Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

SEITE 12·SAMSTAG, 22.FEBRUAR2020·NR. 45 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Im Nach hinei nbetracht et,sieht „Mes-
sage in aBottle“wie ei nvon Anfangan
überambitioniertesProjektaus –im
Nachhinei nund vomKontinent ausbe-
tracht et.Achtundzwanzig der berühm-
testen Songs derbritischenRock-Ikone
Stinggebenden Soundtrackabfür eine
Bühnenshow,inder ei nsympathisches
EnsemblejungerTalen te die Geschi chte
einer Flüchtlingsfamilie mitTanzer-
zählt .Geschichte istaber fast scho nzu
viel gesagt. Es sind nichtmehrals szeni-
sche Arrangements: Ein Bürgerkrieg
reißtFamilien auseinander, bring tTod,
Gewalt undVerschleppungmit sic hund
führt zu Vertreibun gund Flucht.Viele
Bewohner vonKrisenr egionenversu-
chen unterGefährdung ihres Lebens
über das Meer inSicherheitzugelangen.
Esis teinbe wegendesBild,dasEnsem-
bleaus zwei DutzendTänzern, dieüber
ihrebunten KostümeorangefarbeneRet-
tungswestengestreif thaben,vorden
schwarzweißen Wellenpr ojektionen auf
dem Boden zusammenrücken zu sehen,
als hockten sieverängstigtinzukleinen,
schwankendenBooten. Es greifteinen
auchan, wenn eine derHauptdarstelle-
rinnen vonSchwarzmaskiertenwegge-
tragenwird und wenn in einerspäteren
Szenedargestelltwird,dasssieundande-
re verschlepp te Frauen gefangen gehal-
tenund gebrochen wurden.
Undtrotzdembleibt „Messageina
Bottle “mit seinemvon versöhnender,
friedlicherZusammenkunft gepräg ten
Ende wieein Musical unterhalb dessen,
waseswirkli ch hättesein können. Dass
es so harmlos kommerziellgeraten wür-
de,vielleicht hätteman e sbefür chten
müssen.Dochfür da serfolgreiche „Sad-
ler’s WellsTheatre“,Londons Theater
für zeitgenössischen Tanz, sieht„Mes-
sageinaBottle“nacheinemdurchausge-
lungenen Projekt aus.Vierzehn „P re-
view“- AbendelangwarendiePublikums-
reaktionengenausobegei stert wie bei
der P remiere und„Pres sNight “jetzt.
Acht Wochen wi rd das StückinLon-
dongespiel twerde nund anschli eßend
in Englandund internationaltouren.
Choreographin Kate Prince hatErfah-
rung mi tgroßen Bühnenspektakeln und
zähltzudenvomSadler ’sWells regelmä-
ßigproduzie rtenKünstlern. Stingwarei-
ner der musikalischenHelden ihrerJu-
gend.Ergab schließlich nichtnur seine

Musi kfrei, sondernspielteeinig eSongs
selbs tneu ein.
Diejugendlichen,unglaublichgutge-
launten und akrobatischen Tänzerkom-
men alle nichtaus der RoyalBallet
Schooloderanderentraditionsreichen
Instituten der Hochkultur.Sie warenJu-
gendfußballer,CheerleaderoderBreak-
dance r, tanzen fürPopstars und Bands
undtretenbei Tanzsho ws im Fernsehen
auf. IhreklektizistischerZugang zum
Tanz is tzuR echt geprägt vondem Stolz,
esalleingeschaf ftzuhaben.Für„ZooNa-
tion“ istDiversitätgelebter ,getanzter
Alltag, undwenneseinen Star unter
Gleichengibt, danndie kleinwüchsige
AnnieEdwards,derenMusikalität,Ener-
gie un dSchönhei theraus strahlen.
Viellei chthätteman wi ssen können,
dass es zu illustrativ istund zugleich
nicht richtig passt,wenn Sting in „Mes-
sageinaBottle“ vondem traurigenVer-
lassenensingt, derauf seiner symboli-
schen Inseleine Flaschenpostver-
schickt,währen desimStückumgröße-
resUnglüc kgehtals nu rEinsamkeit.
Aber vonirgendwoherwirdsichder
Tanzneuerfinden–waru mnichtmitsol-
chenProjekten?Ensembleswie„ZooNa-
tion“ mit seinerwilde nMischung aus
Kopfdrehungen,einarmigenHands tän-
den,Salti und anderenUnternehmun-
genmüssten nur durchdringenzueige-
nen Themen, eigenen Erzählungen.
Scho nhätte sichder Tanz ne uerfunden.

M


arcelProustnannteihn„die-
ses geniale Musikinstru-
ment“. DerKomponistRey-
naldo Hahn, heutesogut
wie unbekannt, hatteesdem Autorund
Kenner derPariser Salons angetan –ge-
nauso wie derganzen Szene. Dortwar
der 1874 in Caracasgeborene Hahn um
die Wende vomneunzehntenzum zwan-
zigstenJahrhundert ein Star.
Unddort, im SalonvonMadeleine Le-
maire ,hatteProust1894,damals zweiund-
zwanzig, den drei Jahre jüngeren Hahn
kennengelernt.Der Pariser Salon sollte
Prous tund Hahnkünstlerischweiter -und
menschlichzueinanderbringen.Ausder
Begegnung erwuchs eine leidenschaftli-
cheLiebesbeziehung, die zwei Jahrean-
hielt,dieanschließendeFreundschaftdau-
erte das ganze Leben, bis zu ProustsTod
im Jahr 1922. Hahn lebtebis 1947. Der
bis zum Ende ungeschmälerte Erfolg sei-
ner Kompositionenund seiner Arbeit –
ab1945warerauchnochDirektorderPa-
riser Oper–bewahrtenHahn und seine
Musik jedochnicht vordem baldigenVer-
gessen.Andersalssei nFreundinderLite-
ratur hatteesHahn in der Musik nicht auf
den Olympgebracht.Was nicht heißt,
dassHahn und seineWerkezuRecht ver-
gessenseien.Esbrauchtevielleichtnuret-
wasAbstand,umdenWertseinerKompo-
sitionen wieder zu entdecken. Und–ein-
mal mehr–eine kunstsinnigeMäzenin.
DieseheißtNicoleBruundis tdieGrün-
derin vonPalazzettoBruZane, jenerStif-
tung mit Sitz imPalazzettoZane inVene-
dig, die sich–seit nunmehr zehn Jahren –
der Wiederbelebung und,wo notwendig,
Wiederentdeckung derfranzösischenMu-
sikder Romantik widmet.Wenn man so
will, istPalazzettoBruZane eine Artmo-
derner Salon, mit wissenschaftlicher
Grundlageund ef fizienter Organisation.
Das Palazzetto-Team inVenedig undPa-
rissucht nachwenig oder nicht mehr be-
kannten Stücken bekannter und, erst

recht,unbekannter Komponisten; es
stellt Editionen her und sorgt für deren
Druc kund Aufführung.
Reynaldo Hahn und sein Œuvre–
sechs Opernund ebenso viele Operetten,
Instrumentalmusik und Dutzende von
Liedern–lagen schon immer imFokus
der Arbeit imPalazzetto. 2014 erschien,
nachvorangegangenenKonzerten, eine
CD mit Klaviermusik,2015 eine mit Mu-

sikfür BläserundOr chester .Inder laufen-
den Saison gibt es einen Hahn-Schwer-
punkt im Programm, zusammen mit der
Veröffentlichung aller seinerLieder auf
vier CDs. Am 14. Märzwirdinder Halle
aux Grains inToulouse Hahnskomische
Oper „La Carmélite“konzertant zu erle-
ben sein. Sokommt wieder ans Licht,wo-
mit Reynaldo Hahn zu seinerZeit Besu-
cherinnen und Besucher in den Bann

schlug, verzauberte und ihnen–siehe
Prous t–WortederVerzückung entlockte.
Hahns Salonmusikwarenseine Lieder.
Ganz ein Chansonnierder Belle Époque,
sang er sie selbstund begleitetesicham
Klavier,führte so dievonden französi-
schen Komponistendes neunzehnten
JahrhundertsstetshochgehalteneForm
der mélodie weiter .Das französische
Kunstlied schlägt nur scheinbar einen

leichterenTonanals sein deutscherVer-
wandter .Existentielle Betrachtungen,
etwa in denVerlaine-Vertonungenvon
Gabriel Fauré, sind ihm nicht fremd.
Dochwerde nCharme,Verführung,Fines-
se nie geschmäht. Hahn, Schüler von
Jules Massenet, erwies sichals Meister
auf der Klaviatur hochverfeinerterGe-
fühlsdarstellung.Undals Genie oben-
drein: Dreizehn Jahrewar er alt, als er

einemélodieüber Victor HugosGedicht
„Si mesvers avaient des ailes“ schrieb
unddamiteinenHitderBelleÉpoquelan-
dete.
DassHahnsMusikauchheuteihreWir-
kungtunkann, da vonistdasTeamdes Pa-
lazzettoBru Zane, allenvorandessen
künstlerischer Leiter Alexandre Dratwi-
cki, überzeugt. HahnsMusik wird anver-
schiedenen Aufführungsorten präsen-
tiert, nicht zuletzt in München. Dortun-
terhält derPalazzetto seit seiner Grün-
dung eineKooperation mit dem Münch-
ner Rundfunkorchester, die konzertante
Wieder-und Er staufführungen sowenig
bekannter Opernwie „Dante“vonBenja-
min Godardoder „LeTribut deZamora“
vonCharles Gounod hervorbringt.
KürzlichwarReynaldoHahn alsOpern-
komponistimMünchner Prinzregenten-
theater zu erleben mit der Idylle „L’île du
rêve“. Die dreiaktigeKurzoper,Dauer ge-
rade einmal eineStunde, istein weiterer
Ausweis des Genies, des Mozartischen in
Hahn.Er schrieb sieschon alsStudentbei
Massenetund brachtesie alsVierund-
zwanzigjähriger,1898, an der OpéraCo-
mique heraus. Esgeht darin, wie bei Gia-
como Puccinis „Madama Butterfly“, um
Kolonialherren, diesmal aufTahiti, die
sichfür die zartenTriebe der einheimi-
schen Bevölkerung interessieren. Im Ge-
gensatz zu „Butterfly“ geht die Sache auf
HahnsTrauminsel gut aus; derfesche Of-
fizier kommt nicht zumZug, das junge
Mädchen namens Mahénu bleibt unbe-
rührt.
Geschickt hielt der jungeHahn die Mu-
sik in Balance zwischen demAufwallen
der Gefühle und demflirrenden Kolorit
derSüdsee.Die Partituristdichtund
transparent zugleich, die Emotion prä-
sent, ohnevordergründig zu sein.Kurz:
eine Sache mit Geschmack, leichter im
Tonals Massenetund gerade deshalb
auchverbindlicher.Denn Hahn, amWe-
senderMélodiesgeschult,arbeitet genau-
er und näher amKern seiner Protagonis-
ten. Dafür hattedas Palazzetto-Team mit
Hervé Niquet, einemkonsequentenVer-
treter der historischinformiertenAuffüh-
rungspraxis, einen Dirigenten mitgenau-
en Vorstellungen davonengagiert, mit
welcherDosisdieSolistenunddieOrches-
termusiker ihreBeiträg ezuliefer nhaben.
Einen, dem dieKontur der Klängege-
nauso viel bedeutet wie ihr Duft–wo-
durch Hahns Musik für das paradiesische
Südsee-Terrain eine ganz spezielle Mi-
schungvonBodenständigkeit und Ent-
rücktsein entfaltete, um für eineStunde
ganz ohneKitschden Reiz desEntfernten
und Exotischen zuverbreiten.Tiefgang
mag man daranvermissen.Aber bewun-
derndarfman, wie mühelos Hahn, der
LieblingderSalons,dieKunstdesKompo-
nierens mit derKunstdes Unterhaltens
zu verbinden wusste.

HoheKörperenergie FotoHelen Maybanks

MeisterhochverfeinerterGefühlsdarstellung: Der französischeKomponistReynaldo Hahn (1874 bis 1947) bei der Arbeit, aufgenommen 1910 FotoUllstein

Der Hitschreiber der Belle Époque


Bewegt und bewegend


Flaschenpost: Kate Prince lässt zu MusikvonSting


tanzen/VonWiebke Hüster,London


         
   
 
 
  
 




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ProustsFreund,


MassenetsSchüler:


DerPalazz etto BruZane


stelltden zu Unrecht


vergesse nen


Komponisten Reynaldo


Hahn vor.


VonLaszlo Molnar,


Venedig

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