SEITE 6·MONTAG, 2.MÄRZ2020·NR.52 Die Gegenwart FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Z
um er sten Mal seit derVer-
abschiedung des Grundge-
setzes treten in Deutsch-
land ernsthafte Konflikte
auf, diereligiöse Gründe
haben–eine Herausforde-
rung für dieReichweiteder grundrechtli-
chen Gewährleistung derReligionsfrei-
heit wie auchder institutionellen Garan-
tie der Religionsgemeinschaften. Zwar
wurde auchfrüher über die Bedeutung
der im Grundgesetz gewährleis teten
Selbstverwaltungsgarantie derReligions-
gemeinschaftenoder über Schulfragenge-
stritten. Dochkonnte das Bundesverfas-
sungsgericht noch1975 in bestimmten Si-
tuationenvom„christlichen Charakter“
des Unterrichts sprechen, so hielt 28 Jah-
re später derselbe Senat angesichts „des
mit zunehmendergesellschaftlicher Plura-
lität verbundenengesellschaftlichen Wan-
dels“ eine „Neubestimmung des zulässi-
genMaßes religiöser Bezügeinder Schu-
le“ für erforderlich.
Zwischen beiden Entscheidungen lag
die sogenannte Kruzi fixentscheidung
aus dem Jahr1995, der rückblickend zu
Rechteinewegweisende Bedeutung für
das VerhältnisvonReligion undStaat in
Deutschland zugemessen wird. Siestellte
eineLeitentscheidung in einemzuneh-
mendmultikulturellen undmultireligiö-
sen Land dar,ind er Respektgegenüber
Anders- undNicht gläubigen eingefor-
dertwird.
Grundlegendwardie Feststellung, dass
in Deutschland als einer pluralistischen
Gesellschaftder „Grundsatzstaatlicher
Neutralitätgegenüber den unterschiedli-
chen Religionen undWeltanschauungen“
strikt zuwahren sei.Unddamit sei–so
der Kern der Entscheidung–die Anbrin-
gung vonKreuzen im Klassenzimmer
nicht vereinbar.
Kaum eine zweiteEntscheidung des
Bundesverfassungsgerichtshat so vielAb-
lehnung hervorgerufen. Denn auchwenn
dieser Beschlussnicht einem Damm-
bruc hgleichkam, wie vielfachbefürchtet
wurde, sostellt er einen erstenSchritt zu-
nehmender Laizisierung des öffentlichen
Lebens in Deutschland dar.Darunterver-
stehe ich, dassReligion undreligiöse Sym-
bole Schritt für Schritt aus bestimmen Be-
reichen desstaatlichen, möglicherweise
auchdes gesellschaftlichen Lebens zu-
rückgedrängt werden. Es besteht kein
Zweifel, dassdie zunehmende Präsenz
muslimischer Symbole insbesonderereli-
giös konnotierterBekleidunghierbei eine
besondereRolle spielt.
Die deutlichste Einschränkung der Prä-
senz religiöser Symbole lässtsichimstaat-
lichen Bereich beobachten.Amstärksten
trif ft das dieVerwendung eines Klei-
dungsstücks,das wiekein anderes in vie-
len westlichen Ländern auf entschiedene
Ablehnungstößt:des Gesichtsschleiers,
das heißtvonBurka oder Niqab.
In Deutschland istandersals in vielen
LändernWesteuropas eingenerellesVer-
botdes Tragens derVollverschleierung
trotzvielfacherForderungen bisher nicht
beschlossenworden. Stattdessen gibt es
eine Reihe vonpartiellenVerboten. So
hat der Deutsche BundestagimApril
2017 ein Gesetzverabschiedet, das allen
Beamten, Richternund Soldaten „b ei der
Ausübung ihres Dienstesoder bei einer
Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbe-
zug“ dieVerhüllung des Gesichtesverbie-
tet. Im August2017untersagteder nieder-
sächsische Gesetzgeber dieVollverschleie-
rung in den Schulen des Landes. In Bay-
ernwurden durch GesetzvomJuli 2017
für zahlreiche staatliche Bereiche wie
Schule,Kindergarten und HochschuleGe-
sichtsverhüllungsverb otenormiert. Seit
Oktober 2017 wurde schließlichauchin
die Straßenverkehrsordnung eine Vor-
schrif tüber dasVerboteiner Gesichtsver-
hüllung aufgenommen, dievomBundes-
verfassungsgericht inzwischen auchgebil-
ligtwurde. Undinzwischenwurde inPara-
graph 176 des Gerichtsverfassungsgeset-
zes einVerhüllungsverbotfür an derVer-
handlung Beteiligteeingefügt.
Allerdings lässtsicheinederartent-
schiedeneAblehnung nicht allein mit
dem Hinweis auf denreligiösen Gehalt
der Bekleidung begründen. Vielmehr
wirddie Verhüllung desGesichts als ein
Kulturbruchwahrgenommen, mit dem
sichdie Trägerinnen bewusst vonder sie
umgebenden Gesellschaftund deren
grundlegendenWerten derVerfassung
abgrenzen.
Weniger eindeutigstelltsichder Um-
gang mitdem muslimischenKopftu ch
(Hijab) in Deutschlanddar.Hier steht im
Mittelpunkt die Diskussi on über das
Kopftuc hvon Lehrerinneninder staatli-
chen Schule. In den beiden Leitentschei-
dungendes Bundesverfassungsgerichts
aus denJahren 2003 und 2015wurde un-
geacht et nicht unwesentlicher Unter-
schiede im Detail gemeinsamfestgestellt,
das Tragen einesKopftuchswerd eals reli-
giösesSymbol durch dasGrundrecht der
Religionsfreiheit geschützt. Grundsätz-
lichkönne eineLehrerin diesesSymbol
auchwährend desUnterrichts tragen,so-
lange nichtRechtsgüter auf der Ebene
der Verfassun geine Einschränkung recht-
fertigten.
Beide Entscheidungen stellen klar,
dassein Verbotreligiöser Symbole in der
Schulegetreu demstaatlichenNeutrali-
tätsgebotfür alle Symbole dieserKatego-
riegelten muss.Aber grundsätzlichsoll
die Schule einRaum bleiben, in demreli-
giöse undweltanschaulicheVorstellun-
genihren Platz haben. In der Schule spie-
gele sic hdie religiös-pluralistische Gesell-
schaf twider.Und Aufgabe der Schule ist
es –so sehen es die Richter –, den Schü-
lernund SchülerinnenToleranzgegen-
über anderen Religionen und Weltan-
schauungen zuvermitteln, „da die Schule
offenzusein hat fürchristliche, für musli-
mische und anderereligiöse undweltan-
schauliche Inhalteund Werte“. Ebenso
wirdinbeiden Entscheidungengesehen,
dassdies zuKonflikten führenkönne, de-
nen danngegebenenfalls auf Grund eines
Gesetzes unter Berücksichtigung des
Grundsatzes derVerhältnismäßigkeit zu
begegnen sei.
Allerdingsweistdas Urteil aus dem
Jahr 2003 auchineine andereRichtung:
Es weistzwecksKonfliktvermeidung den
Gesetzgeber auf die Möglichkeit hin, ein
höheres Maß anNeutralität in der Schule
durchzusetzen. Damitkönntenreligiöse
Symbole und damit auchdas muslimische
Kopftuc hgenerellverbotenwerden.Auf
diese Weise –soheißt es in der Entschei-
dung–könne „aufgewandeltegesell-
schaftlicheVerhältnisse und zunehmende
weltanschaulich-religiöseVielfalt in derSchule“reagiertwerden. Die Schule wür-
de damit zu einemRaum, in dem–wenn
man vomReligionsunterrichtabsieht–re-
ligiöseSymbole nicht mehr in Erschei-
nung träten. Hiervonabgesehen ähnelte
auchdie staatliche Schule in Deutschland
eher der französischen Schule, die seit
1886 laizisiertwurde. Dortkäme keine
Lehrerin auf den Gedanken, mit einem
Kopftuc hvor die Schüler zu treten. Ein
striktes Verbotreligiöser Symbole in der
Schule–hier ging es um Gebete muslimi-
scher Schüler–hat auchdas Bundesver-
waltungsgericht in einemUrteil 2011 für
zulässiggehalten. Es diene der Sicherung
des Schulfriedens, der durch religiös be-
gründete Aktivitätengestörtwar.Hier
wurde die Schulereligionsfrei.
Religionsfrei würden auchKindergar-
tenund Grundschule,wenn dort–wie es
seit einigerZeit gefordertwird–nach
österreichischemVorbild Mädchen das
Tragen einesKopftuchsverbotenwürde.
Hierfür mag es guteGründegeben, lässt
sichimIslam eineKopftuchpflicht für
Mädchenvorder Pubertätkaum religiös
begründen. Erfahrene Lehrer befürchten
zudem, dassdie Verhüllung diekörperli-
cheEntwicklung und die–wie es die
Schulgesetze vorsehen –Heranbildung
vonselbständig denkenden Bürgerinnen
erschwert. Dadurch würde die Schule im-
mer mehr dieFähigkeitverlieren, zur Er-
zeugung einergemeinsamen politischen
Kultur beizutragen, die JürgenHabermas
zur Entschärfung desKonfliktpotentials
unterschiedlicher Lebensformen für un-
entbehrlichhält.
Darüber hinausgehend gibt es bisher in
Deutschlandkeine ernsthaftenVersuche,
allen Schülerinnen–wie das inFrank-
reich seit 2004 derFall is t–das Tragen ei-
nes islamischen Kopftuchs zuverbieten.
Hier wäre die Religionsfreiheit derSchüle-
rinnen tatsächlich berührt. Ein Kopftuch-
verbotwäredeshalb –der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichtsfol-
gend –nur beimVorliegen einer Gefahr
zulässig.
Stößt eingenerellesVerbotvon religiö-
sen Symbolen in der Schule zuRechtauf
Skepsis, so gilt anderes in den Bereichen
staatlichen hoheitlichen Handelns, das
heißt inVerwaltun genund Gerichten. Be-
amteund Richter tretenals unmittelbare
Repräsentanten desStaates dem Bürger
hoheitlichgegenüber.Bei ihnengehen
die dissentierenden Richter im ersten
Kopftuchurteil voneiner selbstverständli-chen „allgemeinen Neutralitätspflicht“
aus. Bei dieser handele es sichumeine
distanzierende Neutralität des Staates,
die Ausdruc kder konfessionell neutralen
Ausges taltung der öffentlichen Ämter sei.
Die Distanzierung vonden religiösen Phä-
nomenen prägedie Neutralität–sos ieht
es auchder Staatskirchenrechtler Martin
Heckel–vorallem dort, „woder Staat als
Hoheitsträger sichaus denWahlen konsti-
tuiertund seine Hoheitsfunktionen der
rechtsstaatlichen Ordnungsverwaltung
und sozialstaatlichen Daseinsvorsorge
ohne Ansehung der Religion für alle
gleicherfüllt“.Der Staat is timBereic hur-
sprünglicher staatlicher Hoheitsfunktio-
nen „religionsneutral“ (Ernst-Wolfgang
Böckenförde). Es gilt hier der strikteGrundsatz derstaatlichen „Nicht-Identifi-
kation“ (HerbertKrüger).
Ungeacht et der sichaus dem Amt erge-
bendenVerpflichtungzur Neutralität hat
der hessische Gesetzgeber eine Bestim-
mung in das Beamtengesetz aufgenom-
men, der zufolgeBeamte–und parallel
dazu auchRichter–„Kleidungsstücke,
Symbole oder andereMerkmale nicht tra-
genoder verwenden (dürfen), die objek-
tiv geeignetsind, dasVertrauen in die
Neutralität der Amtsführung zu beein-
trächtigen oder den politischen,religiö-
sen oderweltanschaulichenFrieden zuge-
fährden“.Auch der baden-württembergi-
sche Landtag hat im Mai 2017 ein Gesetz
beschlossen, durch das religiöseund poli-
tische Symbole wieetwa ein Kopftuc hbei
richterli chen undstaatsanwaltlichenTä-
tigkeitenverbotensind.
In Hessen wurde jüngstdarübergestrit-
ten, ob einerRechtsreferendarin dasTra-
geneines Kopftuchs verbotenwerden
durfte. Nach widersprüchlichen Entschei-
dungen derVerwaltungsgerichtewies das
Bundesverfassungsgericht eine Verfas-
sungsbeschwerdegegendas Verbotinder
vergangenenWochezurück. Die Entschei-
dung des Gesetzgebersfür eine Pflicht,
sichimRechtsreferendariat in weltan-
schaulich-religiöserHinsicht neutral zu
verhalten, sei ausverfassungsrechtlicher
Sicht zurespektieren.A
ndersals für Gerichteund
staatliche Einrichtungen
gibt es in der Gesellschaft
kein GebotzustrikterNeu-
tralität.Eine Frau kann sich
deshalbgegenüber ihrem Arbeitgeber auf
das Grundrechtder Religionsfreiheit be-
rufen, wenn sie einreligiöskonnotiertes
Kopftuc htragen will. Solltedas Unterneh-
men dies derFrau verbietenoder diese
Frau garnicht erst einstellen, könntees
gegendas Allgemeine Gleichstellungsge-
setz vomAugust2006 verstoßen. Schon
vordem Inkraftt retendiesesGesetzeshat-
te das Bundesarbeitsgericht dieKündi-
gung einerKopftuc htragendenVerkäufe-
rinine inem Kaufhaus fürrechtswidriger-
klärt, da sichdiese auf das Grundrecht
der Religionsfreiheit berufenkönne.
Inzwischen hat sichauchder Europäi-
sche Gerichtshof in zwei Entscheidungen
der GroßenKammervomMärz2017 mit
der Fragebefas st,obdie Gleichbehand-
lungsrichtlinievom November 2000–de-renUmsetzung dasAGGdient –eserlau-
be, einer Mitarbeiterin dasTragen eines
Kopftuchs zuverbieten. Ohne auf Einzel-
heiten einzugehen: Im Ergebnis wurde
ein Verbotdann für zulässig erklärt,wenn
sichdieses aus einer internenRegeldes
privatenUnternehmens ergebe, die das
sichtbareTragenjedes politischen, philo-
sophischen oderreligiösenZeichens am
Arbeitsplatzverbiete.
Diese Entscheidungen markieren ei-
nen bedeutsamen Schritt: Die Geltung
des Prinzips der Laizität wirdüber den
staatlichenRaum hinaus, in dem es sei-
nen angestammten Platz hat, in die Ge-
sellschafterstreckt .Voraussetzung dafür
soll lediglicheine konsequenteinterne
Neutralitätsregel sein.Konsequent bedeu-tethier aber auch, dassdas Neutralitätsge-
botfür allereligiösen undweltanschauli-
chen Symbolegelten muss.
In diesemFall wir ddie Religionsfrei-
heit der Mitarbeiterinnen unverhältnis-
mäßig beschnitten. Überzeugender er-
scheint die Begründung des Bundesar-
beitsgerichts, das ein derartigesVerbot
nur dann für zulässig hält,wenn konkret
einebetrieblicheStörung oder wirtschaft-
liche Einbußenfestzustellen seien. Eine
Kammer des Ersten Senats des Bundes-
verfassungsgerichts istdieser Begrün-
dung ausdrücklichgefolgt .Ineinem Vorla-
gebeschlusszum EuGHvomJanuar 2019
hielt das Bundesarbeitsgericht jedochan
seinerAuffassungfest,der zufolgedie Re-
ligionsfreiheit bei derVerbotsentschei-
dung desUnt ernehmersstärkerzub erück-
sichtigen sei.
VonBurkaverbotenabgesehenexistie-
reninEuropakeine Verbote re ligiöser
Symbole in der Öffentlichkeit.Allerdings
befürworten –soder Religionsmonitor
2019 der Bertelsmann-Stiftung–40Pro-
zent der Deutschen einVerbotdes Tra-
gens religiöser Symbole in der Öffentlich-
keit und damit mehr als in anderen euro-
päischen Ländernwie der Schweiz oder
Großbritannien, aber weniger als in
Frankreich mit 57 Prozent.
Zusammenfassend lässt sichfesthal-
ten, dassreligiöskonnotierte Kleidungs-
stückeaus immer mehr Bereichen ausge-
schlossenwerden. Das gilt insbesondere
für die Gesichtsverhüllung, in zuneh-
mendemMaße aber auchfür das musli-
mischeKopftuch. Dadurch anges toßen
schrumpftder Raum für die Präsentation
religiöser Symbole erheblich. Die Laizität
ergreiftimmer mehr BereichevonStaat
und Gesellschaft.
Es magverwundern, dassvon Laizität
die Rede is tund verschiedentlichauf
Frankreichverwiesen wird. Schon das
Wort Laizitätstellt ja einen Importdar;
im Deutschen gibt es nichtsVergleichba-
res. Das Bundesverfassungsgericht
sprichtvoneiner „neu abgesteckten staat-
lichenNeutralitätspflicht“. Im bisherigen
Verständnis meintestaatlicheNeutrali-
tätspflicht einen undifferenziertenUm-
gang mitReligionsgemeinschaften, nicht
jedochden Ausschlussvon Religion aus
dem staatlichen Bereich. Demgegenüber
schließt die laïcité in Frankreichseit dem
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun-
derts die Kirche–gemeintwarseinerzeit
natürlichdie katholische Kirche–ausSchule undStaat strikt aus.Wenn zuneh-
mend jetzt auchinDeutschlandReligion
aus demStaat verbannt wird, so liegt es
nahe, auf die französischen Erfahrungen
mitsamt dem Begrif f„Laizität“ zurückzu-
greifen. Dafür spricht auch, dassdie Un-
terschiede imUmgang mitReligion zwi-
schenFrankreichund Deutschland mehr
und mehrverblassen und auchdie rechtli-
cheBewältigung zunehmendvon europäi-
schenRechtsvorschriftenüberformtwird.
Gerade angesichtsvergleichbarerHeraus-
forderungen nicht zuletzt durch das Ein-
dringen des Islams sieht der französische
ReligionssoziologePhilippePortier kon-
vergenteLösungen eines „Europas derRe-
ligionen“.Undganz ähnlichzählt der
französische HistorikerRené Rémond„den Laizismus zu denverbindenden Ele-
menten zwischen denPartnernder Euro-
päischenUnion“.
Mit dem Begriff der Laizität wirdein
bestimmtes religionsverfassungsrechtli-
ches Sy stem bezeichnet. Diesesversteht
manambesten, wenn man die ursprüngli-
cheFunktionvonLaizität inFrankreich
betrachtet.Diese besteht darin, dieUnab-
hängigkeit desStaates gegenüber denRe-
ligionsgemeinschaftenzusichern. An-
dersals hierzulande vielfachangenom-
men geht es bei der französischen laïcité
nicht um einenKampfgegen dieReligi-
on. Sie will nur–und auchdas nur mitge-
wissen Einschränkungen–die Religion
aus demstaatlichen Bereichverbannen,
stellt also einestrikter eTrennungvon
Staat undReligion dar,als das in Deutsch-
land nachder Ordnung des Grundgeset-
zes mit der „hinkendenTrennung“ der
Fall is t. Die laïcité und deren wichtigste
rechtli cheGrundlage, dasTrennungsge-
setz aus dem Jahr 1905, zielen auf die Her-
stellung und Sicherung eines friedlichen
Zusammenlebens–1905 in erster Linie
zwischen den Anhängernder katholi-
schen Kircheund den seinerzeitteilweise
militanten Liberalen undAtheisten.
Keine Kreuze in der Schule,keine Un-
terrichtungdurch Ordensangehörigeund
heutekein Kopftuc hinVerwaltungen,
Gerichten und auchSchulen:Eslässt
sichnicht bestreiten, dassdamitmögli-
chen Konflikten aus demWege gegangen
wird: Jetzt werden religiöse Symbole
auchzunehmend ausTeilender Gesell-
schaft, aus privatenUnternehmen, ja so-
garaus der Öffentlichkeit ausgeschlos-
sen. Damitaber wirddas Prinzip der Lai-
zität imKern verändert:Aus einem Ord-
nungsprinzip zwischenStaatund Religi-
on wirdeine gesellschaftliche Ideologie,
eine Weltanschauung nachArt einer réli-
gion civile.
Wiebei der „Erfindung“ des Prinzips
in Frankreichwirdjetzt auc hdie er weiter-
te Funktionder Laizität als ein Beitrag zu
einem friedlichenZusammenleben und
zu einer Entschärfung potentiellerKon-
fliktezwischen Mehrheitsgesellschaft
und Muslimengesehen. Sie mag zuneh-
mend aber aucheinen wichtigen Beitrag
zur Sicherung des „politisch-kulturellen
Selbstverständnisses“ des Gemeinwesens
leisten, das für den Erhalt derRespublica
unentbehrlichist.
Die ZurückdrängungreligiöserSymbo-
le aus der Öffentlichkeit mit dem Ziel ei-ner Reduzierung vonKonflikten wird
auchvom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechtehervorgehoben:„In ei-
ner demokratischen Gesellschaft“, so
heißt es in seiner Burka-Entscheidung
aus dem Jahre2014, „in der mehrereReli-
gionen innerhalb ein- und derselben Be-
völkerung nebeneinander bestehen, kann
es notwendig sein, dieFreiheit, seineReli-
gion oderWeltanschauung zu bekennen,
zu beschränken, um die Interessen der un-
terschiedlichen Gruppen zu versöhnen
und dieAchtung derÜberzeugung jeder
Person sicherzustellen.“
Diefriedensstiftende,integ rierende
Funktion desLaizitätsprinzipskann je-
dochzur selbenZeit au ch entgegenge-
setzt eWirkungen haben und diegesell-
schaftliche Spaltung vertiefen. Durch
den Ausschlussbestimmter religiöser
Symboleaus bestimmtenstaatlichenund
gesellschaftlichen Bereichen werden
zum BeispieldiejenigenFrauenausge-
schlossen, die aufdieseSymbolegleich-
wohl ni chtverzichtenwollen.Esgeht
also darum, sorgfältigimBlickzubehal-
ten, wann die friedensstiftendeWirkung
der Laizitätineine Vertiefung derSpal-
tungder Gesellschaftumschlägt.Trotz dieserWarnungen dürf-
tendie religiös geprägtenKon-
fliktezunehmen und damit
verbunden der Druckzur Zu-
rückdrängung muslimischer
Symbole.Verantwortlichhierfür istnicht
zuletzt das zunehmende Gewicht eines or-
thodoxenIslams, der zum einen durch die
osmanisch-orthodoxe Entwicklung der
Türkei, zum anderen durch die wachsen-
de Zahl vonMigranten aus patriarcha-
lisch-orthodoxenLändernAnhängerge-
winnt.Schließlichspielt das Eindringen
fundamentalistischer Gruppierungen wie
der Salafisteninmuslimische Gemeinden
eine Rolle. Religiöse Symbolewerden –
so sehen es Soziologen–geradevonjun-
genLeuten aus der dritten odergarvier-
tenEinwanderergenerationweniger zum
Verhüllen als vielmehr zumZeigen getra-
gen. Siewollen damit ihremuslimische
Identität betonen. Dazu mögen auchrea-
le oder empfundene Diskriminierungen
beitragen.
Die zunehmendeZurückdrängungvon
Religion inStaat und Gesellschafthat un-
terschiedliche, gegenläufigeUrsachen.
Aufder einen Seitewirdineinigengesell-
schaftlichen Gruppierungen einWieder-
aufleben derReligion inFragen der Mo-
ralund der Lebensweisen beobachtet.
Die „Rückkehr derReligion“–hier be-
schrieben bei den Muslimen in Deutsch-
land –lässt sich(so Jür genHabermas) als
ein Vorgang derPostsäkularisierungver-
stehen. Daraufreagiertdas Gemeinwe-
sen mit demAusschlussvon Religion–ei-
ner Laizisierung–immerweiterer Berei-
chedes Staates und der Gesellschaft.
Der Islam wird–so der französische Is-
lamwissenschaftler OlivierRoy–zu ei-
nem Beschleuniger derreligiösen Ent-
wicklung in Europa,vonder auchdie
christlichen Religionen nichtverschont
bleiben.Aber der Islamstellt nicht die ein-
zigeUrsache desZurückdrängens derReli-
gion dar.Dazu trägt auchder gleichzeitig
unvermindertfortschreitende Prozessder
Säkularisierungbei, de rsichinder abneh-
menden Prägung desgesellschaftlichen
Lebens durch christliche Selbstverständ-
nisse äußert. Der auchdurch Skandale be-
förderte dramatischeRückgang derZahl
der Kirchenmitgliederist dafür nur der äu-
ßereAusdruck.
Es is tauchdaran zu erinnern, dassdie
Klagegegen das Kruzifix im Klassenzim-
mer vonanthroposophischen Elternge-
führtwurde. Der Schutz desKarfreitags
vorTanzveranstaltungen wurde auf die
Klageeiner säkularenWeltanschauungs-
gemeinschafthin vomBundesverfas-
sungsgericht 2016 aufgeweicht .Diese Kla-
ge stellt nur die Spitze des Eisbergs zuneh-
mendenUnverständnisses über die Be-
schränkungvonFreizeitvergnügen durch
religiöseVorgaben dar.Mühsam wirddie
im Grundgesetzgewährleis tete Sonntags-
ruhe gegenkommerzielleAufweichungen
verteidigt.
Den wirkungsvollstenSchlag gegendie
anges tammteRolle der Kirchen hat je-
dochder Europäische Gerichtshof ge-
führt. Er hat in zwei aufsehenerregenden
EntscheidungenvomApril und Septem-
ber 2018 deutlichgemacht, dassauchdie
Kirchen unter demstaatlichen Gesetzste-
hen. Dassteht zwar in Artikel 137Absatz
3der WeimarerReichsverfassung. Doch
waresbislang den Kirchen überlassen zu
bestimmen,welche staatlichen Gesetze
mit ihrem Selbstverständniskompatibel
waren. Aufgrund der Entscheidung des
EuGHkonntedas Bundesarbeitsgericht
der Kündigungsschutzklageeines Düssel-
dorferChefarztes jetztstattgeben. Sein
Arbeitgeber–ein katholisches Kranken-
haus –hattegekündigt,weil dergeschie-
dene Katholik seine langjährigeLebens-
partneringeheiratet hatte.
Mag der Prozess der Laizisierung auch
unaufhaltsam sein, sogeht mit dem Pro-
zessdes Zurückdrän gens vonReligion
für die Gesellschaftgleichzeitig auch viel
verloren: die mäßigende, aufgeklärte und
den GemeinsinnförderndeStimme der
Religion in den Schulen,inden sozialen
Aktivitäten, in den Diskussionenüber
die Zivilität der Gesellschaft. All dies soll-
te dazu führen, über dieRolle vonReligi-
on in Staat und Gesellschaftneu nachzu-
denken.
Der Verfasser war Professorfür öf fentliches
Rechtund zwischen 2000 und 2008 Präsident
derJohann-Wolfgang-Goethe- UniversitätFrank-
furtamMain.Kamal Boullata,Light upon Light,1982, British
Museum, London–BrookeSewell Permanent
FundDer Islam trägt
mittlerweile erheblich
zur Veränderung der
Rolle vonReligion in
Deutschland bei:Aufdie
zunehmende Sichtbarkeit
muslimischer Symbole
reagiertdas
Gemeinwesen mit deren
Ausschlussaus immer
weiteren Bereichenvon
Staat und Gesellschaft.
Dochwas is tdamit
gewonnen?
VonProfessor Dr.
RudolfSteinberg