Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 33


an liest den ersten satz in seinem Roman
T. Singer und ist von seinem einzigartigen
glanz sofort elektrisiert. Der satz ist labyrin­
thisch, auf altmodische Weise elegant, halb
spöttisch, halb feierlich, ein wenig großspurig
und alttestamentarisch, aber auch heiter und
gewillt, die Dinge angenehm in der schwebe
zu lassen.
Er geht so: »singer litt an einer speziellen
Form von schamgefühl, das ihn keineswegs
täglich plagte, ihn jedoch gelegentlich heim­
suchte, es war eine Erinnerung an ein
wie auch immer geartetes peinliches Miss­
verständnis, die ihn plötzlich innehalten ließ,
völlig erstarrt, mit einem verzweifelten
gesichtsausdruck, den er sogleich verbarg,
indem er beide Hände vor das gesicht führte,
während ihm ein lautes ›Nein, nein‹ entfuhr.«
Wie, fragt man sich, ist es möglich, dass man
den norwegischen Autor Dag solstad bisher
kaum kannte, dessen glanzvoller stil einen
derartigen sog entfaltet?
Die Meisterschaft und der literarische
Rang des Norwegers Dag solstad sind aller­
dings nur in Deutschland bisher verborgen
geblieben. Im Rest der Welt und auch in sei­
ner Heimat ist solstad der berühmteste
lebende norwegische Klassiker – vom New
Yorker zum Ibsen­Nachfolger erklärt, von
Haruki Murakami verehrt und aus dem Eng­
lischen ins Japanische übersetzt, von Peter
Handke für seine »innige und liebende Iro­
nie«, seinen »kindlich­bescheidenen stolz«,
seinen »(grundscheuen) Ernst« gerühmt. Die
amerikanische Autorin Lydia Davis hat sogar
eigens Norwegisch gelernt, um solstads
jüngsten Roman im Original zu lesen. und
selbst Karl Ove Knausgård nennt solstad den
»besten Autor Norwegens«.

W


ir lächeln uns schüchtern
an, als wir uns in Oslo tref­
fen. Der norwegische Autor
steht im Ruf, so manches
Interview mit spröden Ja­
und Nein­Antworten zu sprengen. Aber er
redet. und redet. Was für eine Jahrhundert­
chance, den amtierenden Ibsen­Nachfolger
einen sonnigen Vormittag lang direkt vor der
Nase zu haben. Leider verstehe ich kein ein­
ziges Wort. Dag solstad, Jahrgang 1941, hat
zwar gemeinsam mit seiner Frau, der Drama­
turgin und theaterkritikerin therese Bjørne­
boe, einige Jahre in Berlin­Kreuzberg
verbracht, spricht und versteht aber keine
einzige Fremdsprache. Ein Übersetzer sitzt
zwischen uns und gibt sein Bestes.
T. Singer, der Roman, der gerade mit
zwanzigjähriger Verspätung im Dörlemann
Verlag erschienen ist (einem schweizer Ver­
lag, der in der vorzüglichen Übersetzung von
Ina Kronenberger schon fünf Romane von
solstad ohne besondere Resonanz veröffent­
licht hat), erzählt die geschichte eines
Mannes, der alles unternimmt, um in der
sozialen unsichtbarkeit eines Durchschnitts­
lebens zu verschwinden. Er wird Bibliothe­
kar, zieht in die Provinz, lebt, weil auch das
irgendwie erledigt werden muss, mit Frau
und stieftochter in einem Reihenhaus – ein
Antiheld, wie solstad ihn liebt. Während alle
anderen in Norwegen damit beschäftigt sind,
sich hervorzutun und am Aufstieg des Lan­
des zur superölmacht teilzunehmen, an ih­
ren interessanten Biografien und ihrer un­
nachahmlichen Individualität zu schnitzen,
setzen sol stads Protagonisten alles daran,
nicht bemerkt zu werden, sich nicht vom
Fleck zu rühren und der mentalen Moderni­
sierung des Landes maximal zu widerstehen.
Dem Anschwellen des Ego in einem der
reichsten Länder der Erde begegnen sie mit
teilnahmsloser unschuldsmiene, die ein
wenig an die tiefenentspanntheit der Mura­
kami­Helden erinnert. selbst wenn sich in
den Romanen gelegentlich Dramatisches zu­
trägt – im Roman T. Singer stirbt die Ehefrau
bei einem Verkehrsunfall, singer zieht seine
stieftochter allein auf; im Roman Professor
Andersens Nacht beobachtet ein Literaturpro­
fessor einen Mord und kann sich nicht dazu
durchringen, den Mörder anzuzeigen –,
scheinen die tragödien einem anderen zu
widerfahren. Die Figuren selbst überlassen
sich einem stolzen gleichmut, der buddhi­
stische Meditationsmeister entzücken müss­
te, für einen zeitgenössischen Roman aber
eine steile Herausforderung darstellt. Wovon
erzählen, wenn der Antiheld das herkömm­
liche stoff­ und kohlendioxidintensive thea­
ter um seine selbstverwirklichung verweigert
und stattdessen wie Oblomow am liebsten
allein zu Hause rumhängt und jeden gedan­
ken an die Zukunft und sein Fortkommen in
ihr verweigert?
Das sei kein Problem, sagt Dag solstad.
Vom storytelling halte er gar nichts. seine
Bücher sollen nach Literatur riechen, nicht
nach gelebtem Leben. Dennoch sei der Ro­
man T. Singer vor zwanzig Jahren für ihn ein
Endpunkt gewesen. Weiter könne man eine
Figur nicht in diese Richtung entwickeln.
singer habe seinen absurden Auftrag erfüllt.

Danach habe er das gefühl gehabt, dass er so
nicht weitermachen könne – mit dieser Art
von Büchern, von denen James Wood im
New Yorker geschrieben hat, sie seien auf der­
art illusionslose Weise resigniert, dass ihre
Resignation fast schon wieder Rebellion sei.
Nach der Jahrtausendwende war für Dag
solstad die Epoche der von ihm so bewun­
derten sanften thomas­Mannschen Ironie,
die diskret signalisiert, dass das einzelne
schicksal in der großen Endabrechnung
ziemlich unwichtig ist, definitiv abgelaufen.
selbst wenn seine Bücher über die Helden
der schicksalslosigkeit nicht gelungen wären,

musste schluss mit ihnen sein. solstad kenne
genug schriftstellerfreunde, die ihre eigenen
Werke immer wieder korrigierten, die das
perfekte Werk schreiben wollten und nie fer­
tig würden. Für ihn sei seine eigentliche Ar­
beit nach T. Singer jedoch abgeschlossen und
seine Autorschaft beendet gewesen. Er habe
1999 öffentlich erklärt, dass sein Werk voll­
bracht sei, dass er als Autor mit seinem
schreiben abgeschlossen habe. Das habe ihm
ermöglicht, wieder bei null anzufangen.
Alles, was seither noch kam, sei nur noch
»Zugabe« gewesen, Bücher, die spielerisch
mit den grenzen des genres experimentieren


  • der teilweise in Berlin spielende Roman





    1. 41 (solstads geburtsdatum), der aus
      Fußnoten bestehende Roman Armand V.
      über einen norwegischen Botschafter in Lon­
      don (der bisher einzige Roman dieser späten
      Werkphase, der ins Deutsche übersetzt




wurde) und zuletzt, im Jahr 2013, das vier­
hundertseitige Buch über seine Vorfahren
Das unlösbare epische Element der Telemark in
der Zeit von 1591 bis 1896, das von der füh­
renden norwegischen Literaturkritikerin
Ingunn Økland für unlesbar erklärt wurde –
woraufhin der verletzte Autor zu einer lan­
desweiten Vortragstournee aufbrach, mit der
er sich wehrte: »Ich lebe in einer Kultur, in
der einem verdienten, älteren Künstler, einem
73 ­jährigen ehrwürdigen Romanautor,
letz ten Herbst Hohn, spott und Verachtung
entgegengebracht wurden, weil er einen
Roman veröffentlicht hat.«

In Wahrheit gehört solstad seit Jahr­
zehnten zum norwegischen Kulturestablish­
ment, ausgestattet mit einer steuerfreien,
lebenslänglichen staatsrente, einer hellen,
weitläufigen Altbauwohnung voller Bücher
in Oslo und einem sommerhaus auf der In­
sel Veierland (in dem sich sein schwieger­
vater, der damals ebenfalls sehr berühmte
norwegische schriftsteller Jens Bjørneboe, in
den siebzigerjahren das Leben nahm, aber
das ist eine andere geschichte), ein Mann,
der auf ein Lebenswerk von achtzehn Roma­
nen zurückblickt, dazu zwei Dramen, meh­
rere Essaybände und fünf Bücher über die
Fußballweltmeisterschaften, die er zwischen
1982 und 1998 gemeinsam mit dem kürz­
lich verstorbenen Autor und Journalisten Jon
Michelet geschrieben hat.
Begonnen hat solstad als junger Lehrer
auf den Lofoten und als norwegischer

Revolutionär, der das weltweit bewunderte
sozialdemokratische Vorzeigereich stürzen
wollte. Der leidenschaftliche Leser von Knut
Hamsun, Franz Kafka, Robert Musil, Her­
mann Broch, Witold gombrowicz und
thomas Mann galt in den siebzigerjahren als
staatsrisiko: Kommunist, Maoist, Mitglied
der Kommunistischen Arbeiterpartei. Den
sicherheitsbeamten, die sein telefon
ab gehört hätten, habe er jedes Jahr frohe
Weihnachten gewünscht.
sein Ausflug in den skandinavischen Ma­
oismus ging in den Achtzigerjahren zu Ende.
Bis dahin hatte er zehn erfolgreiche, enga­
gierte, politische Romane geschrieben. ge­
nau genommen, sagt er, habe der Kommu­
nismus ihn damals verlassen und nicht er
den Kommunismus. Er selbst sei heute sogar
noch viel antikapitalistischer als früher. Er
sei empfindlicher geworden und fühle sich
viel stärker vom Kapitalismus gekränkt als
zu der Zeit, als er noch an den Kommunis­
mus glaubte.
Die kapitalistische Kränkung, gegen die es
kein Mittel mehr zu geben scheint, wurde
sein Leib­und­Magen­thema, als er in
schneller Folge in den Neunzigerjahren den
Zyklus der vier Romane über die vier
Leistungsverweigerer schrieb, die seinen
Ruhm begründeten: Elfter Roman, acht-
zehntes Buch, Scham und Würde, Professor An-
dersens Nacht und zum schluss T. Singer.
Vom gesichtspunkt des Konsumenten aus
betrachtet, seien diese Romane grenzenlos
langweilig, kokettiert solstad. Darauf sei er
stolz. Langeweile sei ein segen. sie sei sein
eigentliches Arbeitsgebiet. Überhaupt fühle
er sich als Autor inzwischen vollkommen frei;
er müsse auf niemanden Eindruck machen,
müsse nichts verkaufen, keine sprache spre­
chen, die andere erfunden hätten. Ja, er müs­
se sich nicht einmal die Haare kämmen.

S


olstad spielt die Rolle des alten, un­
zähmbaren Originalgenies, die in
Deutschland lange an Martin
Walser vergeben war, mit einem
wachen sinn für die Komödie.
trotz seiner politischen Enttäuschung über
den umbau des alten norwegischen Wohl­
fahrtsstaates und trotz seines lebhaften norwegi­
schen Existenzialismus, den er seiner Ham­
sun­Begeisterung und seiner Ibsen­Nachfol­
gerschaft schuldig ist (zwei seiner Helden sind
Ibsen­Forscher, einer ist Laiendarsteller in
einem Ibsen­stück), geht etwas Versöhnliches
von ihm aus. Eine grundgütige Nachsicht mit
den Lebenslügen, die hilfreich sind, um die
Mühen der Ebene im Erwachsenendasein zu
überstehen. »Wenn sie einem Durchschnitts­
menschen seine Lebenslüge rauben, dann
nehmen sie ihm gleichzeitig sein glück« – das
Zitat aus der Wild ente legt solstad im Roman
Scham und Würde einem Norwegischlehrer in
den Mund, einem »dem Alkohol verfallenen
studienrat in den Fünfzigern mit einer Frau,
die ziemlich zugenommen hatte und mit der
er jeden Morgen frühstückte«. Nach einer un­
terrichtsstunde über Ibsens Drama, deren
»gleichmäßiges Plätschern« das »verwirrte, un­
zulängliche Innenleben der schüler« im »trü­
ben Licht, das in einer norwegischen schule
stets herrscht«, wieder einmal nicht erreichte,
zerhackt der alte Literaturlehrer auf dem
Nachhauseweg seinen Regenschirm in einem
verzweifelten slapstick. In einer seltsam tragi­
komischen oder vielleicht auch nur norwe­
gischen Variation des anschwellenden Bocks­
gesangs beklagt der alte, noch in der Vor­Erdöl­
Zeit des Landes sozialisierte Philologe, dass
seine generation politisch und kulturell heute
vollkommen isoliert sei, dass diejenigen, »die
heute den ton in der gesellschaft angaben, die
Wirklichkeit beurteilten und auf eine Weise
spiegelten, die ihm wie eine Degradierung all
dessen vorkam, wofür er stand«, was unter an­
derem dazu führt, dass »Zeitungen und Fern­
sehen für ihn der täglichen Kon fron ta tion mit
einer persönlichen Niederlage gleichkamen«.
Darin steckte, unverkennbar, ein liebevoll
spottendes selbstporträt des Autors.
solche unzeitgemäßheit ist seine größte
stärke. Dag solstad, selbst ein Kind der Bocks­
gesang­generation der in den 1940er­Jahren
geborenen, fühlt sich am wohlsten, wenn er
»ganz hinten sitzt und auf die schimpft, die
weiter vorne sitzen«. Einer seiner Helden, ein
kleiner steuerbeamter in Kronberg, beendet
sein Leben freiwillig in einem Rollstuhl. Der
Norwegischlehrer kehrt mit zerbrochenem Re­
genschirm zu seiner dicken Frau zurück. t.
singer vergräbt sich in der Deichmannschen
Bibliothek in Oslo. sie alle seien, sagt er, ver­
zweifelt, aber auch »abgeklärt«, heitere Fatalisten
wie Camus’ sisyphos, der den stein immer wie­
der den Berg hinaufrollte und dabei angeblich
glücklich gewesen sein soll.
In diesem Herbst erscheint in Norwegen ein
neues Buch von Dag solstad. Es sei eine un­
glaubliche Freude gewesen, dieses Buch noch
zu schreiben. Danach sei es nicht schlimm,
wenn er endgültig nicht mehr schreibt. Es geht
ihm gut. Er sei »ein munterer Mann«.

Norwegens Größter


Der norwegische Autor Dag solstad ist ein international bewunderter solitär, ein glänzender stilist mit einem


unverwechselbaren Werk, das in Deutschland kaum bekannt ist. Eine Begegnung in Oslo VON IRIS RADISCH


M


Der Gesang von


Leid und Kampf


Zum tod der amerikanischen
schriftstellerin toni Morrison

A


ls sie in den siebzigerjahren noch als
Lektorin für Random House arbeite­
te, so erzählte toni Morrison, sei sie
von den Verlagsvertretern oft gefragt worden,
ob diese oder jene Neu erschei nung von afro­
amerikanischen schriftstellern sich denn
auch auf beiden seiten der straße verkaufe.
Damit waren das weiße und das schwarze
Amerika gemeint. Der großen schrift­
stellerin toni Morrison ist es mit ihrem
eigenen Werk nie darum gegangen, diese
beiden seiten der straße zusammenzuführen
oder gar zu versöhnen. Jedes Wort der Ver­
söhnung hatte in ihren Ohren einen falschen
Zungenschlag; zu unterschiedlich waren die
Lebenserfahrungen auf den beiden seiten
der straße, zu asymmetrisch die Macht­
verhältnisse, um in die ausgestreckte weiße
Hand einfach einzuschlagen.
Morrison selbst hatte als schriftstellerin
dann das selbstbewusstsein, nur für die eine
seite der straße zu schreiben, also nicht daran
zu denken, wie man den weißen Leser mit­
nehmen könnte – und genau damit schuf sie
Weltliteratur. Ralph Ellisons Roman Invisible
Man, ein Klassiker der afroamerikanischen
Literatur, ärgerte sie, weil schon sein titel an
einen imaginären weißen Leser adressiert sei


  • denn unsichtbar war der schwarze Mann
    doch immer nur für Weiße, nicht für schwar­
    ze. so unmittelbar können Fragen der Erzähl­
    perspektive und der Moral verquickt sein.
    Als toni Morrison 1993 den Nobelpreis
    erhielt, war es ersichtlich ihre größte sorge, ihr
    könnte ein satz über die Lippen kommen, den
    man so hätte missverstehen können, dass mit
    dieser Auszeichnung die afroamerikanische
    Literatur symbolisch anerkannt und an­
    gekommen sei. Nur weil sie den Nobelpreis
    bekommen habe, sei die Welt noch lange nicht
    in Ordnung. In ihrem Roman Heimkehr von
    2012 kommt der Protagonist aus dem Korea­
    Krieg zurück, wo er in der integrierten Armee
    diente. Nun kehrt er in die weiterhin segregier­
    te Heimat zurück und zerbricht fast an ihrem
    Rassismus. Erst am Ende, nach vielen schlä­
    gen, gelingt es ihm, den Ort, an dem er auf­
    wuchs und der stets ein Ort der traumata war,
    doch noch zu seinem home zu machen. Hei­
    mat ist nicht das, was
    einem in die Wiege
    gelegt wurde, sondern
    eine Lebensaufgabe,
    um die man kämpfen
    muss. Das war das Äu­
    ßerste an Hoffnung,
    was Morrison ihren
    Lesern zugestand.
    Morrisons un­
    erbitt lichkeit war ein­
    schüchternd und be­
    eindruckend. sie war
    eine Charismatikerin.
    Ihr selbstbewusstsein
    war nicht das derjenigen, die mit einem gol­
    denen Löffel im Mund zur Welt kamen. Ihr
    stolz bezog seine Härte aus dem Bewusstsein
    des Leids, des Kampfes und der grausamkeit.
    Auch ihre Romane waren an der emotio­
    nalen schmerzgrenze angesiedelt: In ihrem
    Debüt von 1970, Sehr blaue Augen, sehnt sich
    ein Mädchen, das vom eigenen Vater miss­
    braucht wurde, weil dieser ihr anders seine
    Liebe nicht zeigen konnte, danach, blaue
    Augen zu haben, dann erst wäre alles gut.
    Morrisons Meisterwerk Menschenkind erzählt
    von einer Mutter, die vor der sklaverei flieht.
    Als die Häscher ihr auf den Fersen sind, tötet
    sie ihre zweijährige tochter, um ihr das schick­
    sal der Versklavung zu ersparen – eine tat von
    so ambivalenter Wucht, dass dieser Roman
    immer beides ist: krass und komplex zugleich,
    schwarz­weiß und doch unendlich differen­
    ziert. Das liegt schon an der vielstimmigen
    Orchestrierung, die für ihr schreiben cha­
    rakteristisch ist: Die unerbittlichkeit fängt bei
    Morrison immer an zu singen.
    sie sei, erzählte sie einmal, in einfachsten
    Verhältnissen in Ohio aufgewachsen, aber
    immer eingehüllt in den Klang der stimme
    ihrer Mutter, die eine gute sängerin gewesen
    sei. Dieser gesang sei mehr als unterhaltung
    gewesen, ein Informationsstrom, der ihr
    alles über den gemütszustand ihrer Mutter
    mitteilte und der zugleich ein emotionales
    unterstützungssystem war.
    Der Klang der stimme ihrer Mutter ist
    in die sprache ihrer Romane eingegangen.
    Es war Morrisons literarisches genie, ihre
    schriftsprache so nah wie möglich an den
    Blues heranzuführen. (Man muss sie gehört
    haben, wie sie ihre eigenen texte vorlas!) so
    schuf sie aus der missachteten, als ästhetisch
    defizitär abgewerteten sprache der schwar­
    zen, halb straßenjargon, halb hoher Bibel­
    ton, durch den schmelz des gospels ver­
    bunden, eine eigene literarische Klassik für
    die schwarze seite der straße. Dieses Melos
    war nie kitschig, das Pathos nie hohl, dazu
    vermochte sie zu tief in die seele des
    schmerzes zu schauen. Jetzt ist toni Morri­
    son im Alter von 88 Jahren in New York
    gestorben. IJOMA MANGOLD


Dag solstad:
t. si n g e r.
Aus dem
Norwegischen
von Ina
Kronenberg;
Dörlemann,
Zürich 2019;
288 s., 22,– €,
als E­Book
18,99 €


LITERATUR


FEUILLETON 39


Der norwegische Autor Dag Solstad, geboren
1941, lebt in Oslo und auf der Insel Veierland

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT (Fotovorlage: B. Cannarsa/laif); Foto: Timothy Greenfield-Sanders/Corbis/Getty Images

Toni Morrison
* 18. 2. 1931
† 5. 8. 2019

Nachruf

Free download pdf