Die Welt - 22.02.2020

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22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,22.FEBRUAR2020 FORUM 3


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I


n Berlin-Mitte, im ehemaligen Ostteil der
Stadt, wo Stefan Liebich die zweite Brenn-
stufe seiner Karriere zündete, erblühte
schon bald nach der friedlichen Revolution
gegen das SED-Regime eine einzigartige
Mischkultur aus alten DDR-Freunden und
neugierigen West-Importen aus München,
Freiburg und Blankenese. Stefan Liebich kan-
didierte in Berlin-Mitte für die Linkspartei um
einen Sitz im Bundestag, danach in Pankow,
und er holte drei Mal hintereinander ein Di-
rektmandat. Im Auftreten war Liebich, der von
der FDJ über die Junge Linke bis zur PDS
einige Metamorphosen linker Identität in den
Wendejahren erlebte, früh ein Realo und ein
ernstes Gegenüber zu den vergurkten West-
Linken und DDR-Altkadern seiner Partei.
Früh entwickelte er in der Reformflügelei
seiner Partei ein besonnenes Gegengewicht
gegen die gerne zur Esoterik und Spinnerei
neigenden Flügel. Insbesondere in der Außen-

politik erwarb sich Liebich, auch Mitglied der
Deutsch-israelischen Gesellschaft und der
DGAP, über die eigene Homebase hinaus An-
erkennung und Respekt. In Sachen Außen-
politik war er ein Bollwerk der Vernunft.
Und nun schmeißt Liebich hin und kündigt
seinen Rückzug aus dem Bundestag an. Er will
künftig etwas anderes machen. Auch wenn das
dementiert wird: Die Entscheidung, einen
außenpolitischen Clown wie Andrej Hunko mit
seiner Liebe für Maduro, Putin und die Israel-
Bokotteure vom BDS zum Fraktionsvize zu
machen, kann man nicht von Liebichs Ab-
schied trennen.
Dieser kleine Abschied hat bundespoliti-
sches Gewicht. Eine mögliche grün-rot-rote
Koalition hat in der weitverbreiteten Orientie-
rungsschwäche der Linken in der Außenpolitik
ihr größtes Hindernis. Mit Hunko ist eine
solche Koalition unwahrscheinlicher gewor-
den. Mit Liebich wäre sie wahrscheinlicher
gewesen: Er wäre auch ein Kandidat etwa für
einen bürgerlichen Staatssekretär der Links-
partei gewesen. Das ist nun dahin, und dieser
Vorgang passt nicht zu den Ramelow-Übun-
gen, die weiterhin aktuelle Hufeisentheorie zu
dekonstruieren. Liebich wird fehlen.

Der vernünftige Linke


KOMMENTAR


ULF POSCHARDT

[email protected]

E


nde November 2019 tat der
CDU-Ortsverband Wetzlar
(Mittelhessen) etwas, das
konservative Parteien eher
selten machen: Er ging auf
die Straße. Für eine „Mahn-
wache gegen Linksanarchis-
mus“ nämlich. Was war der Anlass? Eine um-
geworfene Mülltonne im Schanzenviertel?
Eine Schmiererei an der Uni Marburg? Fast.
Es war ein Konzert der Rostocker Punkband
Feine Sahne Fischfilet in einem Wetzlarer
Club, das die örtliche CDU zum Handeln
bewegte.
An der Mahnwache beteiligte sich Presse-
berichten zufolgeauch ein Funktionär der
NPD, die in Wetzlar mit fünf Abgeordneten
im Stadtparlament vertreten ist und die Feine
Sahne Fischfilet schon deshalb nicht leiden
kann, weil die Band zu den wenigen gehört,
die sich in den vom Rest der Republik weit-
gehend verlassenen Landstrichen Mecklen-
burg-Vorpommerns der kulturellen Hegemo-
nie der Rechtsextremisten entgegenstellen.
Weil es auf eine groteske Weise bezeich-
nend ist, noch einmal: Ein halbes Jahr nach
dem Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke
im nordhessischen Wolfhagen, vier Monate
nach dem rassistischen Mordversuch im ost-
hessischen Wächtersbachund sieben Wochen
nach dem antisemitisch und ausländerfeind-
lich motivierten Terroranschlag in Halle
(Sachsen-Anhalt) macht die CDU in einer
gutbürgerlichen Kleinstadt was? Sie demons-
triert mit der NPD gegen eine linke Punk-
band.
Nach dem rechtsextremen Terroranschlag
von Hanau diese Provinzposse zu erwähnen,
ist auch deshalb aufschlussreich, weil sie
zeigt, wie es um das zur bürgerlichen Selbst-
vergewisserung gerne angestimmte Credo,
wonach jede Form des Extremismus gleicher-
maßen zu verurteilen sei, in der Praxis zu-
weilen bestellt ist: geht so – um es freundlich
zu formulieren. Auch in Dresden brauchten
CDU und FDP ganze fünf Jahre, ehe sie jetzt
erstmals zu einem Protest gegen die „Pegi-
da“-Aufmärsche aufriefen.
Andernorts mag diese Abgrenzung besser
funktionieren. Doch diese Formel „gegen
linke und rechte Gewalt“ ist selbst ein Pro-
blem. Denn sie klingt vielleicht so schön ver-
nünftig und mittig, ist für das Deutschland
der Gegenwart aber Unsinn.
Nein, die Taten der Roten Armee Fraktion,
die einige ihrer grausamsten Verbrechen –
darunter die Morde an Jürgen Ponto 1977 in
Frankfurt, Edward Pimental 1985 in Wiesba-
den und Alfred Herrhausen 1989 in Bad
Homburg – ebenfalls in Hessen begangen
hat, sind nicht vergessen. Und ja, es gibt
auch heute noch linke Gewalt, zuletzt etwa
in Gestalt der verachtenswerten und hirnris-
sigen Übergriffe auf Politiker und Einrich-
tungen der FDP.
Doch nach über 200 Menschen, die seit der
Wende Neonazis zum Opfer fielen, nach der
Häufung tödlicher rechtsextremer Anschläge
in den vergangenen Monaten und dem Auf-
fliegen bewaffneter rechtsextremer Gruppen
bedeutet die Formel „gegen linke und rechte
Gewalt“ eine Bagatellisierung des Rechts-
terrorismus. Nicht, dass diese Formel grund-
sätzlich, theoretisch oder historisch falsch
wäre. Sie verkennt nur die reale Situation im
Deutschland der Gegenwart – und hat Folgen,
wenn es um die Verteilung der staatlichen
Ressourcen und Gelder und der gesellschaftli-
chen Aufmerksamkeit geht.

Das scheint nun auch Horst Seehofer er-
kannt zu haben: Der Rechtsextremismus sei
„die größte Gefahr für die Demokratie in der
Bundesrepublik“, sagte der Bundesinnen-
minister am Freitag. Potzblitz, darauf musste
man erst mal kommen.
Allerdings ist es nicht so, dass die Behör-
den seit ihrem fulminanten Versagen bei der
Mordserie des NSU bis zu den Morden von
Hanau gar nichts hinzugelernt hätten. Das
zeigt die rechtsextreme Terrorzelle um Wer-
ner S.(„Der harte Kern“), die vor wenigen
Tagen aufgeflogen war. Geführt wurden diese
Ermittlungen von der Bundesanwaltschaft,
die die rechtsterroristische Gefahr schon
länger erkannt hat, und dem Landeskriminal-
amt Baden-Württemberg. Auch das Bundes-
amt für Verfassungsschutz macht sich wohl,
seit die Behörde nicht mehr vom Verdachts-
fall M. geführt wird, bei der Bekämpfung des
Rechtsextremismus nützlich – Beobachter
sprechen von einem „Unterschied zwischen
Tag und Nacht“.
Doch als hinreichend kann man diese Be-
mühungen noch nicht bezeichnen. Die Aus-
maße des „Hannibal“-Netzwerks etwa, in dem
sich vor allem Bundeswehrsoldaten und Poli-
zisten zusammengeschlossen hatten, wurden
nicht von den Sicherheitsbehörden aufge-
deckt, sondern durch Recherchen von Journa-
listen. Und beim rechtsextremen Bundes-
wehrsoldaten Franco A., einem Mitglied des
„Hannibal“-Netzwerks, der Anschläge auf
Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft
geplant und sich Waffen besorgt hatte, muss-
te sich Generalbundesanwalt Peter Frank den
Fall erst vor dem Bundesgerichtshof erstrei-
ten, um Anklage wegen Terrorismus zu erhe-
ben. Einen solchen Verdacht hatte das Ober-
landesgericht Frankfurt nämlich nicht er-
kennen wollen, da der Mann „noch nicht fest
entschlossen“ zu einer solchen Tat gewesen
sei. Ein Staat, der die rechtsterroristische
Bedrohung ernst nimmt, klingt anders.

Neben der Verhinderung künftiger Terr-
ortaten aber steht ein weiteres Problem im
Raum: Das Versprechen, das Bundeskanzlerin
Angela Merkel fast auf den Tag genau vor acht
Jahrenbei der Trauerfeier für die NSU-Opfer
gab: „Alles zu tun“, um die Hintergründe der
NSU-Morde aufzuklären. Dieses Versprechen,
das Mindeste, das die politisch Verantwort-
lichen für die Angehörigen tun konnten, wur-
de bis heute nicht eingelöst.
So wurde aus dem NSU insbesondere für
die in Deutschland lebenden Menschen türki-
scher Herkunft zu einem zweifachen Trauma:
Dem Versagen der Behörden und den jahre-
langen Verdächtigungen der Opfer folgte das
zweite Trauma der mangelnden Aufklärung.
Dass sich der autoritäre türkische Staats-
präsident Recep Tayyip Erdogan unter den
Deutschtürken einer solchen Beliebtheit er-
freut, hat auch – auch – mit diesen Erfahrun-
gen zu tun.
Neben der Frage nach Mittätern und Kom-
plizen ist die Rolle des Verfassungsschutzes
weiterhin ungeklärt, angefangen mit der Fra-
ge, was der hessische Verfassungsschützer
Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat
in dessen Internetcafé im April 2006 im nord-
hessischen Kassel zu suchen hatte. Nicht von
ungefähr hat sich der hessische Verfassungs-
schutz das Attribut gefährlichste Behörde
Deutschlandserworben. Und dass die Lan-
desregierung die NSU-Akten auf fantastische
120 (inzwischen: 90) Jahre gesperrt hat, bleibt
ein ungeheurer Skandal. Und die hessischen
Grünen müssen sich vorwerfen lassen, um
den Preis der Regierungsbeteiligung an dieser
Vertuschung mitgewirkt zu haben. Diese
Akten müssen offengelegt werden – auch
wenn man vermuten muss, dass besonders
belastendes Material längst vernichtet ist.
Eine ähnliche Baustelle, die nach kurzer
öffentlicher Aufmerksamkeit wieder in Ver-
gessenheit zu geraten droht, ist der Anschlag
auf das Münchener Oktoberfest, dem zwölf
Menschen zum Opfer fielen der sich im Sep-
tember zum 40. Mal jähren wird. Damals
hatten die Behörden alles Erdenkliche getan,
um die These vom rechtsextremen Einzel-
täter zu stützen. Ende 2014 ordnete der Ge-
neralbundesanwalt eine Wiederaufnahme der
Ermittlungen an. Doch diese drohen, im San-
de zu verlaufen.
Doch auch eine verbesserte polizeiliche
und nachrichtendienstliche Beobachtung –
die aus guten Gründen auch rechtsextreme
Umtriebe innerhalb der Sicherheitsbehörden
ins Auge fassen muss – wird Personen nicht
immer rechtzeitig erkennen können, die sich
allein im Internet radikalisieren, ohne in den
entsprechenden Kreisen zu verkehren, und
bei denen eine pathologische Disposition und
eine ideologische Aufladung ein gefährliches
Amalgam eingehen.
Ähnlich war der Fall des Attentäters David
S. gelagert, der im Juli 2016 in München neun
Menschen ermordete und dessen Mordtat
trotz frühzeitiger Hinweise erst kürzlich, drei
Jahre danach, von den bayerischen Behörden
als rechtsextremes Attentat eingestufrechtsextremes Attentat eingestufrechtsextremes Attentat eingestuft wurde.t wurde.
Und tendenziell auch im Fall von Arid U., der
im März 2011 auf dem Frankfurter Flughafen
zwei Menschen ermordete und den ersten
islamistischen Anschlag mit Todesopfern
beging.
Doch selbst psychisch gestörte Figuren, die
sich radikalisieren und ihre Taten vorberei-
ten, agieren nicht völlig losgelöst von einem
politisch-ideologischen Umfeld. Das gilt für
islamistische Terroristen, und das gilt selbst-
verständlich auch für rechtsextreme Terroris-
ten. Die Internetseiten, an denen sie sich
orientieren, haben Verfasser; die Diskurse,
durch die sie sich radikalisieren, werden von
Leuten geführt. Und sie wähnen sich in einem
gesellschaftlichen Umfeld, das ihre Taten
früher oder später würdigen werde. „Men-
schen kommen und gehen. Das, was bleibt, ist
das Volk“, schreibt Tobias R. am Ende seines
teils wirren, teils rechtsextremen Traktats.
Und diese Gesinnung tritt eben nicht nur in
bewaffneter Form in Erscheinung. Sie hat
Konjunktur.
[email protected]

Doppeltes


Trauma


Die Formel „gegen


linke und rechte


Gewalt“ ist ein


Problem. Sie klingt


zwar vernünftig


und mittig, ist


angesichts der


Lage in Deutschland


aber Unsinn


Die Mörder wähnen sich in


einem gesellschaftlichen


Umfeld, das ihre Taten früher


oder später würdigen werde


LEITARTIKEL


ǑǑ


DENIZ YÜCEL

D


onnerstag, 18 Uhr, Brandenburger Tor,
Nieselregen. Der Generalsekretär der
SPD, Lars Klingbeil, hat zu einer Trau-
erveranstaltung nach dem rechtsterroristi-
schen Anschlag in Hanau aufgerufen. Alle de-
mokratischen Parteien schließen sich sofort
an. Wieder einmal Gedenken an Opfer von
rechtsterroristischer Gewalt. Wie oft stand ich
in den letzten Jahrzehnten am Brandenburger
Tor und auch an anderen Orten in Deutsch-
land, weil rassistische, antisemitische, rechts-
extremistische Gewalt zugeschlagen hat und
Menschen ermordet wurden? Wie oft habe ich
gehört, „wehret den Anfängen“ oder „nie wie-
der“ oder „wir sind beschämt“ oder „spätes-
tens jetzt muss etwas geschehen“? Anschei-
nend geschah nicht genug.
In wenigen Minuten versammeln sich An-
nalena Baerbock, Claudia Roth, Katrin Göring-
Eckardt, Saskia Esken, Paul Ziemiak, Norbert
Röttgen, Linda Teuteberg, Christian Lindner.
Vertreter der muslimischen Organisationen
reihen sich ein. Wir reichen uns Kerzen, die
wir im Gedenken an die Toten und Verletzten
anzünden. Um uns herum kommen immer
mehr Menschen zum Brandenburger Tor. Es
ist fast still, man spricht leise. Man einigt sich,
keine Reden zu halten. Viele Fragen stehen im
Raum. Wie konnte es so weit kommen? Warum
haben die Verantwortlichen in der Politik nicht
schon seit Jahrzehnten ausreichend reagiert?
Sind Teile der Justiz auf dem rechten Auge
blind? Rechtsextremismus und Rechtsterroris-
mus sind kein neues Phänomen. Es begleitet
die Bundesrepublik Deutschland vom ersten
Tag an. Wo war, wo ist die Polizei, die Staats-
anwaltschaft, wo sind die Gerichte? Also der
„wehrhafte Staat“, der in Sonntagsreden im-
mer wieder beschworen wird, wenn es um
geistige und tatsächliche Brandstiftung aus
dem rechtsextremistischen Milieu ging und
geht? Wie schafft man politische Orientierung?
Dass der Rechtsextremismus die Zerstörung
der Demokratie, der Freiheit, des Pluralismus,
einer liberalen offenen Gesellschaft bedeutet.
Mir geht der Gedanke durch den Kopf, ob
das Problem einerseits zwar unstreitig die
Enthemmung, die Salonfähigkeit des Rechts-
extremen ist, aber andererseits auch die Iden-
titätsschwäche, das Zweifeln, das Sich-nicht-
sicher-Sein derjenigen, die sich als Demokra-
ten bekennen, aber nicht so genau wissen, was
sie darunter verstehen, und auch nicht ent-
sprechend mit Vernunft und Leidenschaft
Anwälte und Multiplikatoren dieser Demokra-
tie sind. Und natürlich geht mir auch durch
den Kopf, dass eine Partei des Hasses, der
geistigen Brandstiftung, des Völkischen die
größte Oppositionspartei im Bundestag ist.
Dass Millionen von Menschen diese Partei,
wissend, wofür sie steht, in allen Landtagen
mittlerweile wiedergewählt haben. Ich stelle
mir die Frage, ob dieses Jahrzehnt nicht das
Jahrzehnt der Verhandlung sein wird, ob und

wie auch meine Kinder in diesem Land leben
werden. Mehr Demokratie oder Abbau von
Demokratie?
Wenn ich an die Opfer von Hanau denke,
bin ich traurig. Diese Traurigkeit ist auch bei
den Menschen am Brandenburger Tor mit
Händen zu fassen. Ich bin aber auch verunsi-
chert und skeptisch angesichts der scheinba-
ren Hilflosigkeit dieser Gesellschaft und ihrer
mangelnden Reaktionsfähigkeit. Aber ich bin
auch ganz persönlich besorgt, ob und wie jü-
disches Leben sich mit all diesem Hass und
der Gewalt entwickeln wird. Jüdische Kinder
wachsen seit Jahrzehnten mit Polizeischutz in
Kindergärten, Jugendzentren und Schulen auf.
Mittlerweile erleben sie aber auch im Alltag, in
Vereinen, auf der Straße und in den Medien
immer wieder die hässliche Fratze der Juden-
hasser. Nichts Neues in Deutschland! Antise-
mitismus ist ein strukturelles Problem. War es
schon immer. Aber noch nie so hemmungs-
und gnadenlos, so selbstverständlich.
Rassismus und Hass auf die Demokratie
sind Alltag in Deutschland. Alle Führungs-
kräfte der deutschen Politik, die sich hier ver-
sammelt haben, wissen davon. Lange schon.
Zu lange schon. Zu wenig haben sie gemacht.
Zu wenig haben sie darüber nachgedacht, wie
gefährlich, wie gegenwärtig, wie gewalttätig
diese Bedrohung ist. Es gibt Netzwerke, es gibt
Strukturen, es gibt Geldgeber (auch im Aus-
land), und es gibt viele Sympathisanten, die
diese Gesellschaft zerstören wollen. Es sind
keine Einzelfälle, es sind keine psychisch Kran-
ken, es sind keine Zufallstäter, und selbst
wenn, bewegen sie sich auf einem gefestigten
Fundament des Hasses. Warum nicht dieselbe
Radikalität des Staates wie bei der Bekämp-
fung der linksextremen Rote-Armee-Fraktion,
frage ich mich, während wir gemeinsam trau-
ern. Thüringen hat gezeigt, wie dünn der Bo-
den sein kann, auf dem wir stehen, wenn de-
mokratische Parteien die Dramatik und den
Ernst der Situation nicht verstehen (wollen).
Mit der Demokratie spielt man nicht. Auf
die an diesem Abend immer wieder gestellte
Frage „Was tun?“ will ich herausschreien: „Et-
was tun!“, „Mehr tun!“, „Den Rechtsstaat stär-
ken!“, „Die politische Debatte in der Sache
deutlicher und klarer durchführen!“, „Die
Zivilisiertheit des Umgangs miteinander wie-
derherstellen!“, „Das Internet regulieren!“ Es
gibt keinen rechtsfreien Raum in der Demo-
kratie, auch nicht im Netz. Hass, verbal und
körperlich, das sind keine Kavaliersdelikte. Es
sind Straftaten. Wir alle tragen Verantwor-
tung. Sage keiner, er habe es nicht gewusst,
glaube keiner, er könne seine Hände in Un-
schuld waschen. Ich muss an meine Eltern
denken. Wie ich als kleiner Junge mit ihnen
als staatenloser Flüchtling nach Deutschland
gekommen bin. In ein Land, in dem die meis-
ten Menschen Mitläufer, Verstrickte und aktive
Straftäter waren. Wir hatten die Hoffnung,
dass die neue junge Generation aus der Ge-
schichte gelernt haben würde. Viele haben es.
Aber viel zu viele haben es nicht.

TDer Autor ist Jurist, Publizist und
Fernsehmoderator. Von 1994 bis 1996
gehörte er dem CDU-Bundesvorstand an.

Wir müssen noch mehr tun


GASTKOMMENTAR


MICHEL FRIEDMAN

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