Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
FOTO: JENS KALAENE/DPA

E


s ist eigentlich so einfach,
Rassismus zu verstehen. Alle
hören dieselben Worte. Den-
noch macht es einen großen Un-
terschied, wer zuhört – oder an-
ders gesagt: ob jemand von der Botschaft
betroffen ist oder nicht. Wer nicht direkt
angesprochen ist, muss die Botschaft ent-
schlüsseln, er muss das Gesagte richtig
einschätzen. Bei rassistischer Hetze ha-
ben sich viele Menschen viel zu lange
nicht die Mühe gemacht, dies zu tun und
die möglichen Folgen in Betracht zu zie-
hen. Andere rollen mit den Augen, winken
ab, verharmlosen. Weil sie
es sich leisten können.
Doch wer gemeint ist,
hört die Zwischentöne,
verharmlost nicht, zieht
die Botschaft nicht ins Lä-
cherliche, sondern denkt
an die möglichen Konse-
quenzen des Gesagten.
Wer gemeint ist, hört
nicht weg. Menschen, die
es erlebt haben, Rassis-
mus ausgesetzt zu sein,
denken an Eltern, Ge-
schwister, Freunde, die
zum Gebet in die Moschee
gehen – oder abends auf
einen Tee in die Shisha-
Bar. Und die vielleicht
nicht mehr wiederkom-
men. Wie in Hanau.
Die zehn Opfer sind
zehn Menschen mit unter-
schiedlichen Talenten
und Geschichten. Doch
neun von ihnen hatten ei-
nes gemeinsam: den Mi-
grationshintergrund. Jene Migration, die
Innenminister Horst Seehofer 2018 als
„Mutter aller Probleme“ bezeichnete; und
über die der frühere Verfassungsschutz-
chef Hans-Georg Maaßen sagte: „Ich bin
vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten,
damit heute 1,8 Millionen Araber nach
Deutschland kommen.“ Diese Menschen
waren und sind für die Sicherheit von Min-
derheiten in Deutschland verantwortlich.
Der rechte Terror von Hanau ist für
Menschen mit Migrationsgeschichte kei-
ne Überraschung. Er ist das Gegenteil. Er
ist eine Saat, die aufging. Die AfD hat den
Diskurs um Migration und Islam radikali-
siert, aber nicht begonnen. Sie hat zugese-
hen, wie diese Saat gedeiht. Sie hat die
braune Erde, in der sie keimt, gedüngt
und weitere Samen ausgebracht. Doch
seit Jahrzehnten führen Politiker aller Par-


teien und viele Medien in Deutschland die
immer gleichen Debatten: Sind wir ein
Einwanderungsland? Gehört der Islam zu
Deutschland? Das sind keine ergebnisoffe-
nen Fragen, die man stellt, weil man sie in
einer freien Gesellschaft eben stellen darf
und weil man Interesse an einer frucht-
baren Diskussion auf Augenhöhe hat. Das
sind Fragen, die spalten und ausgrenzen –
die Gräben aufreißen, die sich schwer wie-
der schließen lassen. Das sind Fragen, die
Antworten vorwegnehmen.
Diese Debatte hatte immer dieselbe
Grundannahme: die Vorstellung von Mi-
granten und Muslimen als
vermeintlich homogene
Gruppe. Ohne Individuali-
tät. Stattdessen als „Frem-
de“ markiert. Und so spre-
chen Politiker und einige
Medien erneut mit ent-
larvender Gedankenlosig-
keit von „fremdenfeindli-
chen Motiven“ des rech-
ten Terroristen in Hanau.
Damit verkennen sie die
Realität – und überneh-
men das rechte Narrativ.
Menschen mit Migrations-
geschichte gehören längst
dazu,siegehören zur Mit-
te der Gesellschaft und
werden von dieser doch in-
frage gestellt. Sie werden
entfremdet – und fühlen
sich zunehmend fremd
im eigenen Land.
Rechte Täter setzen ver-
bale Gewalt in reale Ge-
walt um. Sie sehen sich als
Problemlöser. Der Terro-
rist von Hanau sprach von einer Halbie-
rung der Bevölkerungszahl, er schrieb:
„Es muss getan werden.“ Das sind keine
isolierten Fantasien, sondern längst
konkrete Forderungen. Dieses Narrativ
stammt aus rechtsextremen Kreisen. Es
kommt nicht aus dem Nichts.
Viele Politiker waren zu lange beschäf-
tigt, den rechten Rand einzubinden. Die
AfD trieb sie vor sich her. Dabei übersehen
Politiker der bürgerlichen Mitte ihre Ver-
antwortung für Minderheiten. Menschen,
die anders aussehen und heißen, eine an-
dere Religion haben, sind die wirklich be-
sorgten Bürger – nicht diejenigen, die
menschenfeindliche Parteien wählen.
AfD-Wähler verdienen spätestens nach
Halle und Hanau kein Verständnis mehr.
Und ihre Partei keine schleichende Norma-
lisierung in den Parlamenten.

Zum fünften Mal ist der Filmemacher
Christian Petzold nun mit einem Film im
Wettbewerb der Berlinale vertreten;
kaum ein anderer deutscher Regisseur
wird mit seinen Arbeiten so zuverlässig
zu großen Festivals eingeladen. „Undine“
heißt der neue Film, der am Sonntag Pre-
miere hat. Petzold hat eine germanische
Sage verwendet: Das Wasserwesen Undi-
ne muss ins Wasser zurück, weil ihr Ge-
liebter sie verlassen hat.
Auch die Undine im Film ist verlassen
worden wie die Undine in der Sage; an-
ders als diese verliebt sie sich aber von
Neuem. Sie ist Historikerin, Museumsfüh-
rerin, eine Berlin-Expertin, die anderen
erzählt, welche Wasserwege unter Berlin
verlaufen und wo die Sumpfgebiete lie-
gen. Es geht also um Menschen vor
Sumpflandschaft, könnte man sagen. Im
Deutschlandfunk erzählte Petzold, wie er
den alten Stoff aufbereitet hat – Undine
wehrt sich gegen ihr Schicksal, „weil in
den Märchen doch meistens die Mädchen
und die Frauen die Opfer sind“.
Petzold hat eine sehr eigene Art des
Erzählens – es gehört zu seinen Marken-
zeichen, dass er Versatzstücke alter Filme
durchschimmern lässt, er liebt Hitchcock
und das alte Hollywood. Und seine Filme
haben immer mehrere Ebenen, sie sind
Liebesgeschichten oder Krimis; wer ge-
nau hinschaut, kann in ihnen noch tiefere
Schichten entdecken. Petzold ist ein Fami-
lienmensch, auch bei der Arbeit: Er hat
sich ein richtiges Ensemble aufgebaut –
mit Paula Beer und Franz Rogowski, den
Hauptdarstellern in „Undine“, drehte er
auch schon seinen vorherigen Kinofilm
„Transit“.
Petzold, 1960 geboren, ist Absolvent
der Deutschen Film- und Fernsehakade-

mie Berlin, nach dem Studium blieb er
dort hängen – er betont gern, dass er sei-
nen Wehrersatzdienst da schon abgeleis-
tet hatte. Er ist Mitbegründer einer eige-
nen Stilrichtung des deutschen Films, der
Berliner Schule. Das sind Filme, die an der
Oberfläche, in alltäglichen Bildern und
Zeitabläufen, fast dokumentarisch wir-
ken. Gerade bei Petzold darf man diesen
Bildern aber nie trauen – es vermengen
sich bei ihm oft Realitätsebene und Fanta-
sie, er bildet das Unterbewusstsein seiner
Figuren ab und findet so manchmal das
Unterbewusstsein einer ganzen Gesell-
schaft. Es ist durchaus passend, dass

Petzold nun „Undine“ als eine Art Mär-
chenfilm gedreht hat.
Mit seinen Filmen betreibt Petzold
Traum- und Traumaforschung – als einer
der wichtigsten Filmemacher Deutsch-
lands gilt er vor allem deswegen, weil all
seine Filme bei näherer Betrachtung zu-
tiefst politisch sind und davon handeln,
wie alles, was in Deutschland geschieht,
ein Produkt der eigenen Geschichte ist:
des Nationalsozialismus in „Phoenix“
(2014), des Linksterrorismus in „Die inne-
re Sicherheit“ (2000), der DDR in „Barba-
ra“ (2012). Wer sich vorwärtsbewegen
will, findet Petzold, muss genau wissen,
was hinter ihm liegt. Zur Orientierung
braucht man Geschichtsbewusstsein, im
Kino wie im richtigen Leben.
Cineasten nennen Petzolds Filme ger-
ne „Phantomfilme“. Das soll heißen, dass
seinen Figuren meist auf unterschiedli-
che Art die Existenz genommen wurde,
sie sind Gespenster. „Yella“ (2007), ge-
spielt von Nina Hoss, erträumt sich im Au-
genblick des Sterbens, eine andere Ab-
zweigung im Leben genommen zu haben


  • das ist dann der Film, den die Zuschauer
    sehen. Die Menschen in „Transit“ (2018)
    befinden sich in einer anderen Art von
    Zwischenreich; auf der Flucht vor dem Na-
    tionalsozialismus warten sie in Marseille
    auf die Ausreise nach Amerika. „Transit“
    basiert auf dem Roman, den Anna Se-
    ghers 1941 im Exil geschrieben hat. Pet-
    zold verlegte die Handlung unverändert
    ins Jetzt, mit einem erschreckenden Ef-
    fekt: Flucht und Vertreibung, die Angst
    vor dem näher rückenden Faschismus
    fügen sich hier nahtlos in die Gegenwart.
    Wenn wir uns nicht weiterentwickelt
    haben, hat er einmal gesagt, sind wir alle
    Gespenster. susan vahabzadeh


von jan heidtmann

D


en besten Ruf hat Elon Musk
nicht. Der Chef des amerikani-
schen Autobauers Tesla gilt als
recht rabiat, als einer, der mit Wucht
durchsetzt, was er will. Nun will er in
Brandenburg die vierte Gigafabrik seines
Unternehmens bauen. Das Grundstück
dafür ist mit Kiefern bepflanzt, und steht
man dort, sieht es so aus, als habe Musk
persönlich Hand angelegt: Es ist verwüs-
tetes Land, noch ein paar dürre Baum-
gruppen sind geblieben, in wenigen Ta-
gen werden die Bauarbeiter hier Wald im
Umfang von 130 Fußballfeldern gerodet
haben. Das Oberverwaltungsgericht
Brandenburg hat nun entschieden, dass
Tesla damit weitermachen darf. Es ist ein
gutes Urteil – trotz aller Zerstörung. Be-
fremdlich waren dafür die Aussagen eini-
ger Grüner und der Industrielobby, die
die Urteilsfindung begleiteten.
In der Sprache sich locker gebender Be-
triebswirte gehört Tesla derzeit zu den
heißesten Unternehmen weltweit. Die
Amerikaner sind einer der Technologie-
führer beim Bau von Elektroautos, die An-
siedlung ist nicht nur für Brandenburg,
sondern für ganz Deutschland längst
zum Prestigeprojekt geworden. Dazu
kommen die ganz praktischen Auswir-
kungen: 500 000 Fahrzeuge im Jahr sol-
len in der Gemeinde Grünheide einmal
produziert werden, 12 000 Menschen will
das Unternehmen dafür Arbeit geben. Zu-
lieferer müssen noch hinzugerechnet
werden, auch die Auswirkungen auf die
Gemeinde. Mehr Menschen, die Steuern
zahlen, einkaufen und ihre Kinder auf
Schulen schicken.
Die Landesregierung in Potsdam hat
deshalb für die Ansiedlung eigens die
„Tesla-Taskforce“ gegründet. Sie soll
dem Unternehmen möglich machen, was
in Deutschland unmöglich erscheint: Bau-

beginn noch in diesem Frühjahr, Produk-
tionsbeginn kaum 15 Monate später. Um-
weltschutzfragen, die bei vielen anderen
Projekten längst zum Aus geführt hätten,
wurden handhabbar gemacht. So ver-
braucht die Tesla-Produktion voraus-
sichtlich so viel Wasser wie die ganze
Stadt Brandenburg, und das in einer Ge-
gend mit vielen Schutzgebieten; weil die
Baugenehmigung für Tesla frühestens
im Sommer da sein wird, hat das Unter-
nehmen schon jetzt eine Ausnahmege-
nehmigung zum Roden des Grundstücks
bekommen. Die Vorschriften wurden der-
art gedehnt, dass Tesla und die Regie-
rung nur froh sein können, dass diese Pra-
xis noch einmal vor Gericht kam. Der
Drahtseilakt Tesla ist nun rechtssicher.

Zu verdanken ist das der Grünen Liga.
Der Umweltverband aus Brandenburg ist
zwar ein leicht obskurer Verein aus prinzi-
pienfesten Ökologen mit Wurzeln in der
DDR. Aber die Angriffe, die sich die Natur-
schützer wegen ihrer Klage anhören
mussten, waren nicht weniger fragwür-
dig. Der Bundesverband der Deutschen
Industrie forderte, das Klagerecht von
Umweltverbänden zu überdenken. Die
Grünen standen dem kaum nach: „Eine
Kiefernholzplantage zum Kampffeld zu
machen, ist absurd. Das hat mit Natur-
schutz nichts tun!“, sagte ihr umweltpoli-
tischer Sprecher Oliver Krischer.
Jahrzehntelang ist für den Natur- und
Umweltschutz von heute gekämpft wor-
den, gerade von den Grünen. Das alles we-
gen einer vielleicht spektakulären Indus-
trieansiedlung aus den USA aufzugeben,
offenbart ein merkwürdiges Politikver-
ständnis.

von peter burghardt

H


amburg ist für die SPD schon lan-
ge eine Perle, nicht nur wegen Hel-
mut Schmidt. Seit Kriegsende ha-
ben die Genossen fast 60 Jahre lang die
schöne Hansestadt regiert, und Helmut
Schmidt brauchte dabei nicht einmal Bür-
germeister zu werden, er wurde gleich
Bundeskanzler. Bleibt seine Heimat nach
der Bürgerschaftswahl am Sonntag die ro-
te Festung, wonach es aussieht, dann wä-
re dies ein besonders beachtlicher Erfolg,
denn er fiele mitten in die sozialdemokra-
tische Sinnkrise. Dann hätte Hamburgs
SPD die Bundes-SPD besiegt.
Falls die Umfragen nicht danebenlie-
gen, so werden die Sozialdemokraten die-
se einzige turnusgemäße Landtagswahl
2020 klar gewinnen. Sie werden demnach
auch ihren aufmüpfigen Hamburger Koa-
litionspartner in die Schranken weisen,
die Grünen. Im Willy-Brandt-Haus in Ber-
lin wird in diesem Fall sicher groß gefei-
ert, das Problem ist nur: Die SPD-Spitze
könnte so gut wie gar nichts dafür.
Hamburgs Bürgermeister Peter
Tschentscher hielt sich im Wahlkampf de-
monstrativ fern vom neuen SPD-Füh-
rungsduo, angesichts des miserablen
Deutschlandtrends ein naheliegendes
Manöver. Ein Sieg der SPD wäre ein Tri-
umph von Tschentscher – und auch ein
bisschen von Olaf Scholz, der den Kampf
um den Parteivorsitz verloren hat.
Unter dem Bürgermeister Scholz kam
Hamburgs SPD 2011 wieder an die Macht
im Rathaus und wurde wie früher zur be-
stimmenden Volkspartei an Alster und El-
be. Hamburgs Sozialdemokraten verzet-
telten sich, anders als die Zentrale, nicht
mit Flügelkämpfen und Richtungsdebat-
ten. Sie verkörpern das, auf was sich viele
Hanseaten verständigen können: wirt-
schaftsliberal, weltoffen, verlässlich. Je-
denfalls weitgehend und ganz besonders

im Vergleich zu den bizarren Zeiten von
CDU und Schill-Partei.
Zum einzig ernsthaften Rivalen der
SPD haben sich die Grünen aufgeschwun-
gen, ihr Partner. Ihnen und ihrer erfri-
schenden Kandidatin Katharina Fege-
bank gebührt als zweiter Kraft das Ver-
dienst, die Roten ein bisschen grüner zu
machen, was angesichts von Verkehrscha-
os und Klimawandel dringend nötig ist.
Die übrigen Parteien spielen keine Rolle,
die FDP fliegt womöglich aus der Bürger-
schaft. Rot-Grün ist Hamburgs Groko.

Das liegt inzwischen auch am besonne-
nen Peter Tschentscher, der 2018 nur Bür-
germeister wurde, weil Scholz in Angela
Merkels Groko umzog. Im Zweifel wählen
den früheren Laborarzt und Finanzsena-
tor diesmal selbst Konservative, um die
Grünen zu bremsen. Tschentscher nützte
die von Scholz geschaffene Basis und hat
sich profiliert. Er ist in Hamburg eventuell
populärer, als es nach dem G-20-Desaster
der belehrende Scholz war.
Doch die dauerhafte Macht der Ham-
burger SPD birgt die üblichen Risiken der
Verfilzung, siehe die Affäre um Cum-Ex-
Geschäfte von Banken und möglicherwei-
se entgangene Steuermillionen. Auch war
das Ende des Hamburger Wahlkampfes
bezeichnend für diese bewegten Zeiten:
Statt Abschlusskundgebungen der Partei-
en gab es eine Trauerveranstaltung für
die Terroropfer von Hanau und eine Groß-
demo von Fridays for Future. Bleibt Peter
Tschentscher in dieser Gemengelage Sie-
ger, dann ist er nicht mehr der Nachfolger
von Scholz’ Gnaden. Dann ist er der ge-
wählte Hamburger Bürgermeister, der sei-
ner SPD Scholz’ Erbe gerettet hat.

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J


ulian Assange, der Gründer der
Enthüllungsplattform Wikileaks,
sollte nicht an die USA ausgeliefert
werden. Er ist dort angeklagt, weil
er geheime Dokumente über die
Kriege in Afghanistan und im Irak ver-
öffentlicht hat. Zurzeit ist der gesund-
heitlich angeschlagene Assange in Groß-
britannien inhaftiert; am Montag wird ein
Londoner Gericht damit beginnen, Argu-
mente für und wider eine
Auslieferung zu hören.
Die Kernfrage lautet, ob
Assange in den USA mit
einem fairen Verfahren
rechnen könnte. Davon ist
nicht auszugehen.
Der Fall Assange erin-
nert an das, was ein US-
Richter vor knapp 50 Jah-
ren gesagt hat. Auch da-
mals kämpfte die US-Re-
gierung brachial gegen ei-
nen Geheimnisverrat an:
Daniel Ellsberg, der die
Pentagon Papers über den
Vietnam-Krieg an die Pres-
se gegeben hatte, wurde
wegen Spionage ange-
klagt. Vor Gericht stellte
sich heraus, dass ihn die
paranoide Regierung Ri-
chard Nixons illegal ausge-
forscht hatte. Der Richter
erklärte den Strafprozess
daraufhin für beendet,
weil der Fall das Rechts-
empfinden verletze. Die Strafverfolgung,
sagte er, sei „unheilbar infiziert“. Ellsberg
war ein freier Mann, der Rechtsstaat hatte
das letzte Wort behalten.
Auch der Fall Assange ist verfahren.
Das beginnt schon mit der Anklage, die
ihm zunächst nur Anstiftung zum Ausspä-
hen von Daten vorhielt, dann aber unver-
mittelt um Spionage erweitert wurde. Die
Ankläger stützten sich dabei auf ein Ge-
setz von 1917, das Staatsgeheimnisse vor
fremden Mächten schützen soll. Damit
drohen Assange bis zu 175 Jahre Haft, was
vollkommen unverhältnismäßig wäre bei
jemandem, der vor allem die Öffentlich-
keit aufklären wollte. Inzwischen steht
der US-Geheimdienst CIA zudem im Ver-
dacht, Assange im Exil ausgeforscht zu ha-
ben. Offensichtlich benutzt die US-Regie-
rung den Fall, um alle einzuschüchtern,
die Staatsgeheimnisse verbreiten, auch
Whistleblower und Journalisten.
Julian Assange ist zweifellos eine kon-
troverse Figur, ein Ideologe der Transpa-


renz, ohne Rücksicht auf jene, deren Na-
men er nennt, ohne Wertschätzung für
das journalistische Handwerk. Trotz alle-
dem aber hat er 2010 und 2011 als Publi-
zist agiert, nicht als Agent einer fremden
Macht. Das Material, das er über den plan-
losen Afghanistan-Krieg und den völker-
rechtswidrigen Irak-Krieg der Regierung
Bush veröffentlichte, war von größtem öf-
fentlichen Interesse, weil es Exzesse einer
Großmacht offenlegte,
darunter mutmaßliche
Kriegsverbrechen. Diese
Aufklärerrolle erlaubte es
Assange natürlich nicht,
Straftaten zu begehen –
als Spion agierte er aber
gewiss nicht. Wenn Assan-
ge je Agent gewesen sein
sollte, dann allenfalls sein
eigener PR-Agent. Deswe-
gen ist die Spionageankla-
ge aus Amerika mit der
Aussicht auf lebenslange
Haft maßlos.
Angelehnt an den Fall
Ellsberg könnte man nun
darauf hoffen, dass Assan-
ge – wie einst der Whistle-
blower der Pentagon Pa-
pers – in den USA auf ver-
nünftige Richter trifft.
Aber die Stimmung in
Amerika ist nicht gerade
günstig für Assange. Er ist
dort eine parteiübergrei-
fende Reizfigur: Die Kon-
servativen nehmen ihm seine Angriffe auf
den Sicherheitsapparat übel, die Fort-
schrittlichen tragen ihm die Enthüllun-
gen zu Hillary Clinton nach. Und die US-
Regierung positioniert sich zu Assange so,
wie es Präsident Trump gerade passt.
Überdies dient das Los des Ex-Soldaten
Bradley (heute Chelsea) Manning, der As-
sange einst das geheime Material überge-
ben hat, als dringende Warnung: Man-
ning wurde wegen der Kooperation mit As-
sange zu 35 Jahren Haft verurteilt, von Prä-
sident Obama begnadigt und unter Präsi-
dent Trump abermals weggesperrt, um ei-
ne Aussage gegen Assange zu erzwingen.
In diesem Klima der Erpressung dürfte As-
sange kaum Gerechtigkeit widerfahren.
Je übergriffiger Regierungen dabei wer-
den, ihre Geheimnisse zu schützen, desto
mehr sind Enthüller aller Art auf die Justiz
angewiesen. Es bedarf nun mutiger Rich-
ter in London, die sagen: Das US-Strafver-
fahren gegen Assange ist unheilbar infi-
ziert, eine Auslieferung unverantwortlich.

Die Frage „Wer hat’s erfun-
den?“ plagt nicht nur Kräu-
terbonbons produzierende
Eidgenossen. Sie wird auch
von jenen unterschiedlich be-
antwortet, die das Rauchen von Wasser-
pfeifen zum nationalen Kulturgut zählen.
Wo und wann man zuerst auf die Idee
kam, Rauch durch ein Gefäß mit einer
Flüssigkeit zu leiten, um ihm die Schärfe
zu nehmen und ihn abzukühlen, bleibt im
Nebel: Sowohl im nördlichen Indien der
Mughal-Zeit als auch im Persien der Safa-
widen-Dynastie könnte der Funke Mitte
des 16. Jahrhunderts das erste Mal überge-
sprungen sein. Das Wort Shisha, das in
Deutschland meist für die teils über einen
Meter hohen bunten Glaskonstrukte mit
Schlauch und Mundstück verwendet
wird, leitet sich jedenfalls vom persi-
schen Wort shishe ab, was schlicht „Glas“
bedeutet. Im arabischen Raum glühen
hingegen eher „Nargilas“, in englischspra-
chigen Ländern „Hookahs“. Sie alle wer-
den heute meist mit einem speziellen Ta-
bak gestopft, der feuchter als normaler
Pfeifen- oder Zigarettentabak ist und oft
mit Aromen versetzt wird. Opium oder
Cannabis hingegen dürften heute wegen
der auch im Mittleren Osten, in Iran und
Indien strengen Drogengesetze deutlich
seltener als früher in den Pfeifenköpfen
aus Ton landen, die mit perforierter Alu-
folie verschlossen und mit glühenden
Holzkohlestücken belegt werden. mob

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020, Nr. 44 DEFGH


BRANDENBURG

Freie Bahn für Tesla


Auch wenn das Großprojekt des
US-Konzerns wichtig ist, gilt es,
die Umwelt ernst zu nehmen

HAMBURG

Morgenröte


Die
Spionageanklage
aus Amerika
mit der
Aussicht auf
lebenslange Haft
ist maßlos.
Deshalb darf
Assange nicht
ausgeliefert
werden

JULIAN ASSANGE


Infiziertes Verfahren


von nicolas richter


Malheur bei den Genossen sz-zeichnung: luis murschetz

HANAU


Wer dazugehört


von dunja ramadan


AKTUELLES LEXIKON


Shisha


PROFIL


Christian


Petzold


Filmemacher
mit Freude am
Mythos

Erfolgreiche Sozialdemokraten?
Wie das geht, könnte nun die
SPD der Hansestadt zeigen

Der rechte Terror
hat eine lange
Vorgeschichte.
Über Jahrzehnte
wurden Migranten
wie Fremde
behandelt. Doch sie
sind in der Mitte
der Gesellschaft –
und nicht
die Wähler der AfD
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