Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


WIRTSCHAFT 17


Im Sinkf lug


Nach dem Absturz zweier Maschinen ist der amerikanische Flugzeugkonzern Boeing in


der Krise – und droht das ganze land zu schwächen VON HEIKE BUCHTER


W


er mit lufthansa oder
Turkish Airlines oder
einer anderen linie ver­
reist, besteigt sehr wahr­
scheinlich irgendwann ei­
ne Maschine des Herstel­
lers Boeing. Doch seit
beim Absturz zweier Flugzeuge des Modells 737
Max 346 Menschen ums leben kamen, sind diese
Modelle nicht mehr darunter. Selbst die 42 neuen
Maschinen, die jeden Monat in der 100.000­Ein­
wohner­Stadt Renton am lake Washington aus den
Produktionshallen rollen, bleiben am Boden. Hinter
Zäunen und Mauern ragen dort allerorten Heck­
flossen großer Jets empor. Dutzende der Flugzeuge
stehen vor Fabrikhallen, auf Rollfeldern, ja sogar auf
Parkplätzen zwischen Minivans und SuVs.
Der Flugzeugtyp darf nach den unfällen erst ein­
mal nicht eingesetzt werden. Gut hundert Jahre
nachdem William Boeing, der Sohn eines deutschen
Einwanderers, das unternehmen 1916 in der Nähe
von Renton gründete, steckt es in einer schweren
Krise. Die unglücke und die folgende Zwangspause
für alle 737­Max­Maschinen kosten den Konzern
Milliarden Dollar. Schon bevor das unternehmen
am Mittwoch (nach Redaktionsschluss der ZEIT)
seine neuesten Ergebnisse meldete, war klar: Eine
ikone der amerikanischen Wirtschaft ist angeschla­
gen. Boeing könnte seine führende Position in der
luftfahrtindustrie verlieren. Die uS­Wirtschaft
würde das schwer treffen, etwa Zulieferer wie den
Mischkonzern General Electric, der im Rahmen eines
Joint Ventures die Turbinen der Max herstellt. und
natürlich träfe es Städte wie Renton und Everett, wo
viele Menschen schon in der dritten Generation bei


dem Flugzeugbauer beschäftigt sind und wo Boeing
mit 70.000 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der
Region ist. Dazu kommen noch Zehntausende Jobs
bei Zulieferern und bei Einzelhändlern, Restaurants
und sonstigen Dienstleistern, die von der luftfahrt­
industrie mitgetragen werden.
Cindy Petosa etwa betreibt die Sunnyside Pre­
school, einen privaten Kindergarten. Die meisten
Eltern sind ingenieure oder Verwaltungsangestellte
bei Boeing. »ich hoffe, dass sich das Problem
schnell löst und wir keinen Einbruch erleben«, sagt
die Mittvierzigerin beim monatlichen Treffen lo­
kaler Geschäftsleute in einem mexikanischen Res­
taurant in Everett. in der industriestadt am Puget
Sound, die im 19. Jahrhundert den Spitznamen
»Stadt der Schlote« hatte, befindet sich Boeings
Hauptwerk mit dem – wie das unternehmen stolz
verkündet – größten Gebäude der Welt, in dem
die 747, die 767, die 777 und die 787 Dreamliner
gebaut werden. Der Komplex ist so gigantisch,
dass sich Wolken unter der Decke bilden würden,
gäbe es kein Entlüftungssystem.
Über das »Problem« redet hier niemand gerne.
Boeing selbst hat, laut Mitarbeitern, diese angehal­
ten, nicht mit der Presse über Firmeninterna zur Max
zu sprechen. Öffentlich bekannt gemacht hat das
unternehmen: Bisher hat das Flugverbot Boeing 4,
Milliarden Dollar gekostet durch Vergünstigungen
und leistungen an Fluggesellschaften, weil sie bereits
ausgelieferte oder bestellte Maschinen seit März nicht
einsetzen können. Außerdem wird Boeing an der
Max durch Kostensteigerungen 2,7 Milliarden Dol­
lar weniger verdienen als bisher kalkuliert. Dazu
kommen die Zahlungen an die Angehörigen der
Absturzopfer. Boeing hat ihnen 100 Millionen Dol­

lar in Aussicht gestellt. Niemand weiß, ob das aus­
reichen wird. Ebenso wenig, wie es weitergeht. Zwar
hat der Vorstandschef Dennis Muilenburg vergange­
ne Woche erklärt, er erwarte eine neue Zulassung der
737 Max durch die Flugaufsicht bis Jahresende.
Tatsächlich sind die untersuchungen der Behörden
aber nicht abgeschlossen. Auch sie könnten noch
Strafen verhängen.
Das Neugeschäft ist ebenfalls betroffen. Anfang
des Monats zog die saudische Billiglinie Flyadeal ihre
Bestellungen für die Max in Höhe von 5,9 Milliarden
Dollar zurück. Stattdessen wollen die Saudis nun
50 Airbus A320neo ordern. Für Boeing ist das bitter:
Der europäische Erzrivale Airbus hat damit nach
sieben Jahren, gemessen an den ausgelieferten Flug­
zeugen, wieder die Marktführerschaft übernommen.
Boeings Niedergang fügt sich ein in eine größere
Entwicklung. Das unternehmen ist der letzte jener
erfolgreichen uS­industriekonzerne, die einst den
Amerikanischen Traum für ihre Mitarbeiter möglich
machten. General Electric, General Motors, Kodak
oder Hewlett Packard boten sichere Jobs, die Millio­
nen Amerikanern ein eigenes Heim, eine Betriebs­
rente, Gesundheitsversorgung und die Ausbildung
der Kinder ermöglichten. Anders als heute bei
Technologiekonzernen wie Facebook, Apple oder
Google vergaben sie diese Jobs auch an Mitarbeiter,
die keine Spezialkenntnisse vorweisen konnten. Die
meisten der alten industrieunternehmen sind heute
nur mehr ein Schatten ihrer Vergangenheit.
Eine Krise bei Boeing würde diesen Trend ver­
schärfen. Der Konzern hat 13.000 Zulieferbetriebe
in den uSA. Sie machen jährlich rund 45 Milliarden
Dollar umsatz mit dem unternehmen. Nach dessen
Schätzung hängen bei den Zulieferern 1,3 Millionen

Arbeitsplätze an Boeing. Hinzu kommen die 137.
uS­Mitarbeiter bei Boeing selbst.
Gemessen am Dollarwert ist der Konzern zudem
Amerikas größter Exporteur. Sollte Boeing seine
führende Rolle in der luftfahrt durch die Krise end­
gültig abgeben müssen – neben Airbus gehört Chinas
Comac zu den Wettbewerbern –, würden die uSA
auch als Handelspartner an Bedeutung verlieren,
warnt loren Thompson, Chef des lexington­insti­
tuts, eines industrienahen Thinktanks. Nach Maschi­
nen und Mineralöl sind Flugzeuge der drittgrößte
Exportposten der uSA. Boeing macht mit 70 Milli­
arden Dollar die Hälfte davon aus. »Wenn wir über
Boeing reden, reden wir über die Zukunft Amerikas
in der globalen Wirtschaft«, sagt Thompson.
Die Max hätte diese Zukunft auf Jahre hinaus
garantieren sollen. Kein neues Boeing­Modell schlug
auf Anhieb derart bei den Einkäufern der Airlines
ein. Rund 5000 Aufträge verbuchte das unternehmen
vor den Abstürzen, 387 Maschinen sind bereits aus­
geliefert.
Die Geburtsstunde für die Max schlug im Juni
2011 bei der Pariser luftfahrtmesse. Zuvor hatte der
Rivale Airbus den erfolgreichen Start seiner A320neo
verkündet. Das Modell versprach Turbinen, die 20
Prozent weniger Treibstoff verbrauchten, für die stets
auf die Kosten bedachten Fluggesellschaften ein
wichtiger Vorteil. American Airlines, bis dahin einer
der treuesten Kunden Boeings, orderte 260 Airbus.
Die Boeing­Manager waren unter Druck, schnell
selbst ein sparsameres Modell auf den Markt zu
bringen. Statt einen völlig neuen Flugzeugtyp zu ent­
wickeln, beschlossen sie, die 737 zu überholen.

Überpf legte Haut


MARCUS ROHWETTERS

wöchentliche Einkaufshilfe


Der Pflegenotstand muss dramatisch sein.
Zumindest entnehme ich das dem Magazin
Séduction, das meiner Tageszeitung beilag und
das die Anschaffung weiterer Pflegeprodukte
propagiert. Eine Beauty­Expertin verrät dort,
dass Platin in die »life­lotion« von la Prairie
gehöre, weil »König ludwig XVi. beschloss,
Platin als einziges Metall für Tische und
Frisierkommoden in Ver sailles zu verwenden«
(115 ml, um 577 Euro). Man preist »Signa ture
Treatments« in R. Raphaels »Temple of Beau­
ty« an, die »alles bieten, was schön, teuer und
vor allem auch extrem effektiv ist« (2,5 Stun­
den für 2200 Euro). und man lernt, dass es
ungerecht sei, wenn man »seinem Gesicht den
luxus eines Serums gönnt und dem Körper
nur eine Creme« (Abhilfe: Fine Body Serum,
200 ml, um 44 Euro). in dieser Welt voll­
bringen Shampoos mehr Repair­leistungen
als jede Autowerkstatt.
ich würde niemandem unterstellen, dass
das nicht stimmt. Wahrscheinlich ist all das
wirklich notwendig. Aber ich weiß auch: Der
Kapitalismus ist ein Biest. Sein Wachstums­
dogma (Mehr! Mehr! Mehr!) treibt Menschen
zu Höchstleistungen, was auch heißen kann:
zu höchsten Konsumleistungen. Aus »Mehr«
wird erst »Viel mehr«, dann »Zu viel« – und
schließlich eine Dia gno se: periorale Dermati­
tis. Aufgrund einer Überversorgung der Haut
mit Pflegeprodukten. Dann nämlich können
die Mittelchen genau das auslösen, was sie zu
verhindern vorgeben: entzündliche Haut­
veränderungen mit Bläschen und Knötchen,
oft in der Mundgegend und meist bei Frauen
zwischen 16 und 45 Jahren.
Es ist die Rache der Überflussgesellschaft.
Glücklicherweise ist die Plage meist nicht von
Dauer und verschwindet, wenn man seiner
Haut eine Kosmetik­Auszeit gönnt. Danach
kann alles von vorn beginnen. Denn nur auf
den Ruinen des Alten kann Neues entstehen.
Das Fundament ist schnell gelegt. Beziehungs­
weise: die Foundation.

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Hohlsprech und Pseudo­innovationen? Melden
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dem Autor auf Twitter unter @MRohwetter

Cockpit einer Boeing 737

DIESE WOCHE

QUENGELZONE

Die idee begeistert linke


wie Rechte und Arme wie


Reiche. Sie ließe sich deshalb


für eine Reform des


Sozialstaats nutzen
Seite 19

Grundeinkommen


Bei einem Bergwerksunglück


in Brasilien starben Anfang


des Jahres 248 Menschen.


Nun ermittelt eine


Staatsanwältin gegen die


deutschen Prüfer Seite 20


TÜV Süd


Der gelernten Hotelfachfrau


Alexandra Schörghuber


gehört Paulaner. Sie musste


den Konzern von einem auf


den anderen Tag übernehmen
Seite 26

Unternehmer


Zahlen eines Desasters


Millionen Dollar
sollen die Angehörigen der Absturzopfer als
Entschädigung erhalten

Milliarden Dollar
hat es Boeing gekostet, Airlines dafür zu entschädi­
gen, dass sie die Flugzeuge nicht einsetzen konnten

Firmen
sind in den uSA als Zulieferer für Boeing tätig


  • daran hängen 1,3 Millionen Jobs


Fortsetzung auf S. 18

4 ,9 10 0 13.


Foto: Lee Murray/Getty Images
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