Ein Theaterabend in Mülheim an der Ruhr
bringtzwei Männer auf die Bühne, die in
unterschiedlichen Zeiten leben, aber ähnli-
che Träume haben. Der eine, er nennt sich
Des Esseintes, ist ein Exzentriker des Fin
de Siècle, adlig, wohlhabend, hochmütig,
an Luxus gewöhnt, von Dienern umgeben,
dabei müde und des Lebens überdrüssig.
Der andere, François mit Namen, Literatur-
wissenschaftler an der Sorbonne, erlebt im
Jahr 2022, wie der Islam in Frankreich die
Macht übernimmt. Es handelt sich um die
Hauptfiguren aus den Romanen „A Re-
bours“ („Gegen den Strich“) von Joris-Karl
Huysmans aus dem Jahr 1884 und „Unter-
werfung“ von Michel Houellebecq aus dem
Jahr 2015.
Beide Protagonisten sehnen sich im
Grunde ihres Herzens nach einer unterge-
gangenen Epoche: Des Esseintes nach der
Zeit vor der Französischen Revolution,
nach den Exzessen des Ancien Regime;
François, etwas verhohlener, nach den rela-
tiv krisenfreien Dekaden vor 1968, als die
Verhältnisse, nicht zuletzt die zwischen
Mann und Frau, unerschütterlich schie-
nen. Das Spannende an dem von Philipp
Preuss inszenierten Abend ist nun, dass er
einen zeitgenössischen Roman (der jetzt
schon oft auf die Bühne gebracht wurde)
mit dessen Referenztext synchronisiert;
denn Houellebecq zitiert Huysmans gera-
dezu frenetisch und grüßt ihn über die Zeit-
läufte hinweg als einen Bruder im Geiste.
Die Darsteller der beiden Figuren, die ge-
wissermaßen zu einer einzigen verschmel-
zen, sitzen an den Schmalseiten einer lan-
gen Tafel auf der Mülheimer Bühne, an der
auch die Zuschauer Platz nehmen dürfen.
Felix Römer lässt von Beginn an keinen
Zweifel gelten, dass er den Dandy und Lebe-
mann Des Esseintes sowie dessen „Welt-
schmerz“ kräftig auf den Arm nimmt. Er
pflegt emphatisch das Dativ-E, hält sich
den widerspenstigen angeklebten Schnurr-
bart fest: Die Figur zerplatzt förmlich un-
ter den Hammerschlägen der Ironie. Die
„geistigen Getränke“, die der Mann
schlürft und seine „Mundorgel“ tauft,
muss man sich dazu denken, doch die
Schildkröte, deren Panzer er lackiert und
mit Diamanten schmückt, sitzt in Gestalt
von Klaus Herzog leibhaftig mit am Tisch.
Anders zunächst das Gegenüber Fran-
çois. Petra von der Beek, ungeschminkt
und im unverzichtbaren Michel-Houelle-
becq-Parka, blättert scheinbar unbeteiligt
in „A Rebours“, die Zigarette bleibt unange-
tastet vor ihr/ihm liegen. Auch das Auftau-
chen der Geliebten Myriam (Nina Wolf)
reißt diese traurige Figur nicht aus ihrer Le-
thargie. Myriam wird mit ihren Eltern aus
Furcht vor den Muslimen nach Israel aus-
wandern, dabei liebt sie doch den Käse und
die berühmten französischen Regisseure
wieSchlingensiefoderFassbinderso sehr!
(Man muss die Namen ja nur französisch
betonen.) Diese in den schlaffen François
verliebte Studentin hat Charme und Lieb-
reiz, doch seinem geistigen Vorfahren Des
Esseintes steht der Houellebecq-Protago-
nist an Schläfrigkeit kaum nach. Schon gar
nicht interessiert er sich für Politik. Es ist
der Ekel, dessen ganze Klaviatur französi-
sche Intellektuelle so virtuos beherrschen
wie niemand sonst auf der Welt.
Und, mit diesem Lebensgefühl verbün-
det, der Sarkasmus. Offiziell ist es das gras-
sierende Mittelmaß, das den Zorn oder gar
den Hass der Protagonisten auf sich zieht;
aber letztlich, und das macht die Mül-
heimer Inszenierung deutlich, scheitern
sie an ihrer niederschmetternden (Her-
zens-)Trägheit. Des Esseintes gelingt es
nicht, den Plan einer London-Reise in die
Tat umzusetzen. François lässt sich, zumin-
dest gedanklich, von den Verlockungen
des Islam vereinnahmen, insbesondere
der Polygamie. Es ist nur konsequent, dass
Römer und von der Beek – übrigens auf
verblüffende Art und Weise – in der Mitte
des Abends ihre Rollen tauschen. Rupert J.
Seidl als höchst würdevoller Zeremonien-
meister serviert jedem Gast an der Tafel
ein Wirsingblatt, eine Essiggurke und eine
Chip-Oblate. Huysmans hat sich gegen En-
de seines Lebens zum Katholizismus be-
kannt, daher spielen Oblaten in seinem
Kosmos eine nicht unwesentliche Rolle.
Houellebecqs Bestseller wurde in den
vergangenen Jahren hinauf und hinunter
dekliniert, auch auf vielen Bühnen. Neu
und frappierend an dem Mülheimer
Abend ist die Rahmung durch den „seltsa-
men“ Text (so Oscar Wilde) von Joris-Karl
Huysmans. So kostbar und fremd er zu-
nächst anmutet, macht er nicht zuletzt ei-
nes deutlich: Am Grund des sogenannten
Weltschmerzes und der so einfallsreich
illuminierten Verzweiflung der beiden
(oder sollte man sagen: der vier?) Herren
schimmert die geschickt camouflierte
Furcht vor dem Ende des Patriarchats.
martin krumbholz
Herrendoppel
„Unterwerfung/Gegen den Strich“ in Mülheim
von till briegleb
E
s ist schade, dass diese Ausstellung
so klein ist. Nicht räumlich. Die riesi-
ge Wechselausstellungshalle im
Sprengel-Museum Hannover steht der Ge-
winnerin des alle zwei Jahre verliehenen
Kurt-Schwitters-Preises vollumfänglich
zur Verfügung. Aber von Mika Rottenberg
sind in dem mächtigen Saal, in den man
hunderte Bilder hängen kann, nur vier Ar-
beiten zu sehen: ein Vorhang, eine kineti-
sche Installation und zwei Videos. Eins da-
von, „Spaghetti Blockchain“, hat die argen-
tinische Künstlerin zum Teil mit den Gel-
dern des Ausstellungsetats produziert,
der von der Niedersächsischen Sparkas-
senstiftung stammt. Darum ist die „gro-
ße“ Würdigung Mika Rottenbergs keine
Retrospektive geworden, wie 2018 im
Kunsthaus Bregenz, sondern nur ein Ein-
druck.
Dabei sind Mika Rottenbergs visuelle
Vorlesungen über absurde Wirtschafts-
kreisläufe echte Inspirationshilfen, sie
stellt die anstehende ökonomische Sys-
temfrage in poetisch. So zeigte sie in den
letzten zehn Jahren zu verschiedenen An-
lässen Videos, wie Wrestlerinnen in Heim-
arbeit aus roten Fingernägeln Cocktailkir-
schen kneten, stellte die Frage, was Aller-
gien mit Zuchtperlen zu tun haben, oder
sie erzählte die Geschichte New Yorker Far-
merinnen mit vollem Haar, die durch
Quacksalbermittel für Männer mit Haar-
ausfall steinreich wurden. Diese Wirt-
schaftssatiren, für deren Präsentation Rot-
tenberg spezifische Architekturen baute,
werden in Hannover nur als Scherz ohne
Kontext zitiert: aus einem weißen Block
drängen Finger mit Riesennägeln, ein
Haarschopf schleudert dazu lustig herum.
Die beiden Video-„Eindrücke“, die klas-
sisch im dunklen Saal projiziert werden,
liefern dennoch reichhaltiges Anschau-
ungsmaterial zum holistischen Wirt-
schaftsdenken. „Spaghetti Blockchain“,
dessen Kosten die Ausstellung ge-
schrumpft hat, und das 2019 auf der Istan-
bul Biennale erstmals zu sehen war, zeigt
eine drehbare Versuchsküche. Bonbonfar-
bige Gelatinerollen werden geschlagen, ge-
schnitten und geschmolzen, Schaum mit
Salz zerstört, und Geisterhände fackeln
Molekülmodelle aus Spaghetti und Marsh-
mallows ab oder bräunen das graue Haupt-
haar eines Herren mit Glatzenansatz.
Wie so häufig bei Rottenbergs Filmen
spielen Röhren für Transport und Aus-
tausch auch hier eine wichtige Rolle, dies-
mal in Form eines Kaleidoskops mit Schie-
betüren, das aber auch ein Kehlkopf mit
Stimmbändern darstellen könnte. Denn
die Musik zu dem Koch- und Kosmetik-
Studio stammt von Sängerinnen aus Tuva,
die einen Mehrtongesang beherrschen
und ihn, traditionell gekleidet, in den sanf-
ten Weiten der mongolischen Landschaft
vortragen. Außerdem liefert der Teilchen-
beschleuniger Cern in Genf eine Referenz
als Röhre für die Verdauung von Kleinst-
materie, denn Mika Rottenberg überträgt
ihr Thema vom unstillbaren Hunger der
Welt auch auf das Wissen.
Es sind sicherlich skurrile Vorschläge,
über Wirtschaft als offenes und abhängi-
ges System nachzudenken, die Rotten-
berg in ihren Bildmetaphern liefert. Aber
sie ist ja auch keine Sachbuchautorin, son-
dern – in guter Tradition zu Kurt Schwit-
ters, wie sie zur Eröffnung erklärt – eine
Künstlerin mit schrägem Humor. Und so
legt sie in dem zweiten Video der Ausstel-
lung, dem 2017 bei den Skulptur Projekten
in Münster in einem asiatischen Ein-Euro-
Shop uraufgeführten „Cosmic Generator“,
gleich mal einen ökonomischen Verdau-
ungstrakt quer durch den Globus.
Aus Chinarestaurants in Calexico am
Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko
führt ein Schmugglertunnel direkt in die
chinesische Provinzstadt Yiwu, wo auf ei-
nem Markt mit 75 000 Shops der gesam-
melte Plastikschrott „Made in China“ ver-
trieben wird, den man auch an Trumps
Mauerzaun wiederfindet. Nur Frauen ge-
hen auf beiden Seiten dieses Warenkanals
ihrer Arbeit nach, denn in Mika Rotten-
bergs Videos werden Männchen höchs-
tens verkleidet als Tacos auf Koriander
zum Fraß serviert.
Die kalten Bilder aus den schrillfarbigen
Verkaufskabinen voll aufblasbarem
Strandspielzeug, Lichterketten, Sportbäl-
len, Stoffblumen und Glitzervorhängen,
bewacht von müden Chinesinnen, werden
in der südkalifornischen Hitze der geteil-
ten Stadt Calexico/Mexicali von einer Eis-
fee präsentiert, die sie Passantinnen und
Passanten am Boden der Kühltöpfe ihres
Verkaufsstandes zeigt. Wobei die Men-
schen in Mika Rottenbergs Arbeiten im-
mer von irgendwas zu viel haben: zu viel
Körperfett, zu viele Muskeln, zu viele Fal-
ten und Haare oder sehr lange Nasen. Und
diese Mischung aus Zauber, Absurditäten
und Dokumenten einer völlig entfremde-
ten Arbeitswelt addiert sich dann über 20
Minuten zu einer zeitgenössischen Versi-
on von Alice im Konsumwunderland, wo
der Schlüssel zur Unterwelt die Gier ist.
Als Globalisierungs-Fachkraft mit tie-
fem Verständnis für die geldwerte Kraft
des Bluffs hat Mika Rottenberg auch einen
Markennamen für ihre fantastische Wirt-
schaftslehre: „Social Surrealism“ nennt
sie die magische Ökonomie des verdreh-
ten Sinns. Das passt wunderbar zu Schwit-
ters „Merz“-Kunst, die ja aus dem Wort
„Kommerz“ herausdadaiert wurde. Hätte
es nur ein bisschen mehr sein wollen.
Mika Rottenberg, im Sprengel Museum Hannover,
bis 10. Mai.
von joseph hanimann
F
lucht ist eine Existenzform gewor-
den, Flüchtlinge bevölkern die Welt.
Darum geht es in Jonas Lüschers
jetzt als Buch vorliegender St. Galler Poetik-
vorlesung „Ins Erzählen flüchten“ jedoch
nicht. Von panischer Fluchtbewegung kei-
ne Spur. Das Fliehen, von dem hier die Re-
de ist, ähnelt eher einem ausgedehnten
geistigen Spaziergang, wenn auch aus
durchaus ernsthaften und teilweise sehr
persönlichen Beweggründen.
Der Text ist Zeitdiagnose, philosophi-
sche Analyse, literarisches Werkstattge-
spräch und biografische Selbstbetrach-
tung. Seine Abkehr von der akademischen
Philosophie vor ein paar Jahren und seine
Hinwendung zum literarischen Schreiben
erklärt Lüscher mit wachsenden Zweifeln
an der Möglichkeit, mit abstrakten Worten
die Realität zu erfassen. Insgeheim habe er
vielleicht aber auch immer schon Schrift-
steller werden wollen. Nach dem Erfolg sei-
nes Erstlingsbuchs „Frühling der Barba-
ren“ (2013) ist das dann leichter geworden.
Jedenfalls steht hinter dieser Wende die
für den Autor quälend gewordene Frage,
wie man der aus lauter Einzelfällen beste-
henden Wirklichkeit mit den allgemeinen
Begriffen der Sprache gerecht werden
kann. Die Frage zieht sich wie ein roter Fa-
den durch das Buch und lässt vor dem Hin-
tergrund der Zeitgeschichte persönliche
Schaffenskrise und philosophische Reflexi-
on miteinander verwachsen. Zwei wider-
sprüchliche Klagen, schreibt Lüscher, be-
stimmten unsere Gegenwart. Auf der ei-
nen Seite beklage man eine wachsende
„quantitative Blendung“, die alles ein-
schließlich der Lebenswelt ökonomisiert,
rationalisiert, monetisiert haben wolle.
Auf der anderen warne man vor einer infla-
tionären Tendenz zum Narrativen, dem in
postmoderner Beliebigkeit alles Mögliche
gerade recht ist.
Dieses Paradox untersucht Lüscher auf
seine ideengeschichtlichen Voraussetzun-
gen, mit Rückgriffen bis auf Parmenides
und Platon. Und er beschreibt es quer
durch die Jahrhunderte als Pendelbewe-
gung zwischen Logos und Mythos, Notwen-
digkeit und Kontingenz, Allgemeinem und
Besonderem, Philosophischem und Litera-
rischem, rational Geklärtem und tragisch
Überschattetem.
Diese Wippe, die in der Vergangenheit
ein gewisses Gleichgewicht fand, schau-
kelt in den Augen Lüschers aber nicht ein-
fach immer weiter. Denn der Kapitalismus
habe sich im 19. Jahrhundert als dominie-
rende Gesellschaftsordnung „wie ein adi-
pöser Halbstarker“ mit draufgesetzt und
drücke die rationale Seite nach unten, um
das Narrative in luftiger Höhe zappeln zu
lassen. Die ökonomische Rationalität will
alles in Zahlen fassen, und dieser Glaube
ans Messbare führt zu einem verhängnis-
vollen Fehlschluss. Weil nicht alles Rele-
vante messbar ist, wird das Messbare zum
Relevanten erklärt. Dagegen setzt der Au-
tor auf die Kraft einer wieder vermehrt nar-
rativen Gesellschaft, die mit Geschichten
von Einzelschicksalen der quantitativen
Vernunft ihre qualitative Maske abnimmt.
Für die Wirkung solcher Einzelgeschich-
ten, hinter denen so etwas wie Allgemein-
relevanz flimmert, führt Lüscher Beispiele
aus dem eigenen Werk und der eigenen Vi-
ta an. Diese Stellen gehören zu den interes-
santesten seines Buchs. Der Autor spricht
von einem Oszillieren zwischen Präsens-
momenten und Sinnmomenten. Die erste-
ren wirken durch erzählerisch packende
Unmittelbarkeit. Doch ist solche Immersi-
on nicht die Sache dieses Schriftstellers.
Gegen die Tücken narrativer Selbstverges-
senheit durch Identifizierung der Leser
mit dem Gelesenen schützt er sich mit dem
Mittel der Distanz.
Sein Fabrikerbe Preising in der Novelle
„Frühling der Barbaren“ und sein Profes-
sor Kraft, Held im gleichnamigen Roman,
sind beide große Schwafler, ziemlich
schwierige Charaktere und, wie er treffend
anmerkt, keine besonders sympathischen
Zeitgenossen. Auch die Erzählstruktur sei-
ner Bücher ist komplex, und die Sprache
hält mit ihrem ironischen Parlando den Le-
ser in einem nicht ganz bequemen Ab-
stand, aus dem das Dargestellte manch-
mal undurchschaubar wirkt und die Story
wie ein überbeanspruchtes Gefüge ächzt.
Denn natürlich verschreibt Lüscher sich
nicht einfach vorbehaltlos dem Erzählen
als Wunderrezept gegen das Diktat von Sta-
tistiken und Computermodellen. Zu offen-
sichtlich ist derzeit die Inflation des Story-
telling in Werbung und Politik, die aus
dem Erzählen oft nur ein „Gleitmittel für
trockene Zahlen“ macht. Doch seien das
eben die falschen Geschichten, schreibt
der Autor: Monomythen mit Anspruch auf
Alleingültigkeit und ohne Bereitschaft, an-
dere Geschichten neben sich gelten zu las-
sen. Lüscher erzählt in diesem Zusammen-
hang, wie er selbst als Angestellter einer
Fernsehproduktionsfirma solche schlech-
ten Geschichten zu entwickeln hatte, die
den Horizont nicht erweitern, sondern mit
Kitsch und abgegriffenen Erzählmustern
verstopfen. Schließlich hat er gekündigt
und seine erste Flucht ins Philosophiestu-
dium angetreten.
Der Schriftsteller als ein Gehetzter?
Fuchs sein, nicht Igel – so lautet Jonas Lü-
schers persönliches Hausrezept. Die Unter-
scheidung hat er aus einem Text von Isaiah
Berlin übernommen, sie ist schon in sei-
nem Roman „Kraft“ aufgetaucht. Füchse
seien ruhelose Wesen, heißt es bei Berlin,
sie igelten sich nicht ein, sondern streun-
ten mit ihrem vielfältigen Wissen durch
die Welt, hüteten sich vor Eindeutigem
und hegten keinerlei Hoffnung, die Vielsei-
tigkeit der Dinge zu einem geschlossenen
Bild zusammenzufügen.
Das klingt im sprechfrisch verspielten
Vortragston dieses anregenden Buches
weitgehend überzeugend. Zwar wirkt der
ideengeschichtliche Abriss zu Beginn mit
den eklektisch herbeizitierten Gewährsau-
toren von Paul Feyerabend über Richard
Rorty bis hin zu Odo Marquard stark ver-
kürzt und die Auslegung von Isaiah Berlins
Romantik-Konzept etwas schief. Auch
wundert es, dass der Autor, der das Ver-
schwinden von Begriffen wie „Ehre“ und
„Heldentum“ aus unserem Erzählhorizont
begrüßt, unterschwellig just die „Dichte-
rinnen und Dichter“ – welche eigentlich ge-
nau? – als entscheidende Akteure jener Eli-
minierung wieder heroisiert, als wäre die-
se Entzauberung ihr alleiniges Werk.
Doch gehört zum Hören solcher Vorträ-
ge eben auch die Freude am Einspruch. So
begleitet einen durch die gesamte Lektüre
hindurch ein leises Bedauern darüber,
nicht selbst 2019 im St. Galler Vortragssaal
über der binären Bahnhofsuhr gesessen zu
haben, die zeiger- und zahlenlos nur noch
Symbole aufleuchten lässt, als wollte sie
das Erzählen schon in neue, postquantitati-
ve Zeitdimensionen weisen.
Die Klaviatur des Ekels
beherrschen französische
Intektuelle virtuos
Houellebecqs Bestseller wurde
rauf- und runtergespielt. Hier gibt
es ihn als Weltschmerz-Kombi
„Social Surrealism“ ist der
Markenname für diese
fantastische Wirtschaftslehre
Bei einer Fernsehanstalt hat
Lüscher gekündigt und ist ins
Philosophiestudium geflüchtet
Jonas Lüscher:
InsErzählen flüchten.
Poetikvorlesung.
Verlag C. H. Beck,
München 2020.
111 Seiten, 16 Euro.
Es darf auch ein bisschen mehr sein
Alice im Konsumwunderland: Das Sprengel-Museum Hannover zeigt Arbeiten
von Mika Rottenberg, der aktuellen Trägerin des Kurt-Schwitters-Preises
Vom Bedarf an Erzählungen reden alle. Was bedeutet das für die Literatur, fragt
Jonas Lüscher. FOTO: PICTURE ALLIANCE
Im ökonomischen Verdauungstrakt:
Videostill aus Mika Rottenbergs „Cosmic
Generator“, 2017.
Was die Welt zusammenhält, untersucht Mika Rottenberg in ihrer Versuchsküche: Videostill aus „Spaghetti Blockchain“, 2019. FOTOS (2): COURTESY THE ARTIST AND HAUSER & WIRTH
Gleitmittel für trockene Zahlen
In seiner Poetikvorlesung, die Jonas Lüscher in St. Gallen hielt, zieht der Romancier Konsequenzen aus der Inflation des Storytelling in Werbung undPolitik
DEFGH Nr. 57, Montag, 9. März 2020 (^) FEUILLETON 11
LITERATUR
EineMütze ist eine Mütze
ist eine Mütze ...?
Der Theaterabend in
Mülheim zeigt bei Michel
Houellebecq wie auch bei
Joris-Karl Huysmans die
Angst vor dem Ende des
Patriarchats.
FOTO: K.FERSTERER