Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 28.07.2019

(Ann) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 28. JULI 2019, NR. 30 leib & seele 15


In dieser Woche
geht es im Ge-
sundheits-Podcast
um Rücken-
schmerzen bei Kindern und
Jugendlichen. Sie finden die
aktuelle Ausgabe ab sofort
unter: blogs.faz.net/podcasts

I


n derschlimmsten Zeit haben die
jungen Frauen nur noch so viel ge-
wogen wie Erstklässler. Weil sie da-
mit zu krank für die allermeisten
Kliniken waren, hätten Doreen
Dörner, Melanie Reit (Name geändert)
und Marie Schmidt sterben können. Alle
drei leiden seit Jahren an extremer Mager-
sucht. Menschen wie sie benötigen inten-
sive und spezialisierte Hilfe, medizinisch
wie therapeutisch, die sie aber oft nicht
bekommen. „Wer sich besonders lange
gegen eine Behandlung wehrt, riskiert,
als Notfall in ein normales Krankenhaus
oder auf die Intensivstation zu kommen –
womit dann erhebliche Nachteile verbun-
den sein können“, sagt Wally Wünsch-
Leiteritz. Die Internistin und ärztliche
Psychotherapeutin hat sich seit 20 Jahren
auf die Behandlung extremer Magersucht
spezialisiert und ist im Vorstand des Bun-
desfachverbands Essstörungen. Akut in-
ternistische Stationen könnten für den
Anfang zwar überlebenswichtig sein:
„Dennoch bleibt ein frühzeitiger Wech-
sel in eine Spezialabteilung wichtig.“
Das Problem dabei: Die meisten psy-
chosomatischen Kliniken verlangen ein
Mindestgewicht. Wer das nicht erfüllt,
weil er viel zu wenig wiegt – immerhin
das Hauptsymptom der Magersucht –, er-
hält im Extremfall keine kompetente Un-
terstützung. In Deutschland und Öster-
reich gibt es kaum spezielle Einrichtun-
gen, die diese Versorgungslücke schlie-
ßen. Abgesehen davon, dass auch Akut-
kliniken oft lange Wartezeiten haben.
Doch wenn man in einem sehr kritischen
Zustand ist, geht es um Tage oder Wo-
chen. „Da kann man nicht allein aufs Erst-
gespräch einen Monat warten“, sagt Reit.
„In 3 Monaten Wartezeit wäre ich längst
gestorben“, bestätigt Dörner. Beide hät-
ten erst viele Kilogramm zunehmen müs-
sen, um einen stationären Platz in einer
psychiatrischen Klinik zu bekommen,
denn diese Kliniken ohne Intensivmedi-
zin können oder wollen die Verantwor-
tung für besonders schwerkranke Mager-
süchtige oft nicht übernehmen. Diese
Kranken haben meist körperliche Begleit-
erscheinungen, die behandelt werden
müssen: Der Herzschlag ist verlangsamt,
Körpertemperatur, Blutdruck und Blutzu-
cker können zu niedrig sein, womöglich
sammelt sich Wasser im Herzbeutel an.
Die Klinik Lüneburger Heide, deren
Essstörungstherapie Wünsch-Leiteritz lei-
tet, ist eine der wenigen Kliniken, die auf
extreme Magersucht eingestellt sind.
Dort gibt es einen eigenen medizinischen
Überwachungsbereich, inklusive Monitor
an den Betten, für diese Patienten. Wer ei-
nen BMI unter 12 hat – das entspricht bei
1,70 Meter weniger als 35 Kilo –, darf
zwar an den meisten Therapien teilneh-
men, wird aber im Rollstuhl gefahren. Ist
die Körpertemperatur zu niedrig, gibt es
zwei Bettdecken, Socken, Handschuhe
und nur warme Getränke. „Ohne einen
spezialisierten Betreuungsbereich ist so et-
was schwierig umzusetzen“, so die Ärztin.
Langfristig gesehen ist Magersucht
nach wie vor die psychische Erkrankung
mit der höchsten Sterblichkeitsrate, sei es
durch Suizid oder medizinische Kompli-
kationen. Oft verläuft sie chronisch. Nur
die Hälfte der Erkrankten wird vollstän-
dig und dauerhaft geheilt. „Die Behand-
lungsergebnisse für die Therapie der Ess-
störungen sind bisher wenig zufriedenstel-
lend“, sagt Silja Vocks, die Präsidentin
der Deutschen Gesellschaft für Essstörun-
gen. Was auch an der zunächst geringen
Änderungsmotivation der Betroffenen lie-
gen kann. „Die Ambivalenz zur Gene-
sung ist bei Magersucht sehr hoch“, so
Prof. Vocks. „Es gibt kaum eine andere
psychische Störung, bei der die Patienten
erst mal so viel Positives erfahren, etwa
Anerkennung und eine Möglichkeit zur
Emotionsregulation.“ Die negativen Fol-
gen kämen eher langfristig.

Die Gewichtszunahme – eines der ers-
ten und wichtigsten Ziele bei der stationä-
ren Behandlung – ist für viele Betroffene
schwer zu ertragen. Auch wenn sie längst
lebensbedrohlich abgemagert sind. Do-
reen Dörner zum Beispiel hat auch in Kli-
niken weiter heimlich erbrochen. Marie
Schmidt hat sogar auf der Intensivstation
weiter abgenommen.
In Spezialkliniken gibt es viele Regeln


  • auch zum Schutz der Patienten. Vom
    Pflegepersonal einsehbare Zimmer zum
    Beispiel. Genau berechnetes, vorportio-
    niertes Essen. Die Begleitung der Betrof-
    fenen zum Toilettengang. Oder sogar Vi-
    deoüberwachung. So wie in der „Kom-
    plexstation“ der Schön Klinik Roseneck
    im oberbayerischen Rosenheim. Die Stati-
    on hat 24 Betten für schwerstkranke Ess-
    gestörte; 400 wurden seit der Eröffnung
    im Jahr 2015 dort behandelt. Ein Teil der
    Betten ist mit Videokameras ausgestattet.
    „Das brauchen wir besonders für diejeni-
    gen, die erbrechen und sich zu viel bewe-
    gen“, sagt Oberarzt Thorsten Körner.
    Die strikte Bewegungseinschränkung ist
    nicht nur für die Gewichtszunahme, son-
    dern auch für die Sicherheit in der ersten
    Therapiephase wichtig.
    Sowohl in der Klinik Lüneburger Hei-
    de als auch in der Schön Klinik Rosen-
    heim wird auf Zwangsernährung verzich-
    tet. Stattdessen gibt es Essen in Beglei-
    tung, von Anfang an. Ängste müssen da-
    bei immer wieder besprochen werden.
    Was zum Beispiel ist an einer bestimmten
    Sorte Käse so schwierig? „Die therapeuti-
    sche und medizinische Versorgung ist
    sehr personalaufwendig und kosteninten-
    siv“, sagt Thorsten Körner. Außerdem
    muss sich das Personal gut mit der Er-
    krankung auskennen. Und wissen, zu wel-
    chen Tricks die Magersucht Patientinnen
    und Patienten bringen kann.
    Energieraubende Diskussionen, zum
    Beispiel wenn Betroffene Infusionen ab-
    klemmen oder unter der Bettdecke heim-
    lich Sport machen, gehören für Thera-
    peuten zum Alltag. Magersüchtige seien
    oft hochverstrickt in rigides, zwanghaftes
    Denken. Aufgrund dieser gedanklichen
    Verengung herrscht unter Experten teils
    die Haltung, dass stark Untergewichtige
    nicht in der Lage seien, an Psychothera-
    pien teilzunehmen. Sondern erst einmal
    „nur“ zunehmen müssten. Dem wider-
    spricht Wünsch-Leiteritz zwar nicht kom-
    plett. Aber eine andere Art Psychothera-
    pie, weniger komplex, sei dennoch mög-
    lich und wichtig: „Wir orientieren uns
    viel mehr am Hier und Jetzt. Im Vorder-
    grund stehen für uns die Widerstände ge-
    gen eine Gewichtszunahme, die wir ge-
    meinsam überwinden müssen.“ Die Ge-
    spräche drehten sich also etwa um die Fra-
    ge, woran es im Einzelnen liegt, wenn
    Todkranke nicht von ihrer Essstörung
    und Manipulationen lassen können.
    „Patienten mit Magersucht wollen
    nicht sterben“, sagt Wünsch-Leiteritz.
    Sie wüssten nur nicht, wie sie leben sol-
    len. Es gebe aber immer und an jedem
    Punkt der Krankheit die Möglichkeit um-
    zukehren. Trotz dieser zur Magersucht
    gehörenden Ambivalenz verlangen psy-
    chosomatische Kliniken als Vorausset-
    zung zur Aufnahme teils eine Therapie-
    Motivation. Davon hält Wünsch-Leite-
    ritz wenig: „Im stationären Bereich müs-
    sen wir viele unmotivierte Patienten auf-
    nehmen.“ Zwar seien alle offiziell freiwil-
    lig in der Einrichtung, da es keine ge-
    schlossene Abteilung gibt. „Manche sind
    aber auch hier, weil es sozusagen das klei-
    nere Übel ist.“
    Auch Doreen Dörner, Melanie Reit
    und Marie Schmidt waren in der Vergan-
    genheit teils nur auf Druck von außen in
    Kliniken. Sie sind schon lange magersüch-
    tig. Mittlerweile haben sie nach vielen
    Therapien in Spezialkliniken für extreme
    Magersüchtige wieder Ziele – diese ha-
    ben allesamt mit Leben zu tun, nicht mit
    Sterben.


EINE EXISTENZ MIT DER ESSSTÖRUNG: DREI BETROFFENE ERZÄHLEN IHRE GESCHICHTE


Melanie Reit, 27
(Name geändert)
Ich verdanke es einigen Zufällen, dass
ich noch lebe. 2016, als ich mit Leber-
versagen und 25 Kilogramm zu Hause in
meiner Wohnung lag, hat mich meine
Schwester gerade noch gefunden. Auf
der Intensivstation wurden meine Werte
stabiler; wahrscheinlich wäre ich kurzfris-
tig wieder auf eine internistische Station
verlegt worden. Ich konnte mich aber
überhaupt nicht darauf einlassen, ohne
jegliche Therapie mit einer Sonde zu-
nehmen zu müssen. Dann habe ich in
der Klinik zufällig einen Arzt aus der
Palliativstation kennengelernt. Er hatte
viel mit Ernährung zu tun, weil Sterben-
de ja oft kaum mehr essen. Wir haben
eine Art Seelsorgegespräch geführt.
Und er hat mich auf seiner Station auf-
genommen.
Auch wenn ich extrem froh war,
nicht nach Hause zu müssen, war diese
Zeit für mich und meine Familie
natürlich schlimm. Ich habe viele
Menschen sterben gesehen. Und mir
gedacht: Entweder ich tue jetzt was,
oder ich überlebe das hier auch nicht.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren Thera-
pien bei mir allesamt nicht sehr
erfolgreich gewesen.

Die Gewichtstiefpunkte wurden über
die Jahre immer niedriger. Ich war im-
mer wieder in Psychiatrien, auf internis-
tischen Stationen, dann wieder zu Hau-
se; dann ging alles wieder von vorne los.
In psychosomatischen Kliniken hieß es:
Essen Sie eben, so viel Sie können oder
wollen. Es gab zwar Vorgaben, zum Bei-
spiel 500 Gramm pro Woche zuzuneh-
men. Aber es gab keine konkrete Hilfe-
stellung bei der Umsetzung. Und mit
der Ambivalenz der Krankheit habe ich
es nie geschafft, wirklich Gewicht zuzu-
legen. Schon gar nicht langfristig.
Durch Zufall habe ich von der Klinik
Lüneburger Heide erfahren. Nachdem
die Kostenübernahme da war, konnte
ich herkommen. Das war im März 2017.
Der Anfang war schwierig – ich wollte
eigentlich sofort wieder flüchten. Gera-
de bin ich zum dritten Mal auf Intervall
hier. Zu Hause, zwischen den Aufenthal-
ten, lief es wieder schleichend schlech-
ter. Ich habe aber selbst immer die Reiß-
leine gezogen, um mich zu stabilisieren.
Die Behandlungsdauer ist von Aufent-
halt zu Aufenthalt kürzer geworden und
auch das Aufnahmegewicht höher. Jedes
Mal konnte ich mich auf die Behand-
lung besser einlassen als zuvor. Aber es
ist eben ein langer Weg.

Doreen Dörner, 33
Eigentlich hatte ich in meiner letzten
ambulanten Therapie schon gute
Fortschritte gemacht. Dann musste
ich am Darm operiert werden – und
15 mühsam zugenommene Kilos wa-
ren wieder weg. Ich wog zum Schluss
nur noch 26 Kilogramm, als mich die
Ärzte nach der Operation einfach
nach Hause schickten. Essen könne
ich auch allein. Nein, konnte ich
nicht. Mein erster Gedanke war:
„Erst retten sie mich vor dem Tod,
dann schicken sie mich in den Tod.“
Ich wäre lieber länger im Kranken-
haus geblieben, quasi in Sicherheit.
Die Magersucht begleitet mich seit
17 Jahren – anfangs ohne Erbrechen,
später mit. Das erste Mal in einer Kli-
nik war ich vor allem auf Druck mei-
ner Eltern. Mit 45 Kilo rein, mit 42
raus. Ich hatte also sogar weiter abge-
nommen, es darauf angelegt, dass die
Therapeuten mich rauswerfen. Da-
nach war ich mehrmals auf internisti-
schen Stationen zum Aufpäppeln. Die
Aufenthalte waren oft traumatisch. Ich
wurde 24 Stunden überwacht, musste
zur Kontrolle auf dem Gang schlafen,
bekam Sonden und Infusionen. Ich
habe bei der Nahrungszufuhr aber

auch manipuliert, wo es ging. Und
mich extrem alleingelassen gefühlt. In
einer anderen Klinik bekam ich das
Refeeding-Syndrom, habe zehn Kilo
Wasser in einer Woche zugenommen.
Das war richtig gefährlich.
Jetzt bin ich in einer Spezialklinik.
Durch normales begleitetes Essen,
ohne Sonde, konnte ich einiges zuneh-
men. Anfangs habe ich auch hier noch
erbrochen und getrickst. Im Lauf der
Zeit ist mein Kopf aber immer klarer
geworden. Mittlerweile kann ich diffe-
renzieren, ob die Therapeuten etwas
gegen meine Krankheit tun oder ge-
gen mich. Ich habe wieder Träume.
Vielleicht fange ich noch mal ein Stu-
dium an, das dritte. Die ersten musste
ich wegen der Magersucht abbrechen.

„LEIB & SEELE“
IM PODCAST

Marie Schmidt, 22
Ich habe zwar schon länger Mager-
sucht, war nach einem Klinikaufent-
halt aber über viele Jahre stabil. Bis
ich 2018 während meines Auslands-
semesters in Belgien wieder rapide ab-
genommen habe und deswegen nach
Deutschland zurückkehren musste –
mit einem Body Mass Index von 9.
Ein BMI-Wert unter 18,5 gilt als Un-
tergewicht, unter 10 gilt als eigentlich
nicht mehr mit dem Leben vereinbar.
Ich meldete mich gleich beim kassen-
ärztlichen Bereitschaftsdienst, der ei-
nen HNO-Arzt zu mir nach Hause
schickte. Er sagte mir ganz ehrlich,
dass er nicht weiterwisse, und schrieb
mir eine Überweisung für das nächste
Akutkrankenhaus. Dort kam ich di-
rekt auf die Intensivstation.
Die Ärzte im Krankenhaus waren
mehr als überfordert mit mir. Ich
wurde vorverurteilt und fühlte mich
überhaupt nicht verstanden. Die Ärzte
waren nur damit beschäftigt, mich ir-
gendwie am Leben zu halten, gaben
mir Infusionen, Tabletten und kontrol-
lierten meine Werte. Trotzdem nahm
ich immer weiter ab und fühlte mich
immer schwächer. Meine Bewegung
wurde nicht überwacht, das Essen
wurde mir einfach nur hingestellt.

Es war mir also selbst überlassen,
was, wie viel oder ob ich überhaupt
aß. Psychologische Gespräche gab
es nicht.
Ich hätte nie gedacht, dass man
selbst in einem Krankenhaus solch
eine Angst um sein Leben haben
kann, obwohl lauter kompetente Ärzte
um einen herum sind. Glücklicher-
weise hat einer der Ärzte, der sich
seiner Ahnungslosigkeit bewusst war,
irgendwann alle Hebel in Bewegung
gesetzt, um mich in eine spezialisierte
Klinik zu verlegen. Das gestaltete sich
aber schwierig; mein Zustand war
für die allermeisten Einrichtungen zu
instabil.
In der Klinik, in der ich jetzt noch
bin, bekam ich endlich Unterstützung
und Verständnis für den Kampf gegen
die Krankheit. Auch wenn ich hier
die ersten Wochen nur im Bett lag
und einen strengen Ernährungsplan
einzuhalten hatte, war ich glücklich,
endlich da zu sein. Es ist wirklich
nicht leicht, die Magersucht zu über-
winden. Ohne spezialisierte Hilfe ist
das meiner Meinung nach ab irgend-
einem Punkt nicht mehr zu schaffen.
Mir ist erst mit der Zeit bewusst
geworden, in welcher Lebensgefahr
ich mich vor einigen Monaten be-
funden habe.

Für Menschen mit extremer Magersucht mangelt es an


passenden Therapieangeboten. Deshalb bleiben sie oft lange


mit ihrer Krankheit allein – manchmal zu lange.


Von Kathrin Runge


Zu wenig zum Leben,


zu viel zum Sterben


Foto Superfoto
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