Frankfurter Allgemeine Zeitung - 03.03.2020

(Michael S) #1

SEITE 12·DIENSTAG, 3.MÄRZ 2020·NR. 53 FLiteratur und Sachbuch RANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Nach„erinnerungen an einenrohstoff“
von2013 bringt MartinaWeber mit „Häu-
ser,komplett aus Licht“ ihren zweiten Ge-
dichtbandheraus, ebenso konzentriert
wie der ersteund in fünfKapitel geord-
net, die gut aufeinander abgestimmtsind.
Liestman dieTeilüberschriftenwie eine
Geschichte, dann ergibt sicheine Linea-
tur des SehensvomSymbolischen („Es-
sayüber eineVerschiebung“) über das
Reale („Ichwill nichts,wasmichhält“)
zum Imaginären („Mit derVorstellung ei-
nes Meeres im Hintergrund“), die in ei-
nem einzigen Satz zum psychopolitischen
Dramakollidiert: „Ichwusstenicht mehr,
wasausgedacht und wasWirklichkeit
war“. Der Blickwirdzur unendlichenTäu-
schung und lässt das Subjekt des Sehens
ratlos zurück:„Was in meinem Gehirnge-
hörtmir?“
DieGedichte, die ihrelyrischeKohä-
renz er st in de rSerie einlösen, imKon-
text derNachbarschaftsmotiveund se-
mantischen Verschiebung, kreisen um
diesen einenzentralenPunkt einer
Selbstvergewisserung. Sie sind derfort-
währendeVersuch, hintereiner Vielzahl
vonSpiegelbilderndas Original herauszu-
lösen, daserste undmit sic hselbstidenti-
sche Bild.Aber es bleibt unwiederbring-
lichvon Dubletten umstellt, die es zuge-
deckt halten, und damitfindetdas Sub-
jektauchkeinen Ortder Repräsentanz.
Allenfalls „gelingtzu filmen,wasnicht
existiert“, aber das istschon mehrWahn-
system alsWirklichkeit undWelter kennt-
nis. In diesem Möbiusband derUngewiss-
heiten, das Innen- undAußenseite,reale
und vorgestellteWelt, Bild undAbbild
mit- undgegeneinanderverschiebt, wird
Licht zu einem zentralenTopos derLyrik.

Denn um sehen zukönnen, müssen die
Dingeangestrahltwerden, brauchen sie
Licht,vondem es schon in einem frühe-
renGedicht einmalhieß: „Schönheit ist
eine Fragedes Lichts“. Allerdings hat sich
die Konnotation des Begriff es verscho-
ben –Licht verzerrtmehr,als es aufdeckt,
scheint nicht an, sondernhindurch,es
wird, in seinerÜberbetonung, selbstzum
Objekt und damit zu einem Instrument
der Arroganz, über die Dingezuherr-
schen. Die Metapher des Lichts, die für Er-
kenntnis undTransparenzstand, wirdzu
einem Dispositiv–grell, scharfund for-
dernd–,so wie auchrationaleVernunft
dem Lebenschaden und es auslöschen
kann.
Im Titeldes Bandes istdiese Intention
schon erkennbar: DieFatalität der Ge-
heimnislosigkeit durch „Überbelich-
tung“. Angezeigt wirddiese Bedeutungs-
umkehr im kleinenWort „komplett“, das
natürlichkompl ettunsinnig ist, denn
mehr als Lichtkann Licht niemalswer-
den. Aber hinter dieserrhetorischenFi-
gur steht ein System, dessen interneStei-
gerungslogikgenauso absurdist. Die Gra-
fikdes Umschlags hat dasgroßartig er-
fasst :ein grelles gelbgrünesRaster, das so
dichtgewebt ist, alswolle es „komplett“
nur aus Licht sein, aber ebengerade da-
durch auf dieZonen der Dunkelheit hin-
weist, die sichins Unendliche dehnen.
Mit jeder Erkenntnis, sokönnten wir das
Bild übersetzen, nimmt dasUnerkennba-
re zu. In diese MatrixvonHell und Dun-
kel, Bild undAbbild, Wissen und Blind-
heit sind die Gedichtegestellt, immer
auchmit dem Gegenteil dessen beschäf-
tigt, wassie gerade ausgesagt habenund
notorischsichselbstwidersprechend:

„Glaubstduandas, wasdusiehst, oder an
das, wasdunicht siehst?“
Einmal heißt es: „Ichglaube alles,was
du mir sagst“, dann wieder:„Ichwill alle
Bildervergessen“. Eben nochwaren wir
an einemOrt,schon is tder Or teine Foto-
grafie. Ein realer Flusswirdplötzlich
„von untenbeleuchtet./Schaltkreis, Holo-
graphie“.–„Nichts istlogisch, aber alles
dreht sichineinem Kreis, der/kein Kreis
ist.“Das lyrische Ich, das hier spricht, hat
keinen Bodenunter denFüßen,keine
Achse des Blicks,die stabil ist–es spricht
vonirgendwoher,wie eine Stimme im
Netz. Wo es sichterritorial verortet,
wächst gleichder Verdacht, dassdie Wirk-
lichkeit nur eingebildetist. –„Manchmal
spielt sichalles nur an einerStelle ab. Da
istdas Haus,das is tder Gehweg, und hier
die Laterne. DerAtemüber frischgefalle-
nen Schnee.“ Sokonkret beginntein Ge-
dicht, das im französischenSt-Mihiel ent-
standen ist,wo die Autorinein Stipendi-
um hatte. Am Ende aber istalles wieder
nur fiktional, denn: „[...]dawaren gar
keine Menschen, man hättestolz den
Hals des Hundesgestreichelt, aber dawar
gar kein Hals, und da warauchkein
Hund, und niemalsfiel eineNach tlang
Schnee.“ Das erinnertanBeckett: „Dann
ging ichindas Haus zurückund schrieb:

‚Es is tMitternacht.Der Regenpeitschtge-
gendie Scheiben.‘ Eswarnicht Mitter-
nacht .Esregnete nicht.“Aber washier
poetisches Bekenntnis ist–nämlich
falschzuerinnern, um dieWahrheit zu sa-
gen–,ist bei Weber Ir ritation und Orien-
tierungslosigkeit.Nicht im Sinnegeistiger
Verwirrtheit, sondernineinem Kraftfeld
der Gegensätze, das sichaus den Interfe-
renzenvon realer und irrealerWelt produ-
ziert. Die Grenzmarkierungen diesesFel-
des sind „das Bild“ und „das Licht“. In
schier unendlicherVariation erleben wir
Licht :als „Schwarzlicht“, „Brechung des
Lichts“, „überflutetes Licht“, „Doppelbe-
lichtung“, „Neonsplitter“, „leuchtende
Punkte“, „Leuchtschilder“ und vieles
mehr.Ebenso die Assoziationskreise, die
um das Grundwort„Bild“gelegt sind:
„verwischteBilder“, „Röntgenbilder“,
„die Kamera rückt so nah, dassdas Bild
immer unschärferwird“. Aufdie Refe-
renzwörter„Licht“ und „Bild“strebtalles
zu, vonihnen strahlt alles ab, sie sind der
Text hinter denTexten, ihretiefer eSub-
stanz, Offenbarung undRätsel zugleich.
BemerkenswertandieserLyriknun
ist, dasssie gerade dort,wosie
kontrolliert erscheint,kühl, streng und
durchdacht, ihreKontrolleverliertund
voneinem Außenkommt, das unbewusst
mitspricht.Das is tkein Mangel, sondern
ein Überschuss, ein MehranSprache
undErkenntnis. Isoliert man dieTeile,
dann geht man schnell in einem
hermetischen Sprachlaborverlo ren;
zieht man sie zu einemGanzen zu-
sammen, zu einemgeschlossenenlyri-
schen System, entdeckt manein Panora-
ma der zersprungenenWelt,wie sie ist.
Dies eGedichtebelehrenuns nicht–sie
zeigen. KURTDRAWERT

A


nhänger des sozialenKonstruk-
tivismus wie des biologischen
Determinismuswerden an die-
sem Buchwenig Freude haben.
Gene, so schreibt die Anthropologin
Anna Machin, seien für die Entwicklung
eines Menschenwesentlich, und dochma-
cheamEnde die Mischung aus Erbgut
und Erfahrung das Kind. Eines aber zei-
genetlicheStudien: Gleich, ob es sichum
industrialisierte oder bäuerliche Gesell-
schaf ten, um liberale oder traditionelle
Familienmodelle, um biologische oder so-
ziale Väte rhandelt–die Rolle des
menschlichenPapas is teinmalig, und bei
keiner anderen Spezies istihreWirkung
so entscheidend.
Das„Vatersein“,sodie in Oxfordlehren-
de Au torin, sei „einVerhalten, ohnedas es
unser eArt schlichtweg nicht mehrgeben
würde“.Während sichdas hilfloseNeuge-
borene der Mutter für dieNahrung zuwen-
det, sorgt der Papa für denNestbau. Um
das zugewährleis ten, greiftdie Biologie
ein:Bei Vätern sinkt derTestosteronspie-
gel, wasihnen hilft, angemessen auf Emo-
tionen zureagieren. DasPersönlichkeits-
merkmal Extraversion,welches Männer
nachBelohnung Ausschau halten lässt,
nimmt ab; die Hormone synchronisieren
sichmit denender Partnerin. DieKehrsei-
te:Väter können an einer eigenen Artder
Wochenbettdepression erkranken,voral-
lem wenn ihnenUnte rstützungfehlt.
Voretwafünfhunderttausend Jahren ha-
ben VäterinihreRolle alsKümmererge-
funden. Damit sichder weibliche Homo
Heidelbergensis den verletzlichen, auf-
grund ihrergroßen Gehirne undKöpfe
frühgeborenen Säuglingen widmenkonn-
te,umsorgteder Manndie Kleinkinder.
Vondortzieht Machin eine historische Li-
nie zu denVätern,die heuteimKreißsaal
mitzittern. Ein Meilenstein für dievorge-
burtli cheVaterliebewarder Ultraschall,
der es Männernermöglichte, die Schwan-
gerschaftauf neue Artmitzuerleben.
Die Vaterrolle istallerdingsrechtflexi-
bel. DieAutorinstellt neben klassischen
auchhomosexuelle, soziale oderkollekti-
ve Vaterschaftsmodellevor, die jeweils
ihreeigenen Dynamiken entwickeln, um
mit dem Kind dasvonder Evolution ange-
strebteÜberleben der Gene zu sichern.
Das klingt wie eine unabänderliche Be-
stimmung, dochtatsächlich solltedas
Gen dieRechnung nicht ohne dasWirts-
tier machen. „Denn es bleibt immer ein
unbekanntes Element: der individuelle
Wille, etwaszuändern,wenn es nötig ist,
und daran zu arbeiten, als Elternteil so zu
sein, wie man sein möchte, ungeachtet all
dessen,wasdas Leben oder die Biologie
einem mitgegeben haben.“
Machin zielt darauf, auchLaien an der
neuestenForschungteilhaben zu lassen.
Das gelingt überweiteStrecken. Komple-
xe Zusammenspiele der Hirnareale und

der neurochemischen Botenstoffe, insbe-
sonderejenes der für die Bindung zustän-
digen Hormone Dopamin und Oxytocin,
sind nachvollziehbar erklärt. Die zitier-
tenStudien zur besonderenFunktiondes
Vaters beziehen sichauf so verschiedene
Gemeinschaftenwie hohe indischeKas-
ten, kongolesische Jäger und Sammler
und Wirtschaftsanwälteaus Boston. Ba-
nal sind dagegen die in den Erzählfluss
eingeflochtenen EinlassungenvonVä-
tern,die Machin interviewt hat: Siewol-
len Zeit mit ihren Kindernverbringen
und sie bestmöglichauf dieZukunftvor-
bereiten, und dochfühlen sie sichmanch-
mal wie das fünfte RadamWagen.
Insgesamt hättedem Bucheine gründli-
chereRedaktion gutgetan, denn die nuan-
ciertenKernaussagenversteckensichger-

ne zwischen wiederkehrenden Binsen-
weisheiten. In der deutschenFassung ist
zudem das englische Grundrauschen des
Texts ermüdend. Zwargeben Sätze wie
„Okay,machen wir die Dingenochein
bisschenkomplizierter, einfachso“ den
angloamerikanischen Plaudertonwieder
(im Original: „Okay,let’scomplicatemat-
ters,justfor fun“).AufDeutschwirdaus
diesemStil jedochsaloppes Schwatzen.
Es is tMachins erklärte Mission, die „in-
volviertenVäter“ zustärkenund ihren
Beitrag zu würdigen, da eine moderne, zu-
gleichaber altmodischdenkende Gesell-
schaf tihnenUnterstützung verwehre.
Die rundum medikalisierte Geburtver-
banne denVaterinein „Niemandsland
zwischen Patient sein und Besucher
sein“. Sein Leiden, bis zurTraumatisie-
rung durch eine schwierigeGeburt,wer-
de kleingeredet. Vaterschutz undVater-
schaftsurlaub bliebenglobal seltene Phä-
nomene. Dabei sindVater-,Kinds- und
Menschheitswohl engverwoben: Je siche-
rerdie Bindung an denVater, desto weni-
gerist der Sprösslinggefährdet, krimi-
nell, suchtkrank oder depressiv zuwer-
den: „DieVater-Kind-Beziehung istdie
Quelle der Individualität undAutonomie

und letztlichdes Er folges.“„Vater“ meint
dabei nicht notwendigerweise den Erzeu-
gerund nochnicht mal unbedingt einen
Mann, sondernjene Person, die bereit ist,
die Vaterrolle anzunehmen.
Dochdie politischeStoßrichtung bleibt
nicht ohne innereWidersprüche. IhreGe-
genspielerverortet Machin ausschließlich
„weiter oben in derKette,inR egierungen
und Gesellschaften, die sichwegen ihrer
eingefleischtenkulturellenÜberzeugun-
genden wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen und dem lauterwerdendenRufnach
Wandel versperren“. SindVäte rund Müt-
ternicht Teil der Gesellschaftund Träger
der Kultur? Zudem erweistsichdie pro-
gressiv eHaltung alsverblüffend traditio-
nell: Am bestenfür das Kind sind die El-
tern.Deren Zeit mit demNachwuchs soll-
te sichidealerweise wenig gestörtvon der
Arbeit (aber nichtganz ohne deren mate-
rielle Vorteile) vollziehen–ein wohl nur
in gutsituiertenwestlichen Oberschich-
tenumsetzbarerTraum, dessen diffuser zi-
vilisations- und kapitalismuskritischer
Unterton nicht zu leugnen ist. So zeichnet
sichimHohelied auf denVaterjene Ideali-
sierung ab, die bei Mütternals Ursprung
vielenÜbels gilt. KERSTINMARIAPAHL

RabindranathTagore(1861 bis 1941),
„IndiensNationaldichter“, wie ihn sein
Übersetzer und BiographMartin Kämp-
chen vorzweiJahren in dieserZeitung
genannt hat,warPoet, Dramatiker,Au-
torvon Romanen undKurzgeschichten,
Essayist, Maler undKomponistpopulä-
rerLieder,dazu Philanthrop, Erzieher,
Schul- undUniversitätsgründer–ein
MannvonüberwältigenderVielseitig-
keit.Durch den Literaturnobelpreis,
den er 1913 als erster Asiatebekam,
wurde er zu einerglobalen Berühmt-
heit undKultfigur,anAusstrahlung bei-
nahe seinemFreund und Antipoden
Mohandas Karamchand Gandhi ver-
gleichbar,dessen ehrende Bezeichnung
als „Mahatma“ („Große Seele“) aufTa-
gorezurückgeht. In allenErdteilen wur-
de Tagoregelesen und bewundert. Sei-
ne Reisen führtenihn nachGroßbritan-
nien, quer durch den europäischenKon-
tinent, nachArgentinien, Japan, China,
Südostasien, nachIranund in den Irak
und fünfmal in dieVereinigtenStaaten.
Im Mai 1916fährtTagoreüber Japan
dorthin undkehrtauf demselbenWeg
Anfang 1917 nachIndien zurück. Sein
Agent hätteein un verfänglichschön-
geistigesVortragsprogramm bevorzugt.
DochTagore, bei allerKunst der situati-
venSelbstdarstellung einwahrheitslie-
bender Denker mit einer Botschaft, will
über „Nationalismus“ sprechen. Seine
drei Vorträgeerscheinen 1917 bei
Macmillan in London undNewYork,
bereits ein Jahr später in deutscher
Übertragung. Jetzt hat JoachimKalka
sie neu übersetzt.
Tagorehat feine Antennen für politi-
sche und kulturelle Verschiebungen
und Umschwünge. 1916kämpfendie
Militärapparateder Kolonialmächte
auf europäischen Schauplätzen; in den
VereinigtenStaaten beginnt die Debat-
te um einen möglichen Eintritt in den
Krieg; Japan hat 1915 ein Protektorat
über China erzwingenwollen und ist
nur vorerstgescheitert; Indien wurde
vonseinen britischen Herreninden
Krieggezogen und erwartet nun politi-
sche Zugeständnisse.
In dieser Lagewählt Tagoreeine mitt-
lereArgumentationshöhe zwischen Ge-
genwartsdiagnose und überzeitlichen
Weisheiten, wie sie daswestliche Publi-
kumvon einer Prophetenfigur mitwal-
lendem Bartund orientalischenRoben
erwartet.Seine Botschaftist im Grun-
de einfach:Nationalismus istein relativ
neuartigesÜbel, das aus demWesten
kommt.Esäußertsichinder Umorgani-
sationvonStaaten zuNational-Staaten,
die als aggressiveApparateund Macht-
maschinen zwangsläufig übereinander
herfallen müssen. DerNationalismus
wirdEuroparuinieren. Asien musssich
hüten, diese „Abstraktion des Egois-
mus“vonden Europäernzuüberneh-
men, auchwenn Japan in seinemÜber-
legenheitsrauschgerade dabei ist, eben-
dies zu tun.
Amerika allerdings istnochunver-
braucht und nicht infiziertund hat den
moralischen BankrottEuropasvermie-
den; es ist„dazu bestimmt, diewestli-
cheZivilisationvordem Ostenzurecht-
fertigen“.PräsidentWoodrowWilson
hättedem zustimmenkönnen,wäre al-
lerdings mit der pazifistischen Fluchtli-
nie vonTagores Überlegungen nicht
einverstandengewesen. TagoresKom-
plimenteandie VereinigtenStaaten en-
den dort,wo er denWahn desweißen
Amerikas anprangert, seine „Überle-
genheit anderenRassen gegenüber si-
cherzus tellen“.
Eine lehrbuchreifeund durchsyste-
matisierte „Nationalismustheorie“ wird
man vonRabindranathTagorenicht er-
warten können. Derleigabesdamals
nochnicht .Auchbedient erkeine allzu
offensichtlichen Erwartungen. Er mu-
tetseinem amerikanischen und japani-
schen Publikumkeine breitflächigeDe-
montagedes britischenKolonialismus
in Indien zu; andereindischeAutoren
tate ndies gleichzeitig mit erheblichem
Erfolg. Wenn er die spirituellenRes-
sourcen des Ostens dem Materialismus
des Westens gegenüberstellt, polt er die
Hierarchie der Zivilisationen nicht ein-
fach um. Voneiner generellenÜberle-

genheit des Ostens is tnicht dieRede,
auchwenn Tagoredie sozial-religiöse
Ordnung Indiens dem machtstaatli-
chen Primat desPolitischenvorzieht,
den er alsKerndes westlichen Zivilisati-
onsmodells ausmacht.Die Kultur des
Westens, dieTagorevorzüglichkennt,
wirdnicht pauschal verworfen. „Ich
spreche nur dann bittervonder westli-
chen Zivilisation, wenn mir bewusst
wird, dasssie das in siegesetzt eVertrau-
en verrät und ihren eigenen Zwecksa-
botiert.“
Ein antikolonialerNationalismus be-
gann sichinIndien und anderenTeilen
Asiens im zweiten Jahrzehnt des zwan-
zigsten Jahrhundertsgerade erst heraus-
zubilden.Tagorebringt keineswegs ei-
nen defensiven und legitimenNationa-
lismus der unterdrücktenKolonialvöl-
kergegen den offensiven und illegiti-
men Nationalismus der imperialen
MächteinStellung. Später hat er bei al-
ler AnerkennungvonGandhis politi-
scherFührung im indischenUnabhän-
gigkeitskampf dem Mahatma intakti-
schen Fragen häufig widersprochen
und dessen antimodernistische An-
wandlungen kritisiert. ZumBeispiel
sah Tagoredie Industrialisierung In-
diens mit mehrZuversicht als Gandhi.
FürindischeNationalistenist er bis heu-
te ein unsichererKantonistgeblieben.
Schon Ende 1916 schmiedetenindische
RevolutionäreinKalifornien ein Mord-
komplott gegenihn. HeutigeHindu-Na-
tionalistenkönnen sichauf diesengroß-
herzigenVerfechter desReligionsfrie-
dens nicht berufen.
Die spätereEntwicklung Japansvom
Vorkämpfer asiatischer Selbstbefreiung

zur repressiven Imperialmacht hatTa-
goreals einer der Erstenvorausgeahnt
und seine japanischen Hörer davorge-
warnt, neben den guten auchdie
schlechten Eigenartendes Westens zu
übernehmen.Konkur renz, so mahnt er,
sei in derStaaten welt stetsverderbli-
cher alsKooperation.Freiheit sei ein
hohes Gut, dochnicht jeder,der sic hpo-
litischfreifühle, sei dies auchineinem
moralischen Sinne. Dazu müssten die
„Leidenschaften“, allenvoranMacht-
und Profitgier,gezügeltwerden.
Manches beiTagoreklingt nachBuß-
predigt und daher neuerdings wieder
vertraut.„Jedes Individuum istheute
aufgerufen,sichundseineUmgebung
auf eine neue Äravorzubereiten, inwel-
cher der Menschseine Seele in dergeis-
tigen Einheit aller Menschenfinden
wird.“ Das lässt sichmehr als ein Jahr-
hundertspäter leicht in die Spracheglo-
balerVerantwortungsethik übersetzen.
An anderenStellen zeigt sichder Idea-
listals kühler Analytiker.Nationen, wie
heuteüblich, als „imagined communi-
ties“ zuverstehen istnicht bedeutend
tiefschürfender alsTagores Einsicht in
der Mittedes Er sten Weltkriegs, dass
sie Konformität produzierende Men-
schenmanufakturen sind.Tagoresieht
die psychologischen Hinter-und Ab-
gründe der Idee derNation. „Unter ih-
rembedeutenden Einflusskann das
ganze Volk einem systematischen Pro-
gramm des aggressivsten Egoismusfol-
gen, ohne sichimmindestender morali-
schenPerversion diesesVorgangs be-
wusstzusein.“
Die ZukunftsollteTagores Sorgen
bestätigen. Am 7. Mai 1941,seinem
achtzigsten Geburtstag, zog derWeise
Bilanz. Erwandte sichabvon Europa
und den Briten (nicht abervonseinen
englischen Freunden), sah den Tri-
umph des „Dämons der Barbarei“ und
erwartetedennocheine Erneuerung
der Humanität jenseits des Machtden-
kens, vielleicht aus dem Ostenkom-
mend.DreiMonatespäter istergestor-
ben. JÜRGEN OSTERHAMMEL

MartinaWeber:
„Häuser,komplett aus
Licht“. Gedichte.
Poetenladen,Leipzig 2019.
81 S., br., 17,80€.

AnnaMachin: „Papa
werden“. Die Entstehung
des modernenVaters.
Ausdem Englischenvon
Ursel Schäfer undEnrico
Heinemann.
AntjeKunstmannVerlag,
München 2020.
270 S.,geb., 25,– €.

RabindranathTagore:
„Nationalismus“.
Ausdem Englischen
vonJoachimKalka.
Mit einemVorwortvon
Pankaj Mishra.
BerenbergVerlag,
Berlin 2019.
120 S.,geb., 22,– €.

Große Schritte, kleine Hüpfer: Vaterund Sohn üben dengemeinsamen Spaziergang. Foto Plainpicture

Ein neues Übel


aus dem Westen


Sichtung nachhundertJahren: Ein Band mit


RabindranathTagores Vorträgenüber Nationalismus


NichtnurKomplimentefür die Gastgeber:RabindranathTagoreinNewYorkFoto AKG

Schönheit isteine Fragedes Lichts


Unddichten heißt Assoziationskreise ziehen: MartinaWebersLyrik verliertgeregelt dieKontrolle


Im Kreißsaal wirdmitgezittert


Erzie hen kongolesische


Jägerandersals Anwälte


in Bo ston?AnnaMachin


erzählt diekomplizie rte


Geschichte der


Vaterschaftquerdurch


dieKultu ren.

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