EXPLORER
w
KULTUREN-KUNST
FANNY ANGELINA HESSE, Amerikane-
rin mit ostfriesischer Abstammung,
gilt als Erfinderin von Agar für den
Laborbedarf. Im Jahr 1880 hatte die
Laborantin die Idee, auf Agar Bakterien
zu züchten, statt Pudding daraus her-
zustellen. Mithilfe der neuen Technik
gelang es dem Arzt Robert Koch bald,
das Tuberkulose-Bakterium zu isolie-
ren. Hesses Ehemann zählte zu seinen
früheren Mitarbeitern und hatte ihn
umgehend über die Erfindung seiner
Frau informiert.
Agar ist eine gelatineartige, aus
Algen gewonnene Substanz, die mit
Nährstoffen und Wasser vermischt
wird. Sterilisiert und in flache Schäl-
chen gegossen, benutzten Forscher das
Gelee nunmehr, um auf seiner Ober-
fläche Mikroorganismen kon trolliert
wachsen zu lassen – statt wie zuvor auf
TEXT: JENNIFER TSANG
Von der Pudding-
Zutat zum
unverzichtbaren
Laborbedarf
zur Leinwand:
die Karriere des
Algenextraktes Agar.
Kartoffeln, Fleischextrakten oder Brot.
Noch heute, 140 Jahre nach Hesse,
gehört Agar zum Laborstandard. Die
Innovation brachte außerdem eine
neue Kunstform hervor.
Künstler bedienen sich des Algen-
puddings als eine Art Leinwand für
farbenprächtige Arbeiten, Agar-Kunst
genannt. So leuchten Streptokokken,
von denen einige Antibiotika produ-
zieren, in roten und blauen Tönen oder
in Schwarz. Kolibakterien sind natür-
licherweise beige; nach einer Genver-
änderung können sie in hellem Pink,
Grün oder Blau erstrahlen.
Der Clou: Bringt der Künstler die
Bakterien auf den Agar auf, bleibt der
Strich zunächst unsichtbar. Erst wenn
die Lebewesen sich vermehren, erblü-
hen die Farben und Muster.
Seit dem Jahr 2015 veranstaltet
die amerikanische Gesellschaft für
Mikrobiologie (ASM) sogar eine Art
Wettbewerb der Agar-Kunst. Laut Ka-
therine Lontok von der ASM verstehen
die Künstler das Material immer besser.
Die eingereichten Arbeiten würden
zunehmend komplexer und „nutzen
3D-Agar, Sporen sowie eine bunte Viel-
falt an Kleinstlebewesen“.
Die ihr gebührende Anerkennung
erhielt Erfinderin Hesse bisher nicht.
Glanz-
lichter der
agar-Kunst
Krankheitserreger, die
eine Wüstenei bilden,
Proteine, die Grün
zart leuchten lassen.
Der Agar-Kunstwett-
bewerb zeigt, dass
„Wissenschaftler kre-
ativ sein können”, sagt
Katherine Lontok vom
Ausrichter ASM.
Diese Szene eines Koi und
einer Lotusblüte gewann den
ersten Preis in der Profi-Kate-
gorie. Sie entstand mithilfe
von neun Mikroorganismen.
Die Wüstenszene basiert auf
einem Erreger von Harnwegs-
infekten – und zwar in Gebie-
ten mit Wasserknappheit,
betont der Künstler.
Eine
Unterwasser-
Welt auf Agar
Pflanzen, Fische, Larven –
dieses „Marine Universum”
erreichte das Finale
in der Profi-Kategorie
des ASM-Wettbewerbs
- Die Künstlerin,
Princeton-Studentin
Janie Kim, nutzte für die
Farben Mikroorganismen
unterschiedlichster
Herkunft.
WEISS UND GELB
Zwei ihrer Pigmente
entdeckte Studentin
Kim auf sich selbst:
„Die weißen Bakte-
rien, wohl Staphylo-
coccus epidermis, und
die gelben, vermut-
lich Staphylococcus
aureus, stammen von
meiner Haut.“
Das Porträt der US-Richte-
rin Ruth Bader Ginsburg,
kurz RBG, wurde mit VRBG-
Agar gezeichnet, kurz für
Kristallviolett-Galle-Glucose.
FOTOS (O.; U.V.L.N.R.): JANIE KIM, ARWA HADID; MICHAEL TAVEIRNE; MICHAEL V. MAGAOGAO;
ALLISON WERNER; LETICIA LIMA ANGELINI; ISABEL FRANCO CASTILLO
28 NATIONAL GEOGRAPHIC