- Juli 2019 DIE ZEIT No 31
Boris und der
große Graben
Alle wollen von Großbritanniens neuem Premier Boris Johnson wissen, welchen Brexit-Plan
er verfolgt. Dabei steht in seinem land noch viel mehr auf dem Spiel VON JAN ROSS
H
aben die Briten eigentlich gar
keine anderen Sorgen außer dem
Brexit? Wenn Boris Johnson in
dieser Woche seine ersten politi-
schen Si gna le als neuer Premier-
minister des Vereinigten König-
reichs sendet, wird man sich fast
ausschließlich für seine Pläne zum Austritt aus der Eu
interessieren. in Wahrheit jedoch steht Großbritan-
nien, eines der wichtigsten länder Europas und des
gesamten Westens, vor einer ganzen Serie von Groß-
problemen, die mit dem Brexit nicht erledigt sein
werden. Oft sind sie auf vertrackte Weise mit dem
Eu-Ausstieg verknüpft. Was sind die entscheidenden
Fragen, mit denen die Briten konfrontiert sind? und
wie könnte Boris Johnson mit ihnen umgehen?
Eine gespaltene Gesellschaft
Großbritannien war und ist das Musterland des Neolibe-
ralismus. Seit Margaret Thatcher 1979 Premierministerin
wurde, haben beide großen Parteien, Tories (Konservati-
ve) wie labour (So zial demo kra ten), das land letztlich in
dieselbe Richtung geführt: Freiheit vor Gleichheit, Wett-
bewerb vor Solidarität, Markt vor Staat. labour hat seit
der Regierungszeit von Tony Blair (1997 bis 2007) einen
für europäische Verhältnisse sehr robusten Kapitalismus
und einen – mit Ausnahme des Gesundheitssystems – ent-
sprechend reduzierten Wohlfahrtsstaat akzeptiert. um-
gekehrt hatten die Konservativen ihren Frieden damit
geschlossen, dass liberalisierung nicht nur freie Märkte
bedeutet, sondern auch neue gesellschaftliche Freiheiten:
eine großzügige Einwanderungspolitik oder die gleich-
geschlechtliche Ehe. Großbritannien hat vier Jahrzehnte
eines erstaunlichen liberalen Konsenses hinter sich.
Diese Eintracht ist mittlerweile brüchig geworden.
Die Entfesselung des Marktes hat dem land nicht nur
eine dynamische Wirtschaft beschert, sondern auch die
sozialen Gegensätze enorm verschärft. Als im Juni 2017
bei einem Feuer im Wohnblock Grenfell Tower, einer
Armutsenklave im reichsten londoner Stadtviertel Ken-
sington, über 70 Menschen umkamen, fiel ein grelles
licht auf das Ne ben ein an der von luxus und Ver elen-
dung. Ein wohlhabender Süden und ein abgehängter
Norden, eine blühende Finanzbranche und eine ver-
kümmerte industrie, enormer Vermögenszuwachs für
Hausbesitzer und unerschwingliche immobilienpreise
für junge Familien, die ihre erste Wohnung kaufen
wollen: Die britische Sozialökonomie wird von tiefen
Rissen durchzogen. Ebenso ist das Mi gra tions the ma in-
zwischen wieder stärker umstritten. Angst vor weiterer
Zuwanderung spielte eine wichtige Rolle beim Brexit-
Votum, und auch manche linken oder liberalen intel-
lektuellen warnen neuerdings vor einer kulturellen und
historischen identitätsgefährdung. Auf eine vage Weise
ist allen politischen lagern bewusst, dass etwas für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt getan werden muss.
Theresa May wollte, als sie 2016 als Premierministe-
rin ins Amt kam, genau diese Stärkung der sozialen
Schwerkraft zu ihrem Projekt machen. Das Brexit-Drama
hat dann alles andere in den Hintergrund gedrängt. Bei
Boris Johnson wirkt die soziale Ader weniger aus geprägt.
Seine instinkte sind libertär und elitenfreundlich: gegen
Vorschriftenmacherei (moralisch oder ökonomisch),
gegen kleinliche Beschränkungen bei der Mi gra tion,
gegen schlechtes Gewissen beim Geld verdienen (er ist ja
überhaupt nicht so sehr fürs schlechte Gewissen). Sein
erstes Versprechen im Wettbewerb um den Tory-Vorsitz
war eine Anhebung der Einkommensgrenze, von der an
der Höchststeuersatz fällig wird – ein klassisches Wahl-
geschenk an die obere Mittelschicht.
Gleichzeitig jedoch beruft sich Johnson gern auf
Benjamin Disraeli, den konservativen Premierminister,
der seiner Partei im 19. Jahrhundert die Bedeutung der
sozialen Frage beibrachte. in seiner ersten kurzen An-
sprache nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden hat
Johnson gleich den inklusiven, integrierenden Cha-
rakter der Tories hervorgehoben. Es ist ihm offenbar klar,
dass die Konservativen, wenn sie erfolgreich bleiben
wollen, an ihrer Volkstümlichkeit arbeiten müssen. Nicht
ausgeschlossen allerdings, dass Johnson glaubt, das allein
mit seiner barocken persönlichen Popularität schaffen
zu können und so um linke Strukturmaßnahmen wie
umverteilung herumzukommen.
Welche Rolle in der Welt?
Die neuen Verlegenheiten der britischen Außenpolitik
konnte man kürzlich am Fall von Sir Kim Darroch studie-
ren. Der britische Botschafter in Washington erregte den
Zorn von Donald Trump, als Depeschen publik wurden,
in denen der Diplomat sich kritisch über den uS-Präsiden-
ten äußerte. Sir Kim hatte sich nichts vorzuwerfen: un-
geschönt an die Zentrale zu berichten ist die Pflicht eines
jeden Gesandten, und für das Datenleak, das zur Veröffent-
lichung führte, war der Verfasser der Einschätzungen nicht
verantwortlich. Johnson freilich verteidigte den eigenen
Botschafter nur äußerst matt. Sir Kim trat zurück. Die
mangelnde loyalität seines künftigen Regierungschefs soll
wesentlich zu seiner Frus tra tion beigetragen haben.
Die Episode zeigt das Ausmaß der Abhängigkeit von
Donald Trumps uSA, in die Großbritannien geraten
könnte. Entgegen anderslautenden Gerüchten ist Boris
Johnson zwar kein Trumpist. Von den Hass-Tweets des
amerikanischen Präsidenten gegen linke Kongress-
abgeordnete etwa hat er sich genauso distanziert wie
Theresa May oder Angela Merkel. Doch wenn die Briten
den Schutzraum der Eu verlassen, sind sie unweigerlich
umso mehr auf die uSA angewiesen. Das Vereinigte
Königreich war immer ein besonders enger Verbündeter
der Vereinigten Staaten. Jetzt jedoch droht eine un-
heimliche Schicksalsgemeinschaft mit einem Amerika,
das unberechenbar geworden ist.
Gefahr für die Union
Auf dem Kontinent wird oft vergessen, dass Großbri-
tannien ein Vielvölkerstaat ist. Bei Schotten, Walisern
und iren (die durch Nord irland im Vereinigten König-
reich vertreten sind) handelt es sich nicht einfach um
regionale Bevölkerungsgruppen, sondern um echte, ei-
gene Nationen, die sich mit den Engländern zu einer
union verbunden haben. Diese union (der wichtigste
Schritt war die politische in te gra tion von England und
Schottland im Jahr 1707) ist keine Selbstverständlichkeit,
und sie wird vom Brexit akut unter Druck gesetzt.
Man denkt dabei zumeist an die Schotten. Sie haben
beim Referendum im Juni 2016 mit deutlicher Mehrheit
für den Verbleib in der Europäischen union gestimmt.
Dass sie jetzt gegen ihren Willen aus der Eu hinausge-
zwungen werden sollen, verbittert viele und könnte der
schottischen unabhängigkeitsbewegung (die 2014 eine
Volksabstimmung über den Austritt aus dem Vereinigten
Königreich verloren hat) wieder Auftrieb geben. Aber
die große Entdeckung der Brexit-Debatte ist nicht der
schottische Nationalismus – sondern der englische. Das
Misstrauen gegen den Kontinent und seine Machen-
schaften, die Furcht, fremdbestimmt und kulturell ent-
eignet zu werden: Das alles ist vorzugsweise ein eng-
lisches, viel weniger ein schottisches oder nordirisches
Phänomen. Eine umfrage unter konservativen Partei-
mitgliedern hat kürzlich gezeigt, dass eine Mehrheit
sogar den Zerfall des Vereinigten Königreichs in Kauf
nehmen würde, wenn das der Preis für den Brexit wäre.
Die Staatsgemeinschaft der verschiedenen Nationen
Großbritanniens steht also unter Stress wie seit langem
nicht mehr. Boris Johnson weiß das; er hat erklärt, dass
er als Premierminister zugleich den Titel eines »Ministers
für die union« führen wolle. Gleichzeitig ist er in Schott-
land ausgesprochen unbeliebt, vielerorts geradezu ver-
hasst. Als Hüter der britischen Einheit ist er eine, vor-
sichtig gesagt, unkonventionelle Wahl.
Krise des politischen Systems
Die britische politische landschaft galt lange als die
stabilste der Welt. Tories und labour waren die un-
angefochten dominierenden Parteien. Das Mehrheits-
wahlrecht, nach dem jeder Wahlkreis einfach den jeweils
erstplatzierten Kandidaten als Abgeordneten entsendet,
verbürgte klare Verhältnisse im Parlament. Diese ver-
traute Ordnung ist heute infrage gestellt. im Moment
scheint ein provisorisches Vierparteiensystem zu herr-
schen: Bei der Wahl zum Europäischen Parlament vor
wenigen Wochen traten neben die erheblich geschrumpf-
ten Tory- und labour-lager die liberaldemokraten und
die Brexit-Partei des Eu-Hassers Nigel Farage.
Der Grund für die neue unübersichtlichkeit liegt
darin, dass die alte Rechts-links-Konfrontation zwischen
Konservativen und labour die ideologischen Gegen-
sätze der Kontroverse um den Eu-Austritt nicht ab-
bilden kann. Vielen Hard core- Na tio na lis ten sind die
Tories brexitpolitisch zu schlapp – davon lebt einst-
weilen die Partei von Nigel Farage. labour andererseits
kann sich nicht dazu durchringen, klar gegen das Aus-
scheiden aus der Europäischen union Front zu machen,
denn zahlreiche linkswähler aus der Arbeiterschicht
haben wenig für die Eu als businessfreundliches inte-
grationsprojekt übrig. Darauf nimmt die Parteiführung
Rücksicht – was wiederum die fortschrittlichen Groß-
städter den liberaldemokraten zutreibt, die den Brexit
unmissverständlich ablehnen. Statt der gewohnten
lager von Rechts und links bringt der Streit um den
Eu-Austritt eine neue Art Polarisierung zwischen Ang-
lonationalen und Progressivkosmopoliten hervor, mit
der die politische Stammeskultur von Tories und labour
überfordert ist.
Boris Johnson muss versuchen, diese Verschiebungen
im Parteiensystem aufzuhalten und rückgängig zu ma-
chen. Daher ist für ihn der pünktliche Brexit am 31. Ok-
tober so wichtig. Er hofft, dass mit einem entschlossen
durchgezogenen Austritt die Brexit-Partei von Nigel
Farage verschwindet und die Tories ihren nächsten Wahl-
kampf gegen den dezidiert linken labour-Vorsitzenden
Jeremy Corbyn wie in alten Zeiten führen können:
Freiheit statt Sozialismus. Die traditionelle britische
Stabilität wäre wiederhergestellt. Niemand kann im
Augenblick sagen, ob das realistischer Optimismus ist
- oder eine komplette illusion.
Siehe auch Wirtschaft, Seite 25: Wie Boris Johnsons
Großprojekte in london scheiterten
http://www.zeit.de/audio
2 POLITIK
Sie sind wieder da
Großbritanniens liberaldemokraten und ihre neue Chefin Jo Swinson sind die große Hoffnung der Brexit-Gegner
D
ie Konservativen sind nicht die einzige briti-
sche Partei, die einen neuen Chef hat. Anfang
der Woche haben die liberaldemokraten,
ebenfalls in einer urwahl ihrer Mitglieder, die 39 Jah-
re alte unterhausabgeordnete Jo Swinson zur neuen
Vorsitzenden gewählt. Auch Briten, die sich gar nicht
für Politik interessieren, mögen aus dem vergangenen
Jahr ein Bild von ihr vor Augen haben: Swinson war
die erste Abgeordnete in der 800-jährigen Geschichte
des englischen Parlamentarismus, die ihr Baby mit in
den Plenarsaal nahm.
Aber das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass die
liberaldemokraten überhaupt wieder Beachtung fin-
den und sogar politische Hoffnungen wecken. Bei
den unterhauswahlen von 2015 und 2017 hatte
die Partei kümmerlich abgeschnitten, mit einem
Stimmenanteil zwischen sieben und acht Pro-
zent und zuletzt einem Dutzend Abgeordneten.
Die Wähler hatten den »lib Dems« die Kom-
promisse nicht verziehen, die sie von 2010 bis
2015 in einer Regierungskoalition mit den Kon-
servativen eingegangen waren. Besonders übel
genommen wurde der Partei der Bruch ihres
Versprechens, die Studiengebühren einzufrieren.
Mittlerweile jedoch sind die liberaldemokraten
wieder da. Bei der Europawahl Ende Mai erziel-
ten sie fast zwanzig Prozent und lagen damit
deutlich vor labour und den Tories. »ich stehe
heute«, erklärte Jo Swinson in ihrer Antrittsrede
als lib-Dem-Chefin, »nicht nur als Vorsitzende
der liberaldemokraten vor ihnen, sondern als
Kandidatin für das Amt der Premierministerin.«
und das klang keineswegs vollkommen absurd.
Es gibt einen klaren Grund für die erstaunli-
che Renaissance der Partei: den bevorstehenden
britischen Austritt aus der Europäischen union
und den noch immer nicht abgeschlossenen
Streit darüber. Die liberaldemokraten haben
sich als die führende Anti-Brexit-Kraft im politi-
schen leben des Vereinigten Königreichs eta-
bliert. Da 48 Prozent der britischen Wähler
beim Referendum von 2016 für den Verbleib in
der Eu gestimmt haben, ist das Potenzial für die lib
Dems beträchtlich. Dass Jo Swinson auch noch
Schottin ist und damit besonders gut die brexitkri-
tischste aller britischen Teilnationen ansprechen
kann, bedeutet eine zusätzliche Chance für die Partei.
Für labour ist der Aufstieg der liberaldemokraten
politisch lebensgefährlich. Die Partei riskiert, ihre ur-
banen, modernen, international orien tier ten Wähler
an eine frischer wirkende Mitte-links-Konkurrenz zu
verlieren. Wir kennen ein Beispiel dafür, wie eine
große, historisch verdiente Arbeiterpartei auf diese
Weise ruiniert werden kann. Es ist die Geschichte
vom Niedergang der SPD und dem Siegeszug der
deutschen Grünen. J A N R O S S
Blühender Süden: Zwei Luxuskarossen in Londons reichstem Stadtteil Kensington
Abgehängter Norden: Straße in der ehemaligen Schiffsbau-Metropole Hendon
Schott-
land
Eng-
land
Wales
Nord-
irland
London
Fotos: Seamus Murphy/VII/laif