Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

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als ich Avengers: End game geguckt habe. Meine Kindheits-
helden sterben. Die Geschichten, die mich begleitet haben,


seit ich klein bin, sind auserzählt. Wenn es draußen ge-
regnet hat, habe ich mich mit einer Tasse Tee und meinen


Lieblingscomics ins Bett verkrochen.
An meinen Geburtstagen habe ich meine Eltern dazu ge-


zwungen, mit mir ins Kino zu gehen und den neuesten
Marvel-Film zu gucken. Das ist jetzt vorbei. Manchmal


kommt es mir so vor, als würde überhaupt alles nur
noch vorbeigehen. Ich lese Bücher nicht zu Ende, weil


ich Angst habe, dass sie dann zu Ende sind. Ich sehne
mich nach diesem gemütlichen Gefühl von Weihnachten,


wenn wir bei mir zu Hause die alten Krippenspiel-Figu-
ren herausgeholt haben und den Tannenbaum zusammen


ausgesucht und nach Hause getragen haben. Ich will mich
wieder unter den grünen Zweigen auf dem Boden voller


Nadeln hinknien und an meinem Lego-Star-Wars-Raum-
schiff rumbauen.


Aber das geht irgendwie nicht mehr. Die Magie der Kind-
heit ist schon lange verschwunden. Als Jugendlicher war


ich deshalb häufig traurig. In Filmen und Büchern habe ich
Trost gefunden, aber wenn ich vor die Tür gegangen bin,
haben überall nur Fragezeichen auf mich gewartet.
Besonders schlimm war es vor zwei Jahren. Die Schule
war vorbei und machte einer gähnenden Leere Platz, und
dann mussten wir auch noch meinen Opa in ein Alten-
heim bringen. Er war am Ende fast wieder ein Baby und
hat einen kaum noch erkannt. Ich weiß noch, dass über
seinem Bett ein Bild von einem Baby-Orang-Utan aus
einer Zeitung klebte, diesem sah er mit seinen flauschigen
zerzausten Haaren immer ähnlicher. Das hat mich immer
ein bisschen aufgemuntert.
Irgendwann hat mich dann meine Mutter angerufen. Sie
meinte, ich solle in das Altenheim kommen und mich ver-
abschieden. Das war das erste Mal, dass ich einen Toten
gesehen habe. Die Beerdigung war schön. Schön, weil ein
Freund von meinem Vater etwas gesungen hat. Aber auch
traurig, weil nicht so viele Leute da waren und meine Oma
so unfassbar einsam aussah.
Für mich wird er immer der Opa sein, der mir von Na-
po leon und den Russen erzählen konnte. Ich liebte seine
Geschichten, und wenn mir der richtige Ludwig oder Otto
dazu einfiel, kam immer im tiefen Bariton: »Sehr gut.« Er

schaute mich stolz über seine dicken Brillengläser an, und
ich fühlte mich unfassbar schlau.
Aber genug von dem depressiven Geplänkel, lasst uns über
was Schöneres reden.
Ich fand »Liebe« früher häufig blöd. Warum, weiß ich
gar nicht, aber ich habe sehr lange gebraucht, bis ich mir
Liebesfilme angucken konnte, ohne vor dem Happy End
angewidert in mein Bett zu gehen. Ich konnte nicht nach-
vollziehen, warum sich jemand so was freiwillig anschaut.
Ich konnte auch nicht verstehen, warum Leonardo DiCaprio
als Romeo seiner Julia ewig lange Texte vorträgt und sich
komplett zum Affen macht. Es war fast so, als hätte ich
mich für ihn geschämt, dafür, wie verletzlich er sich mach-
te. Bei mir schrillten sämtliche Alarmglocken.
Später fand ich Verliebtsein ganz gut, weil es einen ablenkt
und dem Leben einen Sinn gibt. Man hat jemanden, an
den man denken kann, und das ist wirklich schön. Ich
habe dann Gedichte geschrieben und Seiten in meinem
Tagebuch gefüllt. Dabei wurde jede WhatsApp-Nach-
richt und jedes kleine Gespräch aufs Detaillierteste ana-

»Jetzt studiere ich also,


weil ich gerne


kreativ bin, aber trotzdem eine


Struktur brauche«


Pauls Schreibtisch. Auf dem Fensterbrett ein Comic, an dem er gerade arbeitet
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