Neue Zürcher Zeitung - 17.07.2019

(Grace) #1

Mittwoch, 17. Juli 2019 FEUILLETON 31


Der Sänger und der Regisseur im grossen Theater

In seinemFilm über Bob Dylans «Rolling Thunder»-Tournee spielt Martin Scorses e mit Fakten und Fiktion


MARTIN SCHÄFER


«Das ist so lange her, ich erinnere mich
an gar nichts – ich war noch nicht ein-
mal geboren», sagt Bob Dylan in Mar-
tin Scorseses neuem Dokumentarfilm
über Dylans legendäre«RollingThun-
derRevue». Im Herbst1975 machte
diese den Osten der USA und Kana-
das unsicher. So doppelbödig wie der
ganzeFilm ist auch diese Bemerkung



  • handelt es sich doch um eine Anspie-
    lung auf Dylans bis heute umstrittenste
    Phase: die angebliche christliche«Wie-
    dergeburt» von1979.
    Eines dürfte eindeutig sein: Martin
    Scorseses semifiktionale «Bob Dylan
    Story» ist nicht nur eine unerlässliche
    Ergänzung zu seinem klassischen Dylan-
    Biopic «No Direction Home» von 2005
    (das dieJahre bis und mit1966 behan-
    delte). DerFilm zeigt den «Propheten
    widerWillen» auf dem Höhepunkt sei-
    nes Schaffens undKönnens, vierJahre
    vor der evangelikalen «Apostasie».


Filme und Rollenspiele


Handelte es sichumDylans letzte grosse
Zeit?Wer denBarden in den achtziger
Jahren als eigenwilligen Gospel-Sän-
ger erlebt hat oder später in den bes-
ten Phasen der «Never EndingTour»,
wird widersprechen.Trotzdem: Der poe-
tischso inspirierteund abenteuerlustige
Dylan der «RollingThunderRevue»
dürfte für viele eine Erleuchtung sein.
So engagiert und energiegeladen wie
hierhatman ihn kaum je gesehen.Aus-
ser vielleicht in Dylans eigenemFilm
über die «RollingThunder»-Tournee,
dem längst verschollenen «Renaldo &
Clara», den Scorseses «Mockumentary»
aus zeitgenössischem Live-Material und
frech gefakten Interviews mit echten
und erfundenen Zeitzeugen auf eigen-
willigeWeise um- und fortschreibt.
Zwei weitereFilme werden von Scor-
sese persifliert:Todd Haynes’ brillanter
Pseudo-Dylan-Film «I’m NotThere»
(2007) und Dylans zweiter filmischer
Selbstversuch, «Masked and Anony-
mous» (2003), den er mitdem «Borat»-
RegisseurLarry Charles unternahm –
wobei Dylans Humor kaum jemand so
lustig fand wie später jenen von Sacha
Baron Cohen.Dass sich Dylans wahre
Qualitäten erst auf der Bühne entfalten,
das zeigt «RollingThunderRevue» bes-
ser denn je.Aber wichtiger noch:Scor-
sesesWerk macht deutlich, dass Dylan
auch ein grosser Humorist sein kann.
Das beweistergerade dadurch, dass
er quasi ungerührt bei Scorseses hin-
tergründigenFiktionen mitmacht.Die
echte Sharon Stone etwa berichtet hier,
wie sie alsTeenager «backstage» dabei
gewesen sei, und deralteDylan bestätigt
es – obwohl es frei erfunden ist. Scherz,
Ironie, tiefereBedeutung?


Es verwundert nicht, dass Scorse-
ses Spiel mit denFakten in unseren
bierernsten Zeiten bei manchen Kriti-
kern für gelinde Empörung sorgt.«Vier
grosse Lügen» wollen sie anprangern,
die Geschichte um Sharon Stone ist
die erste.Sodann erscheint bei Scor-
sese derPolitikerJackTanner, den es
nie gegeben hat – ausser alsFigur in
einemFilm vonRobert Altman. Einen
Musikmagnaten namens Jim Giano-
poulos gibt es hingegen wirklich, aber
der war bei «RollingThunder» eigent-
lich nicht dabei. Und bei dem nieder-
ländischen Filmmacher Stefan van
Dorp, der all die «RollingThunder»-
Konzerte angeblich gefilmt hat, han-
delt es sich um eineFigur, die von
Bette Midlers Ehemann, demPerfor-
mance-Künstler Martin von Haselberg,
verkörpert wird.Na und?
Die positive Kritik überwiegt. «Un-
verschämt gut erfunden» findet den
Film beispielsweise die «Jüdische Allge-
meine». Aber der sprichwörtliche «ele-
phant in theroom» blieb bis jetzt sowohl

den euphorischen wie den skeptischen
Kritikern verborgen– der Bezug zu
«Renaldo & Clara». Es war ja Dylan sel-
ber, zusammen mit seinem hochbegab-
ten Kameramann HowardAlk, der die
«RollingThunderRevue» filmte und
selber schon als trickreiche Mischung
aus Dichtung undWahrheit präsentierte.
Dass dieserFilm dann1978 bei Kritik
und Publikum durchgefallen ist, gehört
zu Dylans schmerzlichsten Niederlagen


  • aber hier wird das elegant verleugnet.
    Ein Kritiker,Richard Brody im «New
    Yorker», hatte kürzlich die Chuzpe, von
    «Renaldo & Clara» als von einem ver-
    kannten Meisterwerk zu reden. Die
    Firma Dylan allerdings hat noch nie
    Anstalten gemacht, denFilm zurestau-
    rieren – was nötig wäre. Stattdessen be-
    kommen wir jetzt eben Scorseses «Rol-
    lingThunder» zu sehen.
    ScorsesesFilm beginnt mit einem be-
    rühmten Zitat aus derFilmgeschichte:
    Georges Méliès’ «Escamotage d’une
    dame» (1896). Und bald wird klar, wel-
    cheDamen Scorsese selber wegzaubert.


In «Renaldo & Clara» wurde die fik-
tive Clara von Dylans erster Ehefrau
Sara Lownds gespielt, Dylan selber gab
denRenaldo, Ronee Blakley war «Mrs.
Dylan»,und Joan Baez spielte eine
«Frau inWeiss».Von diesem absichtsvol-
len Psychodrama, an demkein Geringe-
rer als Sam Shepard mitgewirkt hatte, ist
nun kaum etwas geblieben.

Prominente Begleitung


Dafür zeigtMartin Scorsese das ganze
Bühnenpersonal derTour: vonJoan
Baez bisJoni Mitchell, vom Ex-Byrd-
MitgliedRoger McGuinn bis zumheute
als Produzent berühmtenT- Bone Bur-
nett, von Allen Ginsberg bis Bobby
Neuwirth, vonPatti Smith (die nur an-
fangs dabei war) bis zur famosen Zi-
geuner-Geigerin Scarlet Rivera, die den
Sound von «RollingThunder» so ent-
scheidend mitgeprägt hat.
Zu den musikalischen Höhepunk-
ten desFilms gehört denn auch immer
wieder «One More Cup of Coffee», das

von Dylans Besuch bei den «Gitans»
von Saintes-Maries-de-la-Mer inspiriert
war. Der musikalischen Glanzmomente
gibt es allerdings viele – von «Isis» über
eine fulminanteVersion von «It Ain’t
Me Babe» bis zum rockigen «Hard
Rain», das der frechen Interpretation
von BryanFerry nichts schuldig bleibt.
Es sind fürwahr magische Zeiten, die
hier heraufbeschworen werden – sie zu
feiern, gibt es guten Grund. Ob wir par-
allel dazu noch die Box mit nicht weni-
ger als vierzehn CD brauchen, ist ge-
wiss Geschmackssache. Die fünf integral
dokumentiertenKonzerte sind von der
Songauswahl tatsächlich auch identisch.
AberAchtung! Dylans Phrasierung und
die Arrangements sind eskeineswegs.
Und dazukommen noch volle vier wei-
tere CD mit Proben undRaritäten.Dar-
auf verzichten?Auf eigene Gefahr!

«Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by
Martin Scorsese» (Netflix). – Bob Dylan: Rol-
ling Thunder Revue – The 1975 Live Recor-
dings(Sony).

DerBob Dylan der «RollingThunderRevue»–wer verstecktsichhinter der Maske? PD

Ausgerechnet Gregor Gysi soll als Festredner auftreten


Die Einladung der Leipziger Philharmonie empört DDR-Bürgerrechtler, die darin eine «Enteignung» ihrer Revolution zum dreissigst en Jahrestag sehen


HANSJÖRG MÜLLER, BERLIN


Kein andererPolitiker hat sich ähnlich
elegant vom einen in den anderen deut-
schen Staat hinübergerettet wie Gre-
gor Gysi, der letzteParteichef der SED.
SeineRedegewandtheit machte ihn bald
schon zumTalkshow-Stammgast im wie-
dervereinigten Deutschland.
Dass sich nicht wenige von Gregor
Gysis Gegnern durch dieseKarriere
verhöhnt fühlten, ist verständlich: Die
moralische Indifferenz desWestens, wo
sich viele von dem Charmeur Gysi nur
allzu gerne einwickeln liessen, musste
ostdeutschenRegimegegnern unerträg-
lich sein.
Heute versucht Gysi, sich alsRefor-
mer darzustellen, der1989 dazu beitrug,
dass der Umbruch friedlich verlief. In
Wahrheit agierte er eher alsVerteidiger
des Bestehenden: Noch wenigeTage vor
dem Mauerfall betonte er dieFührungs-


rolle der SED; Gysi war es, der diePar-
tei zusammenhielt und ihrVermögen in
die neue Zeit hinüberrettete.

Aufder anderen Seite


Mittlerweile gibt er denVersöhner, und
dass manche ihm dies durchaus abneh-
men, zeigt eineVeranstaltung, die am


  1. Oktober in Leipzig stattfinden soll.
    DreissigJahre nachdem dort siebzig-
    tausend gegen das SED-Regime auf die
    Strasse gingenund damit dessen Ende
    einleiteten, soll ausgerechnet Gysi, der
    heute für die Linkspartei im Bundestag
    sitzt, in derPeterskirche eineFestrede
    halten.Dagegen haben Bürgerrechtler
    und Historiker in einem offenen Brief
    protestiert.
    Zunächst hätten sie die Nachricht von
    GysisAuftritt für «Fake-News» gehalten,
    schreiben dieVerfasser. Als «zynisch»,
    «empörend» und «geschichtsvergessen»


empfändensie es,dass nun diejenigen als
Festredner auftreten dürften, «dieRevo-
lution und Einheit mit aller Entschieden-
heit zu verhindern suchten».
Zu den Erstunterzeichnern zäh-
len unter anderem Marianne Birthler,
die frühere Beauftragte des Bundes
für die Stasi-Unterlagen, die Bürger-
rechtlerinFreya Klier und der Musiker
Wolf Biermann; etwa achthundert wei-
tere Unterzeichner haben sich dem Pro-
test unterdessen angeschlossen. Sie be-
trachten GysisAuftritt als eine «Enteig-
nung» ihrerRevolution durch jene, die
damals auf der anderen Seite derBarri-
kade standen.
Eingeladen wurde Gysi von derLeip-
ziger Philharmonie.Von der Schärfe der
Kritik zeigten sich Chefdirigent Michael
Köhler und Konzertmeister Holger
Engelhardt überrascht. Es gehe ihnen
darum, «verschiedene Blickwinkel auf
die Geschichte zuermöglichen», sagte

Köhler der «LeipzigerVolkszeitung».
Ohnehin handle es sich um einKon-
zert, imVordergrund stehe Beethovens
neunteSymphonie. So bemühte sich der
Veranstalter, Gysi zum blossen Zeitzeu-
gen zu erklären, dabei vernachlässi-
gend, dass es gerade die feierlichemusi-
kalische Umrahmung ist, die derVeran-
staltung erst den Charakter einerFeier-
stunde gibt und Gysi damit dieRolle des
Festredners zuweist.

Wovon Gysi profitiert


Die Debatte um Gysis Einladung ist
eine ostdeutsche Angelegenheit, das
zeigt die Liste der Unterzeichner, und
daran dürfte sich auch nichts ändern.
DerWesten schaut allenfalls zu.Für das
wiedervereinigte Deutschland ist das
kein gutes Zeichen.Wie unterschied-
li ch diePerspektiven auf Geschichte
und Gegenwart nach wie vor sind, zeigt

eineÄusserung des früheren Bürger-
rechtlers und Grünen-PolitikersWerner
Schulz, der den offenen Brief ebenfalls
unterzeichnet hat. Er vergleicht Gysi
mit Alexander Gauland, einem derPar-
teichefs derrechten AfD. Gysi alsFest-
redner zur friedlichenRevolution, das
wäre, als spräche Gauland auf dem Kir-
chentag über die multikulturelle Gesell-
schaft, meint Schulz.
Ein solcherVergleich käme wohl
kaum einem Westdeutschen in den
Sinn, während er manchen Ostdeut-
schen,so sie nicht gerade mit der Lin-
ken oder der AfD sympathisieren,
durchaus einleuchten dürfte. Dass Tota-
litarismus auch von linkskommen kann
und die DDR eine Diktatur war, deren
Schrecken keine Verniedlichung zu-
lassen sollten, ist in Deutschland noch
immer zu wenig im öffentlichen Be-
wusstsein verankert. Gregor Gysi pro-
fitiert davon.
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