34 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 21. JULI 2019, NR. 29
D
er französische Nationalfeiertag
ist auch schon wieder eine Wo-
che her, aber in Paris wird immer
noch über die seltsame Erscheinung ge-
sprochen, die über die Festparade raste.
Was soll man sagen: Da stand ein Mann
in der Luft. Er stand auf der Stelle, zwan-
zig Meter hoch in der Luft, wie jemand,
der an der Bushaltestelle steht. Wo im-
mer man sich früher fliegende Menschen
vorstellte, mussten die irgendetwas ma-
chen – Anlauf nehmen, mit Umhängen
flattern, jedenfalls stand keiner einfach so
in der Luft rum, als sei er eine Statue im
Museum, für die die Schwerkraft nicht
mehr gilt. Genau das aber hat Franky Za-
pata getan, der Mann, der am 14. Juli hier
seine Erfindung präsentieren durfte – das
Flyboard, ein Brett, das von Mikroturbi-
nen angetrieben wird und wie Hooverbo-
ards mit Stabilisatoren ausgerüstet ist.
Man schnallt sich darauf wie auf einem
Snowboard fest, hebt ab und kann über
140 Kilometer pro Stunde schnell fliegen.
Zapata hatte das Ding schon vor Jah-
ren erfunden, die Behörden hatten seine
Testflüge für illegal erklärt – und auch
deswegen ist es interessant, dass das offi-
zielle Frankreich am Nationalfeiertag
das Flyboard mit Eiffelturm im Hinter-
grund als Symbol einer neuen französi-
schen Technophilie präsentiert. Der
„fliegende Soldat“ markiert einen histo-
rischen Punkt: die Vertikalisierung,
oder Dreidimensionalisierung der Fort-
bewegung. Bisher waren Autos, Fahrrä-
der oder E-Scooter an die Horizontale
gebunden. Zurzeit aber werden erstaun-
liche Summen für die Entwicklung von
Lieferdrohnen und autonomen Flugta-
xis ausgegeben. Skeptiker hatten sich bis-
her immer damit beruhigt, dass die Kos-
ten für diese Art des Transports zu hoch
sein werden und dass die ganze bejubel-
te Autonomisierung und Vertikalisie-
rung des Transports wie so oft vor allem
eine Antwort auf Fragen wie „Was muss
ich tun, um möglichst reibungslos aus
meiner Villa zu meinem First-Class-
Flug zu kommen“ ist, also eine Lösung
für eine kleine, von den Ärgernissen der
Massenfortbewegung genervte Bevölke-
rungsgruppe. Andererseits versuchen
Amazons Lobbyisten gerade, das Verbot
für autonome Paketlieferdrohnen auszu-
hebeln, und Flugdrohnenentwickler wie
Italdesign betonen, dass man die neuen
Fluggeräte mittelfristig sehr wohl als Al-
ternative zum Massentransport sieht: Es
sei viel effizienter, die vielen Taxis und
Lieferwagen nicht nur horizontal, son-
dern auch vertikal im Luftraum zu vertei-
len, über der Straße sei so viel ungenutz-
ter Raum einfach leer, und dadurch, dass
in der Smart City alle Geräte miteinan-
der kommunizieren, könne es gar nicht
zu Kollisionen kommen!
Aber was, wenn die Rechner mal, wie
man so schön sagt: abstürzen? Skeptiker
sehen schon, wie Netze, und diesmal kei-
ne internetmetaphorischen, über die
Straßen der Städte gespannt werden
müssen, damit keiner von heruntertru-
delnden Drohnen erschlagen wird.
Freunde der vertikalen Mobilität be-
schimpfen die Techno-Skeptiker als al-
len Innovationen aus Prinzip feindlich
gesinnte Angsthasen. Die Skeptiker sa-
gen, dass der Mensch bei dem künftigen
vertikalen Durcheinander wahrneh-
mungsmäßig gar nicht mehr mitkomme.
Für dieses Problem kündigt einer der
Pioniere der autonomen Beförderung,
Elon Musk, die ultimative Lösung an:
Seine Firma Neuralink will dem mensch-
lichen Gehirn hauchdünne Fäden im-
plantieren, die die Aktivitäten der Ner-
venzellen im Gehirn messen und stimu-
lieren sollen. An diesen Fäden befindet
sich ein Sensor, der die Signale an ein
Bluetooth-Gerät sendet, und schon ist
das Gehirn ans Internet angeschlossen.
Verkauft wird diese Idee mit der fürs Si-
licon Valley üblichen Mischung aus
Rührseligkeit und Angstmacherei: Seine
Implantate, so Musk, könnten Men-
schen mit Hirnschäden helfen, außer-
dem müsse man sich für den Fall rüsten,
dass die vom Menschen erschaffenen
künstlichen Intelligenzen einmal ihre
Schöpfer auslöschen wollen.
Wieso direkter Internetzugang ins
menschliche Hirn diese Gefahr mini-
miert, muss Musk noch mal in Ruhe er-
klären. Gegen seine Beschleunigung des
Körpers sieht der fliegende Mann von
Paris jedenfalls geradezu rührend aus.
Ja! Nicht häufig natür-
lich, genau genommen
sogar sehr selten, aber
immerhin ein Fall ist
jetzt bekannt gewor-
den, und die lustige Ge-
schichte dazu wird in
einem kleinen Buch er-
zählt, das gerade bei
Spector Books erschienen ist, einem in
Leipzig ansässigen Verlag. Der Kunstkri-
tiker, von dem enthüllt wird, dass er eini-
ge Jahre als Frau geschrieben hat, ist ei-
ner der berühmtesten seines Fachs: Brian
O’Doherty, der unvergesslich geworden
ist, seitdem er 1976 eine Artikelfolge mit
dem Titel „Inside the White Cube“ ver-
öffentlicht hat, die später als Buch er-
schien. Erzählt wird darin, warum wir
plötzlich angefangen haben, Kunst in
Räumen zu betrachten, die so weiß und
klinisch sind wie eine Zahnarztpraxis.
Die überraschende Geschichte des Ge-
schmacks wurde zum Klassiker – und sie
hat ihn, den Autor, zum Star unter den
Kunstkritikern gemacht.
Nun also zu der Frau, die O’Doherty
einige Jahre lang war: Sie hieß Mary Jo-
sephson, und ihren ersten Auftritt hatte
sie in der Zeitschrift „Art in America“,
im Frühjahr 1971. Da schrieb sie über ei-
nen amerikanischen Architekten, Morris
Lapidus, der die überdrehtesten Hotel-
burgen in Florida gebaut hat, darunter
das „Fontainebleau Miami Beach“, in
dem Szenen des James-Bond-Films
„Goldfinger“ spielen. Lapidus wurde, als
Josephson ihren Artikel verfasste, von
Kritikern belächelt, seine Bauten galten
als kitschig und nicht der Rede wert. Jo-
sephson aber drehte den Spieß um, sie
machte Lapidus zum Vorbild und tippte
in ihre Schreibmaschine eine leichtfüßi-
ge Abhandlung dazu, was andere Archi-
tekten von ihm lernen könnten. Ihr Arti-
kel trug den sagenhaften Titel „Lapidus’
Pornographie des Komforts“.
In diesem Ton ging es weiter. Joseph-
son lobte, wo andere tadelten, und umge-
kehrt. Wenn sie etwas nervte, teilte sie
ordentlich aus. Hilton Kramer etwa, den
mächtigen konservativen Kritiker der
„New York Times“, der überall linke Ver-
schwörungen witterte, nannte Josephson
einen „network critic“ und erklärte be-
reitwillig, was das ist: jemand, dessen
Werturteil sich allein danach richtet, ob
es ihm und seinem Kreis nützt. Kunstkri-
tik als Selbstbedienungsladen – Kramer
hat es wohl nicht gerne gelesen (und
wahrscheinlich die Machenschaften der
Linken dahinter vermutet).
Noch ein Beispiel für Josephsons Lust
am Verriss: Über die späten Gemälde
von Willem de Kooning schreibt sie,
dass sie wie Monologe eines brillanten
Redners seien, der nicht aufhören könne
zu sprechen, aber nichts zu sagen habe.
Sehr gut, nicht wahr?
Bleibt die Frage: Warum? Weshalb
hat Brian O’Doherty all das nicht unter
seinem Namen geschrieben? Er selbst
gibt darauf zwei Antworten, die man in
der Einleitung zu dem Buch nachlesen
kann, dessen Titel hier schnell nachgetra-
gen werden muss: „A Mental Masque-
rade. When Brian O’Doherty was a fe-
male art critic: Mary Josephson’s col-
lected writings“. Grund Nummer 1:
O’Doherty war gerade zum Chefredak-
teur von „Art in America“ aufgestiegen
und ihm fehlten Autoren. Also erfand er
sich einige selbst. Grund Nummer 2:
Mary Josephson war frei zu sagen, was
sie dachte. Sie ging auf keine Eröffnun-
gen, sie hatte keine Freunde in der New
Yorker Kunstwelt, niemand kannte ihr
Gesicht. Sie tat, was sie wollte, was
O’Doherty selbst nicht mehr möglich
war. Schließlich arbeitete er als Chefre-
dakteur und als Künstler noch dazu, er
stellt bis heute unter dem Namen Pa-
trick Ireland aus. Dieses Doppelleben
machte er von Anfang an öffentlich.
Irgendwann klingelte bei O’Doherty
das Telefon. Am anderen Ende war John
Coplans, der Chefredakteur von „Artfo-
rum“. Er wolle die Nummer von Mary
Josephson, sagte Coplans, sie solle auch
für seine Zeitschrift schreiben. O’Doher-
ty reichte den Hörer an Barbara Novak
weiter, die Kunsthistorikerin, mit der er
bis heute verheiratet ist: „Nein“, sagte
Novak zu Coplans und versuchte zu klin-
gen, wie Mary Josephson klingen würde:
„Ich schreibe nur für Brian.“
Die „New York Times“ hat gerade
eine Debatte angezettelt, die bestens
dazu passt. Zwei Autorinnen haben über
„Die Dominanz des weißen männlichen
Kritikers“ geschrieben. Die Replik kam
und war wie erwartet. Wer so etwas sage,
sei selbst wie Trump!, hieß es wütend im
„Whitehot Magazine“. Ein Tipp, frei
nach O’Doherty: Origineller und besser
werden die Argumente vielleicht, wenn
man unter weiblichem Pseudonym
schreibt.
Schicken Sie Ihre Frage an [email protected].
Der Mann
in der Luft
Von Niklas Maak
BILD DER WOCHE
FRAGEN SIE JULIA VOSS
Gibt es Kunstkritikerinnen, die Männer sind?
W
as haben Nostradamus und
Hans-Georg Maaßen eigent-
lich gemeinsam? Nein, es
geht nicht um die leichte optische Ex-
zentrik dieser zwei, nicht um den XL-
Bart des einen, um die XS-Brille des
anderen. Es geht um Prophezeiungen,
um Rätsel.
Der eine sagte mal: „Ich bin kein
Nostradamus.“ Das war Hans-Georg
Maaßen selbstverständlich, der damals
erst ein halbes Jahr Verfassungsschutz-
chef war. Er wusste viel mehr, als er
glaubte; kannte vielleicht schon seine
Zukunft. Das denkt man, wenn man
liest, was Maaßen seit 2012 in Inter-
views so sagte. Es ist das Protokoll sei-
ner Selbstradikalisierung.
Schon vor drei Jahren sprach er von
radikalisierten Männern, da ging es
noch um Salafisten – um junge, um
migrantische. Wenn man diese zwei
Wörter in seinen Sätzen aber ändert,
dann hat man auch eine Erklärung,
wie Hans-Georg Maaßen zu Hashtag-
Westfernsehen-Maaßen wurde: „Vor
allem *alte* Männer sind gefährdet.
Sie sind orientierungslos, oft *ohne*
muslimischen Migrationshintergrund,
auf der Suche nach ihrer
Stellung in der Gesell-
schaft.“ Ja, er sagte selbst-
verständlich nicht „alte“,
sondern „junge“ Män-
ner, und „mit“ Migrati-
onsstory, nicht „ohne“,
doch etwas anders und
im Jetzt klingt das wie
eine Prophezeiung.
Denn so ist es gesche-
hen: Der Meinungs-
mensch Hans-Georg
Maaßen fühlt sich in der
Gesellschaft offensicht-
lich auch verloren, das
weiß man, wenn man
liest, was er auf Twitter teilt und
meint. Doch dann fühlt man sich
selbst orientierungslos in Deutsch-
land, genauer, in dem Maaßen-Ret-
weet-Deutschland. Weil es ein Land
ist, das die Verfassung bricht (Rupert
Scholz in der „Jungen Freiheit“), in
dem die radikalisierte Jugend politi-
sche Verfolgung übt, missbraucht wird
wie früher die Kinder in der FDJ oder
Hitlerjugend („NZZ“). Ja, in naher
Zukunft ist das Land ein von „Millio-
nen Windrädern illuminierte(s) Para-
dies auf Erden“ („tichyseinblick.de“).
Das alles teilte Maaßen noch vor dem
kleinen, berühmten Tweet über die
„NZZ“, die für ihn „so etwas wie
,Westfernsehen‘“ sei. Noch vor dem
Tag, als der ehemalige Verfassungs-
schützer einen Text von „Journalisten-
watch.com“ geteilt hat, einem Blog,
der rechtspopulistisch ist, verschwö-
rungstheoretisch, dunkel.
„Der Gegner ist der Feind, und je
größer und gefährlicher man ihn dar-
stellt, desto wichtiger erscheint man
selbst“, das wusste Maaßen schon 2013,
doch damals über andere. 2019 will er
selbst wichtiger erscheinen. Der Maa-
ßen-Feind heißt im Post-Westfernse-
hen-Moment: die Medien. Doch er
war nie ein echter Medien-Fan, das
liest man in seinen alten Interviews,
die man fürs Protokoll liest: „Die Be-
wertung in der medialen Wahrneh-
mung“ habe er 2014 schon nicht mehr
verstanden, denn ihm ging es damals
zu oft um NSA, um Salafismus viel zu
selten. Zwei Jahre später wurden seine
Worte härter: Teile der Medien kulti-
vierten ein „Zerrbild“ des Verfassungs-
schutzes, sagte er.
Das Highlight seines Radikalisie-
rungsprotokolls kam erst in diesem
Jahr, nach dem Beförderung-dann-
Rauswurf-Drama. Er war „derjenige,
gegen den eine ,Hetzjagd‘ stattgefun-
den hat“, das sagte er in einem Inter-
view. In einem anderen und im Jahr
2018 fand Maaßen noch, dass man das
Wort „Hetzjagden“ nicht einfach sa-
gen könne, denn übersetzt hieße das:
„Pogrome“.
Wie kam es zu der kleinen Umdeu-
tung? Hat man das Haus von Maaßen
abgefackelt, wie es so üblich ist bei Po-
gromen? Nein. Das hätte er getwit-
tert. Die Antwort gab er vor Jahren
einmal selbst. „Jeder Job verändert den
Menschen“, sagte er, und immer wie-
der, dass seiner „spannend“ sei. Des-
halb muss man auch über die Berufs-
wahl von Hans-Georg Maaßen spre-
chen. Es ist natürlich gut, wenn Arbeit-
nehmer ihre Arbeit spannend finden.
Aber: Was für ein Mensch ist man,
wenn man mit Extremisten, mit
V-Männern, mit Terror-
plänen, mit Spionen zu
tun haben will, und das
nicht nur auf Netflix?
Vielleicht hat man
nur Interesse an Ver-
schwörungen. Vielleicht
will man für immer
Cowboy-und-Indianer
spielen. Doch was ist,
wenn die Indianer über-
mächtig werden? Es ist
frustrierend, klar. Und
klar nervt es, dass im-
mer dann, wenn es
schlecht läuft – NSU,
NSA, IS –, gleich mal ge-
sagt, geschrieben wird, dass man nicht
reiten könne.
„Was mich schmerzt, ist die öffentli-
che Herabwürdigung, die ich erfahren
habe“, das sagte Maaßen schon im Ru-
hestand. Und dann, dass er auch Gu-
tes auf den Straßen sehe: „Die Leute
wollen ein Selfie mit mir machen
oder sagen etwas Nettes. ,Gratulati-
on.‘ Oder: ,Sie haben Rückgrat.‘ Oder
man lädt mich auf ein Glas Bier ein.“
Normale, alte Radikalisierungs-
schlaufe also: Kränkung von einer Sei-
te, Zuspruch von einer anderen, ein In-
ternetanschluss – und fertig.
Und dennoch ist da diese Frage:
Wie, bitte, kann ein Mann, der alle
Radikalisierungs-Mechanismen
kennt, dann auch in diese Falle lau-
fen? Es ist ein Rätsel. Einem Nostra-
damus wäre das natürlich nicht pas-
siert, weil er ja alles wusste. Nein, al-
les vielleicht nicht, denn seine Hell-
sicht ist umstritten – er deshalb auch
ein Rätsel. So seltsam, wie es Maaßen
ist. Doch es ist wichtig, es zu lösen.
Wie? Weiter lesen, was er schreibt,
und anschauen, was er macht. „Es hat
nichts mit Gesinnungsschnüffelei zu
tun, wenn jemand in seinem Umfeld
augenfällige Veränderungen feststellt
und sie auch meldet. (.. .) Das ist Bür-
ger-Engagement, auch um den Betrof-
fenen zu helfen.“ Das sagte Maaßen
vor sechs Jahren, es ging um Salafis-
ten, selbstverständlich. Vielleicht war
es aber auch ein prophetischer Hilfe-
ruf. ANNA PRIZKAU
Die französische Schriftstellerin und Femi-
nistin Benoîte Groult, die mit ihrem Ro-
man „Salz auf unserer Haut“ weltberühmt
wurde und 2016 im Alter von 96 Jahren
starb, kaufte sich in den Siebzigern mit ih-
rem Mann Paul Guimard ein Haus in Ir-
land. Dort schrieb sie Tagebuch. Ihre Toch-
ter Blandine de Caunes hat diese Aufzeich-
nungen nun mit den „Carnets de pêche“ zu-
sammengeführt – einem Journal, das Be-
richte der begeisterten Hochseefischerin ent-
hält, die Groult auch war. Über das, was
der Fangkorb täglich hergibt, erzählt sie.
Über die Ménage-à-trois mit ihrem Mann
und ihrem amerikanischen Geliebten Kurt.
Sie schildert die rauhe Schönheit Irlands –
und einen Besuch ihres Freundes François
Mitterrand.
- August 1988
Morgen kommt Mitterrand. Er wird bei
uns übernachten. Wir werden sein Bett
nicht abziehen, wir werden in seinen La-
ken schlafen! Ein schöner Titel für die
Memoiren, die Paul niemals schreiben
wird: „Die Laken des Präsidenten“. Aus-
nahmsweise bietet Paul an, in Waterville
einzukaufen. Aber dann ruft die Spezial-
einheit an: Sie wollen um 14 Uhr vorbei-
kommen und nach einem geeigneten
Landeplatz für den Hubschrauber des
Präsidenten suchen: frei von Hindernis-
sen, höchstens 5 Prozent Gefälle, 50 Me-
ter ohne Bäume. Zunächst besichtigen
wir ein Feld, dann lassen wir uns vom
dortigen Hausmeister den Sportplatz
von Derrynane zeigen, der für tauglich
befunden wird. Dafür ist jedoch der gan-
ze Nachmittag draufgegangen. Immer
noch kein Hummer. Auch keine dicken
Pollacks, nur mittelgroße. Das Meer ist
aber so schwer zu zähmen... für zwei
Alte auf einem dürftigen Boot!
- August 1988
Mit dem Netz von Eugène, unserem bre-
tonischen Nachbarn, einen schönen
Hummer gefangen. Und 450 Gramm Fel-
sengarnelen. Unser Ansehen ist gerettet!
Jetzt kommt Schwung in die Sache: Die
Protokollabteilung ruft zweimal täglich
an. Autos ohne Kennzeichen fahren
kreuz und quer durch diese abgeschiede-
ne Gegend. Paul behauptet, dass ständig
Polizisten vorbeikommen, mal als Stein-
marder verkleidet, mal als altes Mütter-
chen oder große Möwe!
Ich fülle zwei Säcke mit Blumenerde,
die einfach so herumlag, kann sie dann
aber nicht vom Fleck bewegen. Ich rufe
Frank zur Hilfe, der die Säcke in den hin-
teren Teil der Garage schleift, damit sie
das Auge des Präsidenten nicht beleidi-
gen. Ich schrubbe die Schwellen sauber
und ein paar Fliesen, bringe den Klopa-
pierhalter wieder an. Dann räume ich
mein Zimmer, um es unserem Mimi zu
überlassen, auch das Badezimmer und
zwei Regale. Ich wasche das Auto, das an
den Seiten mit Kuhdung vollgespritzt
ist. Natürlich stößt sich in Irland nie-
mand daran, aber wenn man den franzö-
sischen Präsidenten kutschiert... Die Si-
cherheitskräfte sind ohnehin schon verär-
gert, weil wir die Dienste eines Chauf-
feurs ablehnen, „der genau weiß, wie
man in Irland zu fahren hat“. Lange star-
re ich in den irischen Himmel – grau, be-
deckt, aber mit einem Hauch von
Licht –, um den Präsidentenhubschrau-
ber auf dem Sportplatz von Derrynane
landen zu sehen. Die Personenschützer
streifen umher... Und plötzlich ist er
da. Mein Präsident! Das finde ich ergrei-
fend, dass er, der schon alles gesehen hat,
noch begeisterungsfähig genug ist, um
sich in diesen verlorenen Winkel zu bege-
ben. Als er kommt, lichtet sich der Him-
mel ein wenig. Schnell verspeisen wir
mit ihm Strandschnecken, Garnelen und
Hummer (den, den wir heute Morgen ge-
fischt hatten, und drei gekaufte) und ge-
hen dann spazieren. Die bedrohlich auf-
ragenden Personenschützer haben be-
reits in allen vier Himmelsrichtungen Po-
sition bezogen, mal hinter einem Felsen,
mal hinter einem Strauch, immer dort,
wo man die beste Übersicht hat. Beim
ersten Regentropfen kommen sie mit der
Öljacke und dem Südwester des Präsiden-
ten angerannt, der geglaubt hatte, er
könnte sich den Wolken zum Trotz mit
einem Blouson begnügen.
Den ganzen Tag Wind, Nebelschwa-
den und Nieselregen. Wir gehen bis zur
Fischbrüterei, ständig von zwei, drei Män-
nern bewacht. Dann schnell nach Hause,
weil der Weg am Felsen endet. Wir sind
so durchnässt, dass wir uns nicht mehr
rühren können. Abends hat Mimi lange
von seiner Familie erzählt, von seinen sie-
ben Brüdern und Schwestern, die noch le-
ben. Und von Casanova, den er gerade
mit Begeisterung liest. Vermutlich er-
kennt er sich in ihm wieder, genau wie
Paul. Alle drei ähneln sich darin, dass sie
Frauen jeglichen Alters, jeglichen Ausse-
hens lieben und sie auch hinterher noch
lieben... Danach haben wir über unsere
Lebenserwartung gesprochen, über die
Zeit, die uns noch bleibt, „um richtig zu
leben“, wie Mitterrand entschieden sagte.
„Sie sind doch längst noch keine siebzig,
Benoîte? Bis dahin bleiben Ihnen wie viel
... fünfzehn Jahre, zehn? Weniger?“ Er
konnte es tatsächlich nicht glauben, als
ich ihn enttäuschen musste: „Zwei Jahre,
Chef!“ Und so habe ich eine schöne Gele-
genheit verpatzt, wenigstens von einem
für fünfzig gehalten zu werden. Er äußer-
te seine Zufriedenheit, nicht unbedingt
darüber, Präsident mit einer linken Mehr-
heit zu sein, sondern weil er Chirac daran
gehindert hatte, den Staat wieder an sich
zu reißen und sich das zu nehmen, was
ihm seiner Auffassung nach ohnehin zu-
kommt. Ein entspannter, charmanter
Mimi. Früh ins Bett gegangen, um 22
Uhr, für ihn 23 Uhr. Er hat seit Weihnach-
ten keinen Urlaub mehr genommen.
Benoîte Groult: „Vom Fischen und von der Liebe – Mein
irisches Tagebuch (1977–2003)“. Hrsg. von Blandine de
Caunes, übersetzt von Patricia Klobusiczky. Ullstein, 400
Seiten, 22 Euro (erscheint am 26. Juli)
@HGMaassen Foto Imago
Protokoll einer
Radikalisierung
Konnte Maaßen in die Zukunft sehen?
Der fliegende Mann von Paris Foto Reuters
Mein Präsident!
François Mitterrand kommt zu Besuch. Ein Vorabdruck
aus dem irischen Tagebuch.Von Benoîte Groult
Staatsbesuch in Irland: François Mitterrand 1988 mit Benoîte Groult Foto Getty