeit führte das
zu Konflikten. Wenn die Inuit mit touristen unter­
wegs waren und vor deren Augen eine Robbe er­
schossen haben, sorgte das für Aufsehen.
ZEIT: sie beschäftigen im Roten Haus rund 70 Ein­
heimische. Wie reagieren die auf die touristen?
Peroni: Die Inuit sind sehr neugierige und herzliche
Menschen. Aber natürlich prallen da Kulturen auf­
ein an der. Es fällt ihnen schwer, sich an die Vorstel­
lung einer regelmäßigen Arbeit zu gewöhnen und

lange Zeit am gleichen Ort zu bleiben. Die gene
von tausenden Jahren Nomadenleben löscht man
nicht einfach aus. Es ist schwierig, einem Volk, das
nie Vorräte angelegt hat, die Vorstellung vom
sparen zu vermitteln. Oder ihnen unsere Maßstäbe
von Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zu ver­
mitteln. Wenn im Roten Haus zum Beispiel um
sieben uhr das Abendessen serviert werden soll, ist
in der Küche häufig noch nichts vorbereitet. Wenn
ich dann sage, dass die gäste bereits warten, sehen
die Köchinnen mich staunend an: »Ist es nicht
komisch, dass sie immer um Punkt sieben uhr
Hunger haben?«
ZEIT: Wieso sollen sich die Einheimischen über­
haupt nach unseren Maßstäben richten?
Peroni: Weil es der einzige Weg für sie ist, die An­
kunft der Weißen auf Dauer zu überleben. Wir
können die Inuit nicht in die steinzeit zurückkata­
pultieren. Das wollen sie auch gar nicht. Mir geht es
darum, gemeinsam mit ihnen eine neue Lebens­
grundlage aufzubauen. sie brauchen eine Arbeit,
mit der sie ihr Leben auf andere Art bestreiten kön­
nen als mit den traditionellen Methoden der Jagd
und des Fischfangs. Wir können die alte Kultur
nicht bewahren, wir können nur dafür sorgen, dass
sie nicht völlig vergessen wird. Der tourismus kann
dazu beitragen, dass sie ihren stolz zurückgewinnen.
ZEIT: Fühlen sie sich als Weißer eigentlich schuldig
am Niedergang der Inuit?
Peroni: Ich fühle mich immer wieder schuldig, dass
ich weiß bin. und auch wenn ich schon die Hälfte
meines Lebens mit den Inuit lebe, werde ich ein
Weißer bleiben. Ich bin und bleibe südtiroler. Ich
werde aber bis zum schluss bei den Menschen dort
bleiben. Ich will in Ostgrönland sterben.

Das gespräch führte Kerstin Bund

»Die Inuit und ich,


wir verstanden uns.


Wir waren beide


verloren«


Robert Peroni, 75, war
bis in die Neunzigerjahre
Abenteurer und
Extremsportler. Seine
Expeditionen führten ihn
in den Himalaya, den
Hindukusch oder durch
Grönlands Hochplateau.
Heute betreibt der
Südtiroler ein Hotel an
der Ostküste Grönlands

WAS BEWEGT ROBERT PERONI?


Foto: Markus Burke für DIE ZEIT
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