Frankfurter Allgemeine Zeitung - 05.03.2020

(vip2019) #1
EDITORIAL
Von Benjamin Kleeman-von Gersum

Der Befund ist besorgniserregend: Der A nteil
innovativer Mittelständler hat sich seit dem
Höchststand Mitte der 2000er Jahre mehr
als halbiert. Die sogenannte Innovatoren-
quote sank 2019 auf lediglich 19 Prozent – so
der aktuelle KfW-Innovationsbericht. Dass
die jetzt eingeführte steuerliche Forschungs-
förderung für ausreichend Schubkraft sorgt,

um diesen Trend umzukehren und die
Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
zu sichern, bezweifelt Armando García
Schmidt,Wirtschaftsexperteder Bertelsmann
Stiftung im Interview (siehe V2). Er hält
stattdessen eine Forschungsoffensive und
die Gründung zahlreicher Technischer
Hochschulen nach dem Vorbild der RWTH
Aachen für notwendig. Diese könnten die
Digitalisierung in enger Zusammenarbeit
mit e tablierten Unternehmen vorantreiben.

R

ustikalundkraftvollwirktder
Mercedes-T ransporterVarioder
AbfallwirtschaftsbetriebeKöln–
aufden erstenBlickhaternicht
dieAnmutungeinestypischen
Elektrofahrzeugs. In seinem
InnerentutjedochmodernsteTechnologie
ihrenDienst: DerTransporterwurdeumge-
rüstet,derAntriebsstrangmitsamtDiesel-
motor,GetriebeundAbgasreinigungrestlos
entfernt.FürdenAntriebsorgtstattdessen
eine neueelektrischeHinterachsenamens
eTransport,dievonBPWBergischeAchsen
ausdemnordrhein-westfälischenWiehlent-
wickeltwurde.„DerelektrischeAchsantrieb
istdie überlegeneLösungfür die Zukunftdes
Stadtverkehrs“,betontHansWernerKopplow,
Entwicklungsleiter Elektromobilitätbei
BPW.„OhneNutzlastzuverlieren,reduziert
er imVergleichzueinemherkömmlichen
VerbrennungsmotorVerschmutzung und
Lärmdeutlich.“ DieReichweitedermiteiner
eTransport-AchseausgestattetenFahrzeuge
liegtbeibiszu1 00 Kilometern undübertrifft
damitdie typischetäglicheKilometerleis-
tungimStadtverkehr.DieUmrüstungistim
vergangenenJahr inKleinserie gegangen,sie
erfolgtbei PaulNutzfahrzeugeinVilshofenan
derDonau,demeuropäischenMarktführer
fürSpezialfahrzeuge.

Nur 200 statt 1400 Teile benötigt

BPW Bergische Achsen ist kein hippes
Start-up, sondern ein traditionsreicher
Zulieferer klassischer Komponenten für
den Fahrzeugbau – die Firma gibt es seit
mehr als 120 Jahren. Doch die Verantwort-
lichen haben verstanden, was notwendig
ist, um auf einem sich im Umbruch befind-
lichen Markt bestehen zu können: Die
Unternehmen müssen mit Innovationen
auf die neuen Gegebenheiten reagieren –
sonst laufen sie Gefahr, irgendwann vom
Markt zu verschwinden. Denn die Lage
der Automobilindustrie ist angesichts des
Wandels hin zur Elektromobilität ange-
spannt. Hersteller wie BMW, Daimler, Audi
oder Volkswagen machen längst keinen Hehl
mehr daraus, dass man sich über kurz oder
lang von vielen Mitarbeitern wird trennen
müssen. Noch härter trifft es die Zulieferer:
Große Player wie Continental oder Bosch
haben bereits den Abbau Tausender Arbeits-
plätze angekündigt. Kleinere Unternehmen
wie etwa die Eisenmann SE aus Stuttgart,
die Lackieranlagen und Applikationssysteme

herstellt, oderdieSchlemmerGruppe,ein
Produzentvon Kabelschutzsystemen aus
AschheimbeiMünchen,musstenimvergan-
genenJahrbereitsInsolvenzanmelden.
Der Wandel hin zur Elektromobilität,
das autonome Fahren sowie die Entwick-
lung digitaler Geschäftsmodelle erfordern
erhebliche Investitionen und Anpassungen.
Denn wenn Elektromotoren Diesel- und
Benzinantriebe ersetzen, ändert sich der
Antriebsstrang eines Autos grundlegend:
Bestehen Motor und Getriebe bei einem
konventionellen Pkw aus rund 140 0 Teilen,
sind es bei einem Elektroauto nicht mehr als
20 0. Komponenten wie geschmiedete Kurbel-
wellen, Nockenwellen oder aufwendige
Schaltgetriebe hat ein E lektromotor n icht.
Für die Produkte so manches Zulieferers
wird es deshalb langfristig keinen Markt
mehr geben. Auf diese Herausforderung
müssen die Unternehmen wirtschaftlich
reagieren: Sie müssen die richtigen strate-
gischen Entscheidungen t reffen u nd operativ
die richtigen Maßnahmen einleiten und
umsetzen. „Grundlage für die Umstruktu-
rierung muss ein neues auf die Veränderung
des Markts angepasstes Unternehmenskon-
zept sein“, sagt Alexandra Schluck-Amend,
Fachanwältin für Insolvenzrecht und Part-
nerin am Stuttgarter Standort der Wirt-
schaftskanzlei CMS. Dessen Entwicklung sei
jedoch häufig schwierig, wenn die Produkte
des Unternehmens nicht mehr gefragt sind.
„Fehlt es an einem eigenen Konzept, kann
ein Ausweg allerdings die frühzeitige Koope-
ration mit anderen Unternehmen sein“, so
Schluck-Amend. „Kooperationsformen wie
Jointventures oder strategische Allianzen
gewinnen in der Automobilindustrie zuneh-
mend an Bedeutung.“ Denn ohne Innova-
tionen und frische Ideen werden viele Unter-
nehmen den Weg in die automobile Zukunft
nicht mitgehen können.
Die gute Nachricht: Dafür ist durchaus
noch Zeit, denn der Wandel hin zur Elektro-
mobilität vollzieht sich langsam. Verschie-
denen Untersuchungen zufolge dürfte der
Anteil rein elektrisch betriebener Pkw in
verschiedenen Weltregionen bis 2 030 im
Schnitt etwa bei einem Fünftel und der
Anteil hybridbetriebener Fahrzeuge bei
etwa 60 Prozent der Neuzulassungen liegen.
Was im Umkehrschluss bedeutet, dass es
noch eine Weile Verbrennungsmotoren in
unterschiedlichen Kombinationen geben
wird. „Der Umstieg zum reinen Elektro-
fahrzeug wird sich über Hybridantriebe

vollziehen“, sagt Hermann Rottengruber,
Professor für Energiewandlungssysteme
fürmobileAnwendungenanderUniversität
Magdeburg.Für viele Anwendungen und
Fahrzeugvarianten werde auch langfristig
ein hybrider Antriebsstrang mit Verbren-
nungsmotor und Elektromotor die optimale
Lösung bleiben, so der Motorenexperte.
„Dennoch ist es Zeit, darüber nachzudenken,
wie sich der Markt für Fahrzeugantriebs-
komponenten vor dem Hintergrund dieser
Veränderungen u mgestalten wird.“

Neue Idee n kooper ativ entwickeln

Unternehmen, diedabei vorangehen und
sich alsInnovatorenund Taktgeberdes
Wandels positionieren, habendie besten
Chancen, am Marktzubestehen. Die
Grob-WerkeausdembayerischenMindel-
heimetwazählenzudenweltweitgrößten
AnbieternvonMaschinenundAnlagenzur
spanenden Bearbeitungvon Bauteilenfür
denAntriebsstrang–undvondiesendürften
inZukunftwenigerbenötigtwerden.Doch
dasUnternehmenist aufdiese Entwick-
lung vorbereitet: Jüngstwurde mitdem
italienischenUnternehmenDMG meccanica
einführenderMaschinen-und Anlagen-
bauerfürElektromotorenübernommen.Ein
ErgebnisderneuenstrategischenAusrich-
tung:ImSommer vergangenenJahres
wurdendieGrob-Werkevon derVolkswagen-
Gruppe für ihre „außergewöhnlicheLeis-
tungundhoheInnovationsbereitschaft“im
Bereich Elektromobilitätausgezeichnet.
BPWBergischeAchsenwiederum nimmt
nachdenKleintransportern dienächstenFahr-
zeugklassenfür dieElektrifizierunginsVisier:
InnaherZukunft sollenauchLkwmit7,5und
sogar18TonnenzulässigemGesamtgewicht
elektrischunterwegssein,sodieVisiondes
Unternehmens.DenWegdafürebnensolleine
KooperationmitdemLehrstuhl fürProduction
EngineeringofE-MobilityComponents(PEM)
derRWTHAachen,derinDeutschlandzu
denführendenForschungseinrichtungenauf
diesemGebietzählt.Dasersteumgerüstete
Fahrzeugmodell „LiVe1“, das7,5 Tonnenzuläs-
sigesGesamtgewichtstemmt,wurdebereits
Ende 2018 inAachenvorgestellt,einmodu-
laresElektrifizierungskonzeptbis 18 Tonnen
soll bisEndediesesJahreserarbeitetwerden.
„DurchKooperationendieserArtwirddem
emissionsfreienelektrischenInner-City-Trans-
portinEuropazumDurchbruchverholfen“,
sagt BPW-Elektromobilitätsexperte Kopplow.

Ohne


frischeIdeen


keineZukunft


Der Wandel hin zur Elektromobilität stellt die


Automobilzulieferer vor große Heraus-


forderungen. Richten sie sich strategisch nicht


neu aus, könnten viele über kurz oder lang


vom Markt verschwinden.


Von Harald Czycholl



  1. März 2 020


Frankfurter Allgemeine Zeitung


Verlagsspezial


VERNETZUNGVORANTREIBEN
Digitale Plattformen sind im Alltag allgegenwärtig.
Inzwischen nutzen auch immer mehr Industrieunter-
nehmen die Vorteile der Plattformökonomie. Seite V4

ÜBERBLICK VERBESSERN
Landwirte sollen mit weniger Dünger und Pflanzen-
schutzmitteln weiterhin hohe Erträge erzielen.
Der Einsatz von Drohnen kann dabei helfen. Seite V3

ORIENTIERUNG GEBEN
Viele Firmen gehen die eigene Transformation mutig
an, verlieren sich aber im Prozess. Orientierung geben
die vier typischen Digitalisierungsphasen. Seite V2

Reif für den Schrottplatz: Geschäftsmodelle, die langfristig auf geschmiedete Kurbelwellen, Nockenwellen oder aufwendige Schaltgetriebe setzen. Denn diese Komponenten hat ein Elektromotor nicht. FOTOHROE/ISTOCK

Innovation im Mittelstand


     



 
 





  


 


  


  


 
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