Mittwoch, 17. Juli 2019 WIRTSCHAFT 19
Selbst bei Anwälten ist dieWork-Life-Balance
inzwischen ein Thema geworden SEITE 21
Das Panini -Fussballbildchen- Imperium wechselt immer
wieder die Hand – nun steht der nächste Verkauf anSEITE 22
Die Schattenseite des deutschen Jobwunders
In fast keinem anderen Industrieland verdienen so viel e Menschen so wenig
CHRISTOPH EISENRING, BERLIN
Deutschland darf stolz sein auf seinJob-
wunder. Heutzutage sind6Mio. mehr
Menschen in Lohn und Brot als noch
- Die Erwerbslosenquote, wie sie
die Internationale Arbeitsorganisation
berechnet, lag jüngst nur noch bei 3%,
was selbst die Schweiz in den Schatten
stellt.Das sind gute Nachrichten. Doch
ein zweiter Blick auf den Arbeitsmarkt
enthüllt weniger Schmeichelhaftes: In
Deutschland gibt es einen riesigen Nied-
riglohnsektor.Was ist damit gemeint?
Als Geringverdiener giltgemeinhin, wer
pro Stunde weniger als zwei Drittel des
mittleren Lohnes erzielt. Es geht also
nicht um einen «Armutslohn», sondern
um denVergleich mit dem Lohn, der
typischerweise in einemLand bezahlt
wird. EinTrumpf der Schweiz ist, dass
dasLand nicht nur hohe Löhne zahlt,
sondern gleichzeitig einen vergleichs-
weise kleinen Niedriglohnsektor hat.
Dies wirkt sich stabilisierend auf eine
Gesellschaft aus.
Immer wenigerTarifverträge
Deutschlandkommt laut Berechnungen
von Soziologen der UniversitätWien im
Jahr 2015 auf einen Niedriglohnanteil
von 22%, die Schweiz auf einen Anteil
von 12%. Deutschland hat innerhalb der
OECD denn auch einen der grössten
Niedriglohnsektoren. Das war jedoch
nicht immer so. Noch1996 wies die Sta-
tistik einen Anteil von14% für Deutsch-
land aus, womit man unter den Indus-
tri estaaten im Mittelfeld lag. Es handelt
sich somit um einen kräftigen Anstieg,
während die Situation in der Schweiz
weitgehend stabil blieb.
Was steckt hinter diesen gegenläufi-
gen Entwicklungen? Man findet dafür
mindestens vier Gründe: Nicola Brandt,
die bei der OECD die Deutschland-
Abteilung leitet, verweist im Gespräch
auf die Öffnung Osteuropas nach dem
Fall der Mauer1989. Damit gerieten in
Deutschland besonders die Löhne von
wenig qualifizierten Arbeitnehmern
unter Druck.Eine vergleichbareDyna-
mik hat es am Schweizer Arbeitsmarkt
nicht gegeben.
Damit eng verbunden ist der zweite
mögliche Grund:der Rückgang derTa-
rifbindung in Deutschland. In Skandi-
navien,aber auch in Österreich gelten
fürdie meisten ArbeitnehmerTarifver-
träge. Diese Staaten haben auch einen
kleinen Niedriglohnsektor. In Deutsch-
land ist der Anteil der Mitarbeiter mit
Tarifverträgen laut OECD von1996 bis
2016 von 81% auf 56% gesunken. In der
Schweizging es in die entgegengesetzte
Richtung: Hier nahm der Anteil von
43% auf 49% zu. Erstaunlich ist viel-
leicht, dass die beidenLänder hier gar
nicht mehr so weit auseinanderliegen.
Nicht vergessendürfe man, drittens,
woher Deutschlandkomme, sagt Her-
mann Gartner vom Institut für Arbeits-
markt- und Berufsforschung (IAB) in
Nürnberg. Das Land hatte 2005 eine
Arbeitslosenquote von über 10%. Die
Reformen der «Agenda 2010» unter
der Regierung Schröder sowie die über
Jahre praktizierte Lohnzurückhaltung
animierten dieFirmen, neue Stellen
zu schaffen. Arbeitslose erhielten eine
Chance, wenn auch oft zu einem nied-
rigen Lohn –schliesslich hatten ihre
Qualifikationen unter der Arbeitslosig-
keit gelitten. In der Schweiz gab es da-
gegenkein Heer von Arbeitslosen. Die
lange ungünstige Entwicklung wirkt in
Deutschland bis heute nach.
Schliesslich gibt es,viertens,einen
wichtigen institutionellen Unterschied
zwischen den Nachbarstaaten: Um die
Jahrtausendwende wurden besonders
von derrot-grünenRegierung «Mini-
jobs» etabliert.Das sind Arbeiten, für
die man im Monat maximal 450 € ver-
dient. Der Arbeitgeber führt hierbei
einePauschale an den Staat ab, während
der Lohn für den Arbeitnehmer steuer-
frei ist und dieser daraufkeine Sozial-
abgaben zahlt. Die Idee dahinter war,
bürokratische Hürden bei der Anstel-
lung zu beseitigen und die Schwarzarbeit
zu verringern. In Deutschland gibt es7, 5
Mio. «Minijobber», von denen 4,8 Mio.
ausschliesslich einen «Minijob» haben.
40% der «Minijobber» sind Hausfrauen
(und wenige Hausmänner), je 20% Stu-
dierende undRentner.
Laut einer Studie des Instituts Arbeit
und Qualifikation verdienen 37% der
ausländischen Beschäftigten einen Nied-
riglohn, bei den deutschen sindes 21%.
Auch die zugewanderten Flüchtlinge
starten meist in einfachenJobs und stei-
gen erst langsam auf. Und während von
den Männern17% im Niedriglohnsektor
arbeiten, sind es bei denFrauengut 29%.
Woran liegt diese Diskrepanz zwi-
schen den Geschlechtern? Zweitver-
diener, immer noch meistFrauen, sehen
sich in Deutschland hohen Grenzsteuer-
sätzen gegenüber. «Minijobs» schaffen
nun die Möglichkeit, etwas Geld zu ver-
dienen, ohne dass die hohen Steuern
und Sozialabgaben schon greifen. Der
Nachteil ist, dass sie damit nicht unbe-
dingt einenJob ausüben, der ihren Qua-
lifikationen entspricht.
Falsche Anreize
MöglicheReformen für Deutschland
liegen für die beiden befragten Exper-
ten auf der Hand: Hürden,die Men-
schendavon abhalten, mehr zu arbeiten
oder bessere Stellen anzunehmen, gilt
es zu beseitigen.Wer im Niedriglohn-
be reich tätig ist, muss oft befürchten,
dass er unter dem Strich kaum mehr
Geld hat, wenn er mehr arbeitet, weil
ihm staatliche Leistungen gestrichen
werden.Ähnlich wirkt das deutsche
Ehegatten-Splitting. Es führt zu einer
hohen Steuerbelastung beim Zweit-
verdiener.Dem würde der Übergang
zur Individualbesteuerung entgegen-
wirken. Die Sozialabgaben auf (niedri-
gen) Löhnen zu senken, wäre eine wei-
tereOption.
Die Schweiz hat dank niedrigen
Steuern und Sozialabgaben gegenüber
Deutschland einen gewichtigenVorteil.
Sie ist zudem international gesehen ein
statistischerAusreisser, weil sie trotz
vergleichsweiseliberalem Arbeitsmarkt
und dezentralen Lohnverhandlungen
nur einen kleinen Niedriglohnsektor
hat. Es gibt jedenfallskeinen Grund, die
Lohnverhandlungen stärker zu zentra-
lisieren (etwa indem immer mehr Ge-
samtarbeitsverträge für allgemeinver-
bindlich erklärt werden).Was übrigens
den Lohnschutz anbelangt, haben die
beidenLänder ähnlicheRegeln,die nur
anders heissen:Was in der EU das Ent-
sendegesetz ist, nennt die Schweiz «flan-
kier ende Massnahmen».
Jeder Fünfte arbeitet inDeutschlandimNiedriglohnsektor. GAETAN BALLY / KEYSTONE
Das Facebook-Währungsprojekt stösst auf Skepsis
Der künftige Genfer Libra-Verein w ill sich von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht und vomDatenschutzbeauftragten beaufsichtigen lassen
MARTIN LANZ,WASHINGTON
«I don’t tru st Facebook.» Mit diesem
Satz begann Senatorin Martha McSally
ihreAnsprache am Dienstag in einer
Anhörung desBankenausschusses des
amerikanischen Senats zumWährungs-
projekt «Libra». Sie sprach damit vielen
ihrerPolitikerkollegen aus dem Herzen.
David Marcus, der für das Projekt ver-
antwortliche Chef desFacebook-Toch-
terunternehmens Calibra, versuchte
mehrmals klarzustellen, dassFacebook
zwar hinter der Gründung des Libra-
Vereins und der Libra-Blockchain stehe
und bis Ende 2019 eineFührungsrolle
wahrnehme. Wenn das Libra-Netzwerk
aber einmal starte, werdenFacebook
und dessenTöchter dieselben Privile-
gien undVerpflichtungen wie alle ande-
ren Gründungsmitglieder desVereins
haben, sagte der 46-Jährige.
Gefragte Schweizer Regulatoren
Facebook werde den Libra-Verein
wederkontrollieren, noch werde das
soziale Netzwerk Nutzerinformationen
«absaugen»können, versprach David
Marcus, der lange in der Schweiz gelebt
hat und einen SchweizerPass hat. Der-
zeit hat das Projekt 27Partner, darunter
Uber, Mastercard,Visa und Spotify, die
nach Abschluss der Arbeiten an den
Vereinsstatuten auch Gründungsmit-
glieder werden sollen. Angestrebt wer-
den laut Marcus rund 100 Gründungs-
mitglieder. DerVerein wird die Libra-
Blockchain und die Libra-Reserve be-
treuen, wobei die Libra-Reserve aus
einemKorb soliderVermögenswerte
bestehenund so das eigentliche elektro-
nische Geld Libraeins zu eins unterle-
gen wird.
Die Privatsphäre in der Libra-Block-
chain sei geschützt wie in anderen
Blockchains, erklärte David Marcus.
Libra-Transaktionenwerden nur die
öffentlichenAdressen der Sender und
Empfänger, den Transaktionsbetrag und
dasDatum enthalten. Der Libra-Ver-
ein werde separatkeine persönlichen
Daten der Blockchain-Nutzer spei-
chern und entsprechend Nutzerdaten
auch nicht zu Geld machenkönnen.
In SachenDatenschutz und Erhalt der
Privatsphäre werde der Eidgenössische
Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauf-
tragte den Libra-Vereinregulieren, er-
gänzte der Projektverantwortliche.
Die «Swiss Connection» des Projekts
stiess unter denPolitikern grundsätzlich
auf Interesse,zuweilen aber auch auf
Misstrauen.Wieso will sich derVerein
in Genf niederlassen?, war eine mehr-
fach geäusserteFrage. Und was bedeu-
tet die Ankündigung von Calibra-Chef
Marcus, dass sich der Libra-Verein von
der EidgenössischenFinanzmarktauf-
sicht (Finma) werde beaufsichtigen las-
sen, für US-Regulatoren undAufseher?
HarmloseGenfer Connection
Marcus musste mehrfach wiederholen,
dass die geplante Niederlassung des
Libra-Vereins in Genfin keinerWeise
einenVersuch darstelle, sich der US-
Aufsicht zu entziehen.Vielmehrreflek-
tiere dieWahl Genfs dieTatsache, dass
dort bereits jetzt viele andere inte rnatio-
nal ausgerichtete Vereine und Organisa-
tionen angesiedelt seien. Der Projektver-
antwortliche versprach zudem, mit allen
interessiertenRegulatoren undPoliti-
kern zusammenzuarbeiten, um sicherzu-
stellen, dass derVerein sämtlicherecht-
lichen undregulatorischen Anforderun-
gen erfülle.Senator Mike Crapo,der den
Bankenausschuss des Senats präsidiert,
forderte,dass die USAbeimAufsetzen
desregulatorischenRegimes für Pro-
jekte wie Libra dieFührungsrolle über-
nehmen müssen, und holte sich die Zu-
stimmung vonDavid Marcus dafür. Ob
der Senator aus Idaho damit die Zustän-
digkeit derFinma infrage stellen wollte,
ist aber nicht klar.
Der Calibra-Chef erklärte darüber
hinaus, dass Firmen, die Dienstleis-
tungen auf der Libra-Blockchain an-
bi eten wollten, die Gesetze undRe-
geln in allenLändern, in denen diese
Firmen operierten, zu befolgen hätten.
Calibra selber werde alsFinanzdienst-
leister auftreten,indem dieFacebook-
Tochter als Erstes ein DigitalWallet
für Libra einführen werde und die-
ses auf Messenger,Whatsapp und als
eigenständige App verfügbar machen
werde.Als solcher sei es beim ameri-
kanischenFinancial Crimes Enforce-
ment Network (FinCEN)registriert,
dem Bürodes US-Finanzministeriums,
das Informationen zuFinanztransaktio-
nen sammelt und analysiert, um natio-
nale und internationale Geldwäsche,
Terrorismusfinanzierung und andere
Finanzverbrechen zu bekämpfen,sagte
Marcus.Zudem werde Calibra in Be-
zug auf die Umsetzungvon US-Sank-
tionen denVorgaben des Office of
Foreign Assets Control des US-Finanz-
ministeriums folgen. Als Geldüber-
mittler muss sich Calibra schliesslich
auch gliedstaatlichenRegulatoren stel-
len, und in SachenKonsumenten- und
Privatsphärenschutz auf US-Bundes-
ebene derFederalTrade Commission
und dem Consumer Financial Protec-
tion Bureau.
Viel Überzeugungsarbeitnötig
Facebook will die Libra-Währungnächs-
tes Jahr lancieren. Ob es aufgrund der
parteien- und institutionenübergre ifen-
den Skepsis inWashington dazukommt,
ist aber fraglich.David Marcus sagte, er
sei sich bewusst, dass man sich Zeit neh-
men müsse, um es richtig zu machen. Er
versprach, die Libra-Währung erst an-
zubieten, wenn alleregulatorischen Be-
denken ausgeräumt seien und alle nöti-
gen Zulassungen vorlägen.