Die Welt Kompakt - 31.07.2019

(lu) #1

ge nahezu unmöglich. Ich be-
trachte mich als Programm-
macher. Wenn ich von einem
Film völlig überzeugt bin, spre-
che ich direkt eine Einladung aus.
Wenn ich Zweifel habe, bitte ich
um das Urteil von Dritten. So
sollen es auch die anderen im Ko-
mitee halten. Ich habe viel weni-
ger Verwaltungs- und Repräsen-
tationspflichten als Dieter und
werde mich deshalb aufs Filme-
sehen stürzen. Seit meinem
Amtsantritt am 1. Juni habe ich
schon 150 Filme gesehen. Bis das
Programm steht, werden es wohl
700 werden.


Hört man den neuen bayeri-
schen Ministerpräsidenten,
glaubt man, sein Münchner
Filmfest solle der Berlinale den
Rang streitig machen.
CHATRIAN:Ich war noch nie
beim Münchner Filmfest, weil es
in der heißen Phase vor Locarno
stattfindet. Letztendlich finde
ich es gut, wenn Festivals an Be-
deutung gewinnen, weil das die
Aufmerksamkeit für das Kino in
Deutschland steigert. Wenn Sie
mich fragen, ob ich mir Sorgen
wegen München mache, lautet
die Antwort: nein. Aber ich ma-
che mir auch keine Sorgen um
andere Festivals. Jeder steht auf
seinem Platz und tut seinen Job.


Kommen wir zu dem N-Wort.
Wie hält die Berlinale es mit
Netflix?
CHATRIAN:Wir glauben beide,
dass ein Festival als Chance be-
trachtet werden sollte, nicht als
verschlossene Tür. Und zwar um
die Leute ins Kino zu bringen,
denn was wir bieten, ist das ge-
meinsame Erlebnis vor der gro-
ßen Leinwand. Wir sollten die
Diskussion, derer ich mir be-


wusst bin, nicht auf Ja oder Nein,
Netflix oder Amazon verengen.
RISSENBEEK:Die aktuell gelten-
den Berlinale-Regeln möchten
wir aufrechterhalten. Das heißt,
wenn ein Kinostart vorgesehen
ist, können auch Filme von
Streaming-Plattformen laufen.
Der Ort Kino bleibt für uns eine
Priorität.

Der Berlinale-Palast ist dem
Festival bis 2022 sicher. Außer
im Februar steht er leer. Was
wird aus ihm?
RISSENBEEK: Ich habe noch
nicht mit dem Vermieter über
Vertragserneuerung gesprochen,
dafür ist es meiner Meinung nach
zu früh. Es gibt keine Hinweise,
dass uns der Palast in Zukunft
nicht zur Verfügung stehen
könnte. Investoren werden ver-
suchen, den Potsdamer Platz
wieder attraktiver zu machen,
und zu dieser Attraktivität ge-
hört auch die Berlinale.

Ein großes Kino am Potsdamer
Platz, das Cinestar, wird mögli-
cherweise zum Jahresende
schließen. Die Berlinale zeigt
dort viele ihrer Filme.
RISSENBEEK:Ich vermute, dass
man einen anderen Betreiber su-
chen würde, sollte Cinestar
wirklich rausgehen. Gespräche
mit dem Vermieter stimmen
mich zuversichtlich, dass wir
nächsten Februar dort Filme
zeigen können.

Auch die Viennale hat mit Eva
Sangiorgi eine neue Leitung
aus Italien. Angeblich haben
Sie zusammen Deutsch gelernt.
Wie viel Deutsch trauen Sie
sich im Februar zu?
CHATRIAN:Eva und ich haben
zwar nicht zusammen gelernt,
sind aber in derselben Situati-
on. Ich nehme weiter Deutsch-
unterricht, aber es gibt noch
vieles zu lernen.

Dieter Kosslick (l.)
mit seinen Nachfolgern
Carlo Chatrian und
Mariette Rissenbeek

PA/

DPA/EVENTPRESS GOLEJEWSKI

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,31.JULI2019 KULTUR 21


E


s ist ein starkes Zeichen
des menschlichen Wil-
lens, noch im Augenblick
der Katastrophe schon an den
Wiederaufbau zu denken.
Nachdem am späten Nachmit-
tag des 15. April 2019 der Dach-
stuhl der Kathedrale Notre-Da-
me von Paris Feuer gefangen
hatte, bald lichterloh in Flam-
men stand und kurz vor acht
Uhr abends der brennende Vie-
rungsturm wie ein Fanal ein-
stürzte, war der französische
Präsident der Erste, der die
Wiedererrichtung ankündigte
und sogar binnen fünf Jahren.

VON MARCUS WOELLER

Kaum war der Rauch verzo-
gen, hatten Architekten schon
erste Pläne für den Wiederauf-
bau aus dem Ärmel ihrer uner-
müdlichen Wettbewerbsabtei-
lungen geschüttelt. Norman
Foster (und einige andere)
schlägt ein Glasdach mit Kris-
tallnadel vor. Vizumatelier will
statt der Vierungslaterne lieber
einen Lichtstrahl gen Himmel
leuchten lassen. Und Ulf Mejer-
gren fantasiert von einem
kreuzförmigen Infinity-Swim-
mingpool statt eines Daches.
Bei einer Spendenbereitschaft,
die schnell die Milliardenmarke
erreicht hatte, fangen eben
nicht nur Architekten an zu
träumen.
Dass Notre-Dame nicht nur
architektonisches Welterbe ist,
sondern auch ein Funktionsbau
fffür die christliche Liturgie, da-ür die christliche Liturgie, da-
ran hat nun das internationale
Architekturbüro Gensler erin-
nert und eine temporäre Kirche
entworfen. Denn die Statik der
Ruine ist fragil. Die Fassaden
können immer noch einstür-
zen, so wird gewarnt. Man habe
also nur Aufrufe des Erzpries-
ters, Domdekans und Kathe-
dralbaustellenleiters Patrick
Chauvet sowie der Pariser Bür-
germeisterin ernst genommen,
vor allen Rekonstruktionswol-
kenkuckucksheimen zunächst
eine Struktur zu bauen, in der
der Gottesdienst abgehalten
werden kann.
Der Gensler-Entwurf ist ein-
fffach und pragmatisch: Auf ei-ach und pragmatisch: Auf ei-
ner Fläche von 75 mal 22 Me-
tern (so groß wie das Mittel-
schiff) erhebt sich ein translu-
zenter Kubus mit Polykarbo-
nat-Wänden und einer eben-
fffalls durchscheinenden Deckealls durchscheinenden Decke
aus luftgefüllten Kunststoffkis-
sen. Getragen wird die Leicht-
baufassade nicht von gotischen
Strebepfeilern, sondern von ei-
nem innen liegenden Skelett-
fffachwerk aus verkohltem Holz.achwerk aus verkohltem Holz.
Das ist nicht nur als Reminis-
zenz an den Großbrand zu ver-
stehen, sondern hat auch stati-
sche Gründe. Holz dem Feuer
auszusetzen, sei nicht nur eine
der ältesten und wirksamsten

Brandschutzmethoden, so ein
Partner des Architekturbüros.
Es gemahne an die Katastro-
phe, die Notre-Dame zerstört
hat, drücke zudem den Glau-
ben an Wiedergeburt und
Transformation der Kathedrale
aus.
Gensler wolle einen „be-
scheidenen“ Raum schaffen,
welcher der 850 Jahre alten
Kirche nicht „die Schau
stiehlt“, eine Halle, die man für
den Gottesdienst der Gläubi-
gen ebenso nutzen könnte wie
fffür alle möglichen weltlichenür alle möglichen weltlichen
Events. Gleichwohl lässt der
Entwurf die Anhänger eines
historischen Wiederaufbaus
von Notre-Dame schon jetzt
fffürchten. ürchten.
Im Rendering scheint der
monumentale Plastikquader
wie eine minimalistische
Skulptur direkt auf dem Parvis
von Notre-Dame gelandet zu
sein, dem Papst Johannes Paul
II. gewidmeten Vorplatz auf
der Île de la Cité in der Seine.

I. gewidmeten Vorplatz auf
er Île de la Cité in der Seine.

I. gewidmeten Vorplatz auf

Die gotische Kathedrale bekä-
me damit für viele Jahre ein
Gegenüber, einen Pop-up-Zwil-
ling. Im Gegensatz zu den vie-
len ernst und weniger ernst ge-
meinten Entwürfen für deren
Rekonstruktion drückt er aber
kaum einen egomanen Gestal-
tungswillen aus. Vielmehr folgt
das Design dem etwas anti-
quierten Moderne-Credo
„form follows function“ und
der sehr zeitgemäßen Devise,
eben nicht mehr für die Ewig-
keit bauen zu wollen.
Und so wirkt der brave Gens-
ler-Entwurf im Vergleich zu
zeitgenössischen temporären
Sakralbauten arg protestan-

tisch. Dabei geht es anders:
Erst im vergangenen Jahr hatte
der Vatikan einen fulminanten
AAAuftritt auf der Architektur-uftritt auf der Architektur-
biennale von Venedig. Seit 2018
ist der Kirchenstaat nämlich
auch im Kreis der Länderpavil-
lons vertreten.
In einem versteckten Garten
auf der kleinen Insel San Gior-
gio Maggiore ließ der Heilige
Stuhl zehn hinreißende Kapel-
len errichten. Die Bauten von
Architekten wie Javier Cor-
valán (ein schräg stehende
Doppeltrommel), Norman Fos-
ter (eine gefaltete Stabkirche),
Sean Godsell (ein in die Höhe
strebender Kiosk) oder Carla
Juaçaba (ein chromglänzendes
Nichts von einem Andachts-
raum) sind allesamt originell
und würdevoll gleichzeitig.
Den Betern nur ein Kiste hin-
zustellen, daran hat niemand
auch nur gedacht.
AAAuch die Pappkirche, die Shi-uch die Pappkirche, die Shi-
geru Ban im neuseeländischen
Christchurch errichtet hat, hät-
te eine Inspiration für Paris
sein können. Nachdem die an-
glikanische Kathedrale bei den
verheerenden Erdbeben im
Jahr 2011 zerstört worden war,
baute der japanische Architekt
ein feierlich-festliches Proviso-
rium (teilweise aus Karton),
das es ästhetisch mit dem Alt-
bau durchaus aufnehmen kann.
Und sogar in der Pariser Ban-
lieue gab es ein Vorbild: die
ephemere Kathedrale von
Créteil. 2013 nahm die amorphe
Höhle über einem freitragen-
den Gerüst die Gläubigen der
Gemeinde auf, während die
Bistumskirche aus den 1960er-
Jahren renoviert wurde.

Pop-up-Kathedrale


Wo sollen die Gläubigen beten, während Notre-Dame restauriert wird?


NNNach dem Brand von Notre-Dame gibt es jetzt Entwürfe für eineach dem Brand von Notre-Dame gibt es jetzt Entwürfe für eine
provisorische Kathedrale in Paris

GENSLER.COM FOTO BY SEDAT MEHDER
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