- Juli 2019 DIE ZEIT No 31 POLITIK 7
E
s ist dieser Tage nicht ganz ein
fach, in ein Antirassismustraining
reinzukommen. Die Kurse sind
ausgebucht. unternehmen, Ver
waltungen, NGOs strömen in
Seminare mit Titeln wie »Weiße
Privilegien« oder »Critical White
ness«. Die aus den uSA importierte Kernidee lau
tet: Weißsein ist eine unbewusste Norm, von der
aus alle anderen eben »anders« sind, nämlich eth
nische Gruppen mit speziellen Zuschreibungen.
Weiße sollen hier lernen, dass sie nicht einfach
Menschen sind, sondern weiße Menschen. Eine
Standardübung läuft so: Alle Teilnehmer stellen
sich an die Wand. Die leiterin liest ihnen Sätze
über Privilegien vor. Wer glaubt, dass ein Satz auf
ihn selbst zutrifft, tritt einen Schritt nach vorn.
Wer am Ende ganz vorn steht (und alle anderen
hinter sich gelassen hat), ist mit Sicherheit weiß –
und schämt sich. Die Sätze, die aus einem leitfa
den der amerikanischen Autorin Peggy Mcintosh
stammen, lauten etwa: »ich kann mit vollem Mund
reden, ohne dass Menschen das auf meine Haut
farbe zurückführen.« Oder: »ich muss meine Kin
der nicht dazu erziehen, sich zu ihrem eigenen
Schutz über Rassismus bewusst zu sein.«
Keine Frage – niemandem schadet es, sich über
seine Privilegien im Klaren zu sein. Wer Öztürk
heißt und in Stuttgart eine Wohnung sucht, wer
arabisch aussieht und bei jeder Sicherheitsschleuse
in den Fokus gerät, erlebt ein anderes Deutschland
als Volker Kauder – und das sollte sich ändern. Das
Thema Rassismus wird, wenn es überhaupt zur
Sprache kommt, oft auf Neo nazis reduziert. Die
unausgesprochenen Vorteile des Weißseins, die
natürlich auch weiße Antirassisten genießen, gera
ten selten in den Blick: automatisch dazugehören.
Sich nicht rechtfertigen müssen. Als individuum
gesehen werden, nicht als Vertreter einer Gruppe.
»identitätspolitik« soll nun ein Gegengewicht
schaffen: Politik im Namen benachteiligter Gruppen.
»Persons of Color«, wie es auch im Deutschen heißt.
Oder Frauen, lesben, Transpersonen, intersexuelle.
in letzter Zeit hat die identitätspolitik einige spek
takuläre Siege errungen: Seit Kurzem kann im Ge
burtsregister neben »männlich«
und »weiblich« nun auch »di
vers« stehen – eine liberalisie
rung, die viel unnötiges leid
be enden dürfte. Schwule und
lesben können endlich heira
ten. im »Kopftuchurteil« des
Bundesverfassungsgerichts von
2015 wurde die Religionsfrei
heit einer klagenden lehrerin
über das staatliche Neutralitäts
gebot gestellt.
Oft schlägt aber das befrei
ende Anliegen des Antirassis
mus oder Antisexismus um in
ein beängstigendes Fuchteln
mit Maßregelungen, Kränkun
gen, Schuldzuweisungen und
Strafen. Die Frage »Woher
kommst du?« ist vermintes Ge
lände. An der Berliner Hum
boldtuni musste die Polizei anrücken, weil Stu
denten den Seminarbetrieb lahmlegten, um zu
verhindern, dass Schriften von Kant oder Rousseau
diskutiert werden, die sie für Rassisten hielten.
Romane werden umgeschrieben, Gedichte von
Hauswänden entfernt, »Safe Spaces« eingerichtet,
in denen man mit der falschen (hellen) Hautfarbe
keinen Zutritt hat.
Man könnte von einem neuen Stammesdenken
sprechen. Es kommt nicht mehr darauf an, was
gesagt wird. Sondern wer etwas sagt. Spricht ein
Weißer oder eine Person of Color? Spricht ein he
terosexueller Mann – die Rede ist von »toxischer
Männlichkeit« – oder eine Muslimin?
Nun könnte man meinen, die Zahl der Stam
meskrieger sei noch recht gering. Es war genau ein
Hamburger Kindergarten, der die Eltern bat, beim
Fasching auf indianerkostüme zu verzichten, und
ein Dutzend, in denen vom »lichterfest« statt vom
SanktMartinslaternenumzug die Rede war. Aber
das neue Stammesdenken findet gerade dort die
meisten Anhänger, wo die Multiplikatoren von
morgen heranwachsen: in der Sozialpädagogik,
den Geisteswissenschaften, der lehrerausbildung,
in den GenderStudies und den Postcolonial Stu
dies. Auch die Studentenbewegung von 1968 be
stand nur aus wenigen – trotzdem haben sie die
Republik umgekrempelt.
Der Feind des neuen Stammesdenkens steht
aber nicht, wie man glauben sollte, rechts. »Der
kleine NeoNazi oder der ›ausländerfeindliche Be
trunkene‹, der ›Ausländer raus‹ brüllt«, schreibt der
Theatermacher Agbota Zinsou, »stellt eine gerin
gere Gefahr dar – wenn er sich auf verbale Angriffe
beschränkt – als der intellektuelle, der Künstler
oder Journalist, der unbewusst Klischees vermit
telt.« Für die Autorin Noah Sow sind ausgerechnet
die Antirassismusbeauftragten Stein des Anstoßes.
Denn wer hat ihnen, oft weiße linke, erlaubt, zu
diesem Thema zu sprechen?
im Stammesdenken gibt es keinen Fortschritt.
Keiner entkommt dem Weißsein oder der toxi
schen Männlichkeit. »Rassismuskritik«, heißt es
beim CriticalWhitenessSeminar, »bedeutet sei
tens weißer Personen in besonderem Maße andau
ernde Selbstkritik und Reflexion. Dieser Prozess ist
niemals abgeschlossen.«
Der Einteilung der Menschheit in Weiße und
People of Color, in heterosexuelle Männer und
lGBTQi (lesbisch, schwul, bi, trans, queer, interse
xuell) entspricht die Einteilung in Täter und Opfer.
Der Sexualpädagoge Marco Kammholz warnt: »Ei
genschaften, die gesellschaftlich von Vorteil sein
könnten, wie etwa heterosexuell, männlich, nicht
behindert oder weiß zu sein, werden schon an sich als
Bedrohung oder Übergriff für als verletzbar geltende
Gruppen wahrgenommen.« Die taz berichtete über
ein Antirassismuscamp, auf dem ein Bezirk mit Flat
terband abgezäunt war, den nur betreten durfte, wer
sich als Person of Color identifizierte. Ein Auftritt der
Band Feine Sahne Fischfilet im Arbeiterinnenund
Jugendzentrum Bielefeld musste unterbrochen wer
den, weil der Drummer im Eifer des Gefechts sein
TShirt ausgezogen hatte. Arglos gab er zu seiner Ver
teidigung an, er habe halt geschwitzt – aber damit
kam er nicht durch. Sexuell Traumatisierte hätten
durch seine nackte Brust erneut
traumatisiert werden können,
lautete der Vorwurf. und: Weil
es für Frauen schwieriger sei, die
Brustwarzen zu zeigen, sollten
auch Männer davon Abstand
nehmen. »Auf Privilegien zu ver
zichten, solange sie nicht allen
zuteilwerden, ist ein solidarischer
- und antisexistischer – Akt«,
hieß es im feministischen Blog
Mädchenmannschaft.
Dein Glück ist mein un
glück – so lautet die logik des
Stammesdenkens. Ein Null
summenspiel. »Wenn Rechte
nicht erkämpft werden, sondern
Privilegien gestrichen«, schreibt
der ExTitanic-Chefredakteur
leo Fischer im fabelhaften Sam
melband Beißreflexe, »ist das
Eichmaß des gesellschaftlichen Fortschritts nicht
gewonnene Freiheit, sondern möglichst gleich ver
teilte Repression.«
Für die neuen Netzfeministinnen ist es wichti
ger, Alice Schwarzer anzugreifen als Publizistinnen
wie Birgit Kelle, die den Feminismus an sich für
Teufelszeug halten. Denn Schwarzer kritisiert An
gehörige von Minderheiten, speziell Muslime, und
sie spricht als Weiße. Anlass des erbitterten Streits
mit Schwarzer ist die verblüffende Milde des Netz
feminismus gegenüber der Frauen und Homo
sexuel len ver ach tung im islam und im globalen
Süden. So nannte Judith Butler, Galionsfigur der
GenderStudies, die Burka ein Symbol der Be
scheidenheit und des Stolzes. Die Trägerin si gna li
sie re, dass sie »nicht von der Massenkultur aus
gebeutet wird«. Als es um das Attentat auf den
Schwulenclub Pulse in Orlando durch den isla
misten Omar Mateen ging, fand die Autorin Hen
gameh Yaghoobifarah rasch den wahren Schuldi
gen: »Ein homo und transfeindlicher islam ist ein
kolonialistischer islam. Denn Homo und Trans
feindlichkeit sind Gewaltstrukturen, die von Kolo
nisierenden in die restliche Welt getragen und
manifestiert wurden.« Der Westen ist also schuld.
Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Ab
sichten. Aus Kämpfen zur Befreiung von Frauen,
Schwulen, Schwarzen sind Kämpfe gegeneinander
geworden. Aus Solidarität ein Krieg um die Deu
tungshoheit. Wenn man jemanden sucht, der im
Zentrum dieser Konflikte steht, dann ist das Patsy
l’Amour lalove, selbst ernannte »Polittunte« und Ge
schlechterforscherin. Patsy steht auf ihrem Balkon in
BerlinNeukölln in einem Fummel, in dem sie »auf
keinen Fall auf die Straße gehen würde: zu gefähr
lich«. Sie hat in ihrer Nachbarschaft alles erlebt: An
griffe von Muslimen, von »Weißen« und zuletzt sogar
aus ihrer eigenen queeren Szene. Denn mit ihrem
(bereits erwähnten) Buch Beißreflexe hat sie ins Wes
pennest des neuen Stammesdenkens gestochen. An
lass war eine Art Bußritual bei den Queeren Hoch
schultagen 2013: Junge leute schnitten sich ihre
Dread locks ab, ließen sich Tunnelohrringe entfernen,
wobei sie Selbstbezichtigungen abgaben: Als Weiße
hätten sie das nicht tun dürfen. »Nur Betroffene«, so
hieß es in einem Bekenntnis, »dürfen urteilen und
sprechen, ich darf nicht sprechen, und alles, was ich
sagte, war folglich nicht nur falsch, sondern auch
extrem verletzend.« Das Delikt lautet »kulturelle An
eignung«. Als hätte es je Jazz oder Kino ohne kulturel
le Aneignung gegeben.
Es ist das Freudlose, Glücksfeindliche des Stam
mesdenkens, das Patsy l’Amour lalove auf die Palme
bringt. Wenn Schwule heiraten, wird das als Hetero
normativität verteufelt. Als Beißreflexe herauskam,
drohten leute aus der Szene Patsy auf Twitter mit
Baseballschlägern. »in der Reaktion auf so was ist
man schnell dabei, nur noch abzulehnen und ins Re
aktionäre zu kippen«, sagt sie halb amüsiert, halb
bekümmert.
Wie wirkmächtig ist die identitätspolitik? Die
allermeisten Menschen kommen ja prima durchs
leben, ohne je von Critical White ness gehört zu
haben. Andererseits schwingt in der Parole von der
Diversität, die zu Recht in vielen institutionen und
unternehmen Einzug gehalten hat, auch immer ein
Hauch von Stammesdenken mit. Aus dem Kollegen
von gestern wird »der Weiße« von morgen. Weiß ist
aber der sozialdemokratische Vertriebenensohn und
die stockkonservative Hanseatin: Das Adjektiv verrät
nichts. und unter dem Rubrum People of Color
werden lebensläufe wie der des jungen Syrers, der zur
Elite seines landes zählt, mit dem des französischen
Vorstadtmädchens zum Grau in Grau der Benach
teiligung oder – wie es im antirassistischen Jargon
heißt – der »Kackscheiße« subsumiert. insgesamt wird
der Ton rauer. Bücher heißen jetzt Eure Heimat ist
unser Albtraum. Viele eint ein zentrales Argument:
unsere Eltern haben als Gastarbeiter für euch ge
schuftet. Wir haben uns integriert. Jetzt seid ihr dran!
Ein erstaunliches Postulat. ist nicht die eigene
Karriere, der Hochschulabschluss, der Job beim
Spiegel der lohn für die Eltern? Wandert man
nicht ebendeshalb aus: damit die Kinder es einmal
besser haben? in den 1960erJahren kamen doch
keine Sklaven! und warum schuldet die Gesell
schaft jemandem Dank dafür, dass er ein Studium
hinter sich gebracht und einen schönen Job bei
»irgendwas mit Medien« gelandet hat?
Die Autorin Ferda Ataman – Spiegel-Kolumnis
tin und Gründungsmitglied des Vereins Neue
deutsche Medienmacher – fordert, die Frage nach
der Herkunft ganz bleiben zu lassen, sie sei aus
grenzend. Ataman, die sich als Jugendliche dem
jüdischen HolocaustOpfer Anne Frank »supernah
gefühlt« hat, sagt, ihr Projekt sei es, »den Faschis
mus zu verhindern«. Horst Seehofers neues Hei
matministerium verglich Ataman mit »Blutund
Bodenideologie«. Als die AfD 2017 unter Parolen
wie »Wir holen uns unser land zurück« in den
Bundestag einzog, hat Ataman, so erzählt sie es,
dagesessen und geheult. Zur Vorstellung ihres Bu
ches Hört auf zu fragen. Ich bin von hier in Berlin
bat sie den GrünenParteichef Robert Habeck
hinzu. Für ihn – also einen, »der Mi gran ten mag«
(Ataman) – habe sie das Buch letztlich geschrie
ben, ein weiterer Beleg dafür, dass es für identitäts
politiker interessanter ist, »linke« zum Adressaten
ihrer Kritik zu machen. Kurz zuvor hatte Ataman
auf Einladung der Grünen deren Programm
entwurf aus ein an der ge nom men: Er lese sich wie
»das Programm einer weißen Partei«. Tosender Ap
plaus von der Parteibasis.
Es war also zu erwarten, dass Habeck sich bei
der Buchvorstellung kleinlaut einer erneuten Kri
tik am latenten Rassismus der Wohlmeinenden
fügen würde. Aber es kam anders. »Mich haben Sie
nicht in das Buch reingeholt, wenn da steht ›ihr‹
und ›wir‹.« Hartnäckig bestand Habeck auf seiner
Strategie, den Rechten nicht den Begriff »Heimat«
zu überlassen. Später sagt er, er habe nichts da
gegen, auf sein »Weißsein« aufmerksam gemacht
zu werden: »Es braucht ständige Erinnerung, sich
die eigenen blinden Flecken bewusst zu machen.
ich gebe mir Mühe.« Aber eine Quote nach ethni
schen Kriterien – da ist Habeck eben skeptisch. Er
will nicht, dass irgendwer »gruppenbezogen in
Haftung genommen wird«, also auch kein west
deutscher weißer Heterosexueller.
Dass die Grünen bei der identitätspolitik festes
Schuhwerk mitbringen, ist entscheidend: An ihnen
wird es sein, den potenziellen irrsinn der Debatte
einzufangen und zu kanalisieren. So wie Helmut
Kohl die Vertriebenen integrierte und versöhnte,
muss Habeck die Stammeskrieger zivilisieren. Er lässt
sich, unter anderem, von einer Metapher des Sozio
logen Aladin ElMafaalani leiten, der im CDu
regierten NordrheinWestfalen Abteilungsleiter für
integration ist. ElMafaalani vergleicht die deutsche
integrationsgeschichte mit einer Tischgesellschaft:
in den Sechzigerjahren saßen die Deutschen am
Tisch, und die »Gastarbeiter« trugen stumm das
Essen auf. Die nächste Generation der Zuwanderer
wollte mit am Tisch sitzen. Die heutige Generation
will bestimmen, was gekocht wird, und ist viel wü
tender als ihre Eltern, wenn ihr der Zutritt verweigert
wird. Gerade weil diese Generation aufgestiegen ist,
gibt es jetzt mehr Konflikte. Je besser es läuft, desto
häufiger knallt es: ElMafaalani nennt es »das inte
grationsparadox«. Niemand habe sich über das Kopf
tuch aufgeregt, solange es nur Putzfrauen trugen. Erst
seit es lehrerinnen oder Richterinnen tragen wollen,
sei es ein Thema.
250.000 leute nahmen im Namen des Antiras
sismus 2018 an der Demonstration #unteilbar teil,
bei der alle Fahnen erlaubt waren außer der deut
schen. »Solidarität statt Heimat« lautete die losung,
unter der in Hamburg 30.000 Menschen auf die
Straße gingen. Bei den Antirassisten kursieren für die
»Biodeutschen« abfällige Namen: »Kartoffel«, »so ’n
Johannes« oder »die Almans«. Für einen Weg aus dem
Stammesdenken sind das keine guten Vorausset
zungen. Eine Arbeitsteilung, nach der die einen
»Streitschriften schreiben und die anderen das kusche
lige Angebot machen« (Habeck), funktioniert nicht.
Wer am Tisch mitbestimmt, mitkocht und mitisst
- der hat dann auch den Abwasch. Da gibt es dann
kein »ihr« mehr und kein »Wir«.
Siehe auch Feuilleton, Seite 35: Alice Schwarzer über
den umgang mit islamismus in Deutschland
Dein Glück ist
mein Unglück
Der Kampf gegen Sexismus und Rassismus hat die Menschen
befreit. Doch jetzt fördert er bisweilen ein plumpes Stammesdenken
VON MARIAM LAU
Patsy l’Amour laLove,
Kritikerin autoritärer
Tendenzen im Feminismus
Sinn und Unsinn
von Verboten
Die ZEiTSerie:
- Klimaschutz:
Was hilft – und was nicht - Essen und Genuss:
Die Moral sitzt mit am Tisch - Denkverbote:
Wer darf wen kritisieren? - Feldversuch:
Wie ernst meinen es die
Städter mit der Ökologie?
Foto: Dominik Butzmann für DIE ZEIT